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Zweifel an der Ernsthaftigkeit

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 189-195)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

5. Abweichungen und die Funktionen der Bewältigungsreaktionen

5.1 Sprechplanungsänderungen

5.2.3 korrigierende Nachfragen (kNF?)

5.2.3.2 Zweifel an der Ernsthaftigkeit

(asyl-13, 2. 6 sg 1 - 8 sg [...])

Obwohl ML sofort mit starker turn-Überschneidung zugibt, eine unverständliche Fachformulie-rung verwendet zu haben, und mit der erklärenden repair beginnt, tritt SG gleich noch mit einer iK! nach („ja das meine ich auch“). Die anschließenden SUs von ML sind möglicherweise auf dieses verbale ‘Foulspiel’ zurückzuführen. Unverständlich ist, warum SG die repair durch freundliches Lachen vorerst anzunehmen scheint, dann jedoch einen weiteren, auf der Aufnahme leider unverständlichen Einwand erhebt. Die von ML angebotene repair ist erstaunlich ausführ-lich. Sehr bezeichnend ist, dass er selbst Schwierigkeiten mit einer genauen Definition hat („oder so ähnlich“). ML beendet die Sequenz sehr professionell: An das Ende seiner repair fügt er zu-nächst die entschuldigende Bestätigung „also [es] ist Juristendeutsch auf jeden Fall“ an, leitet dann aber durch das closing signal „so“ wieder in seine ursprüngliche Rede zurück. Systematisch ausgedrückt sieht diese Sequenz so aus:

sg: kNF?1,1 / SU2 / SK2 / kNF?1,2 - ml: repair1,1 - sg: iK! (innerhalb repair1,1) -

ml: SU3 / SK3 / repair1,2 - sg: Annahme (innerhalb repair1,2) - sg: unverständlicher Einwand - ml: SU4 / repair1,3 / SU5 / SK4 / repair1,4 / SU6 / repair1,5 / closing signal

5.2.3.2 Zweifel an der Ernsthaftigkeit

Zweifel an der Ernsthaftigkeit einer Äußerung können unterschiedlich artikuliert werden und ganz unterschiedliche Ziele haben. In Beispiel (129) etwa wird weniger die Ernsthaftigkeit der Äußerung von W in Frage gestellt als vielmehr seine Zurechnungsfähigkeit angezweifelt:

(129) s: ä: tschUldigung' + ich hab' + hab ich hier mein' + ne:'

g: ++ najA,

In der Tat wäre es mehr als seltsam, wenn ein Student seine Hausschuhe in der Universität ver-gessen würde. Dies aber traut G dem häufig etwas desorientiert wirkenden Psychologiestudenten W durchaus zu. Deshalb auch hier prosodisch kein Frage-Marker durch Stimmhebung, sondern das einfache syntaktische und intonatorische ‘Hinstellen’ des corpus delicti in den kommunikati-ven Raum. Sowohl aus der Reaktion der anderen Gesprächsteilnehmer während seiner kNF? und nach seiner repair-Annahme als auch aus der abwehrenden Richtigstellung von W wird deutlich, dass G sein Bild von W auf die ankommenden akustischen Signale projiziert hat. In (130) lässt sich ein ganz ähnlicher Vorgang beobachten:

Keine Verkäuferin würde gegenüber einer Kundin jemals von einer Ware behaupten, sie sei schlecht. Einzig denkbar wäre etwa die Kombination „X nicht so gut, Y besser“. Dennoch rea-giert F mit sehr starker Betonung und unterstützender Mimik heftig auf dieses vermeintliche Prä-dikat. Grund ist höchstwahrscheinlich die tiefsitzende Angst, von Händlern betrogen zu werden.

Selbst wenn man annimmt, dass die Kundin die Verkäuferin akustisch nicht verstanden hat, spricht neben der logischen Komponente auch noch der freundliche Ton der Verkäuferin gegen die Annahme des Prädikates ‘schlecht’. Genau wie in (129) wird trotz des offensichtlichen Irr-tums vor der Klärung des Missverständnisses zunächst etwas verlegen repair geleistet.

In (131) liegt kein Missverständnis vor. Wie in (129) wird die Person über die Sache angegriffen:

(131) k: entschUldigung'' hIErvon hättich gern ne fArbkopie, k spricht im sucht Augenkontakt wedelt mit einem Gruppenfahrschein Kopierladen a: ++ ja'

einen Ange- orientiert sich stellten an ---

k: + jA-ha, + ne fArbkopie, + hahA, ...

stutzt lacht

* nimmt den a: +++ ne fArbkopie,

Fahrschein in * leicht ungläubig **

die Hand guckt skeptisch / abfällig

** wendet sich

zum Kopierer --- (farbcopy 2 a 1-2)

Normalerweise legen Menschen Fahrkarten höchstens auf ein Kopiergerät um das Duplikat in ei-nen Ordner zu heften. Das kostet zehn Pfennig. Eine Farbkopie in derselben Größe kostet das Fünfundvierzigfache. Die Skepsis des Angestellten ist also angebracht. Andererseits kann davon ausgegangen werden, dass eine Person, die ausdrücklich nach einer Farbkopie verlangt, auch eine Farbkopie möchte. Hier wäre eine NF? wohl die beste Lösung gewesen um den Kunden vor fi-nanziellem Schaden und den Angestellten vor Vorwürfen zu schützen. Der Angestellte jedoch verletzt die Regeln der Höflichkeit durch Geringschätzung in Blick und Stimme. Die Reaktions-planung findet deutlich hörbar in der kurzen Pause vor der lachenden Bestätigung statt. Der Kun-de K verzichtet dann auf eine die Imageverletzung abwehrenKun-de Antwort und gibt repair.157

In (132) ist der korrektive Charakter der Frage von S zwar unstrittig, doch bin ich mir des Zieles nicht sicher. Möglichkeit 1: Die Frage richtet sich mit der Unterstellung der Annahme unmögli-cher Voraussetzungen gegen U, Möglichkeit 2: Sie richtet sich gegen die leicht naive Ungläubig-keit des Verlobten („nee jetzt ehrlich, nee“):

(132) u: ... is-sa so-n besOffener rUdara gegn + die drAhtbrücke gefAHrn, scherzhaft verächtlich

at: was Is denn' e: O=

---

157 Er will sich nicht streiten. Dies ist bekannt, weil Kunde Autor. Dies war die einzige Situation, in der ich meinen Gesprächspartner nach dem Gespräch unter Hinweis auf mein Projekt auf sein Verhalten angesprochen habe. Er bestätigte mir, mich für ein wenig dumm gehalten zu haben.

u: besOffener rUdera gegn die drAHtbrücke at: M, das sind die hItzeunfälle, wArte ma a1: ++ wAs'

---

s: wie macht man dAs denn’ +++

u: gefAHn, Ach:, + h-h-h-h-h-h-h-h-h-h=

lachend

a2: m-m-m-m-m-m-m-m-m-m-m-m=

lacht at: Elena, [...]

a1: + nE: jetz EHrlich' nE:, skeptisch

--- s: bIßchn hOch wa'

u: Ehrlich’ hIhI= ...

Parodie lacht

--- (ks-3, S2, 17 s 1-8)

5.2.3.3 Wahrheitszweifel

Sprachlich deutlicher verbal und/oder intonatorisch markiert, folgt die kNF? funktional auf unbe-friedigend beantwortete VF?s / NF?s und resultiert häufig aus mangelnder Disposition oder man-gelndem Willen zur weniger markierter Form – wie etwa in (133):

(133) m1: ... + wolln wIr beide das machn" oder wer war noch dabei=

m2: m'm, EInglich ---

> >

m1: nE:, dU= + A[ch] ja, + klAr= ++ am:= ...

m2: nIch' weil/

m3: Ich war das,

--- (uw-7, 3. 19 m1 3)

Die kNF? folgt auf NF?158 und eK!. Die kNF? ist direkte Konsequenz aus M3‘s unbefriedigender repair („Ich war das“). Die Sequenz ist ein anschaulicher Beleg für die Tatsache, dass zur Ab-weichungsmarkierung allein die Wirklichkeitswahrnehmung des Rezipienten von Bedeutung ist:

m1: NF?2 - m3: repair1 - m1: eK! / kNF? / self-repair2

Nicht immer werden korrigierende Nachfragen so selbstbewusst geäußert wie in (133). Wie be-reits bei der Untersuchung der Nachfragen beobachtet werden konnte, ordnen die Rezipienten ih-rer Frage gelegentlich einen Subjektivitäts-Marker bei159 – so auch AT in Beispiel (134)160:

158 Vgl. 5.2.2.1, Vermittlungsproblem, Beispiel (99).

159 Vgl. auch 5.2.2.7, Wahrheitszweifel, Beispiel (120).

160 Wiedergabe hier nur mit dem ‘Pellworm’-Gesprächsstrang.

(134) a2: ... pellworm, is das AUch schon ne Insel ohne verkEHr' Audo'

Aus der Diskussion lässt sich auf die geringen geographischen Kenntnisse161 einiger Gesprächs-teilnehmer schließen – insbesondere die von AT. Da niemand ihre kNF?1,1 („jA:’“) beantwortet, formuliert sie mit kNF?1,2 ihre Bedenken aus. Weil U sich jedoch über die Lage der Insel sicher ist, wird der Rückführungsprozess auf die ungestörte Gesprächsebene etwas aufwendiger:

161 Die Ostfriesischen Inseln von Westen sind: Borkum, Juist, Norderney, Baltrum, Langeoog, Spiekeroog, Wange-rooge; die Nordfriesischen Inseln von Süd nach Nord sind: Nordstrand, Pellworm, Amrum, Föhr, Sylt, Rømø.

Für den Rest der Sequenz s. Anh. 1, ks-5.

at: Abwehr2 - u: Beharren1 / SU5 / repair5,3 - at: kNF?1,1 / 1,2 - u: Beharren2,1 / SU6 / Beharren2,2 - at: Annahme2 / Abwehr3 - u: Abwehr4 / repair6 - an: repair7,1 / SU7 - a2: repair7,2 - u: repair7,3 - an: Zustimmung1 - at: Annahme3 - u: Zustimmung2

Zweifel an der Wahrheit einer Aussage können auch durch Sarkasmus transportiert werden – der allerdings nicht immer erkannt wird, wie die Reaktionen auf die kNF? in Beispiel (135) zeigen:

(135) u: + jaja=

st: ach hAst dich mit dem at: ... + die hÜHner AUch' +++ + schAde,

---

u: ++ M-M= [...]

mit vollem Mund mit vollem Mund verneinend

st: ma untahAltn oda wa[s]= oder [wo] weißt das her= + m-M=

at: Imma lUstig

---

at: hihI= + uhUlli hat heute mOrgn gesagt sA* + sAßn wa auf da terrAsse da mEInt er wEIß[t]-e' + hier brauchst-e irgndwie/ du brauchst überhAUpt kEIn: zu fragn, du mUßt nur ma gutn tAg sagn und du erfährst Alles über die gAnze strAße, ...

--- (ks-5, S14, 2. 153 st 1 - 154 st 7)

ST stellt sich als repraesentandum des Pronomens ‘dem’ den Hahn vor, U und AT gehen jedoch entweder davon aus, dass ST den Besitzer des Hahn meint oder verzichten darauf, sich gegen die provokante Frage zur Wehr zu setzen. Den indirekten Vorwurf in ST’s kNF?, dass U eine Infor-mationsquelle als Beleg für seine Behauptung fehle, spricht allerdings AT indirekt durch die Er-klärung an und entkräftet ihn: Das nachbarschaftliche Mitteilungsbedürfnis sei groß genug sei, um auch über Dritte informiert zu sein.

Der Wahrheitszweifel in Beispiel (135) wird während eines Essens unter Freunden geäußert.

Starke Imageverletzungen sind von keinem der Teilnehmer gewollt. In der Podiumsdiskussion hingegen, aus der die Sequenz in Beispiel (136) stammt, ist Rücksichtnahme weniger nötig und wird auch nicht unbedingt praktiziert, wie die kNF? von ÄM zeigt:

(136) ws: ... daß heißt zw[ei]/ wwnn + vOrsitznder plUs zwEI berUfsrichter’

--- ws: plUs zwei EHrnamtliche richter, ++

äm: d[a]nn hAtter das ja nich ---

äm: allEIne gemacht, da [müssn die Andern ja Auch noch irgenwie/]

ws: [doch] das ---

ws: is wohl rIchtig' + nur + e:= ++ da sIEgt manchmal so die nOrmative holt Luft

---

a1: NF?3 - s: Abwehr1 - u: iK!1 / repair5,1 - at: repair6 - a2: repair7 - u: repair5,2 - a2: VF?2 -

ws: krAft des fAktischen, n vOrsitzender vOrsitzender rIchter dominIErt natürlich Oftmals auch seine kAmmer= + ä und ä: berUfsrichter sind in gewIsser wEIse' + ä auch vom vOrsitzendn Abhängich= weil se näm- lich dienstlich bewErtet wErdn= und so wEIter und so wEIter, ++

[e]s is sIcher n komplExer= + ä vOrgang' nur es is AUffällig' daß gerAde in-in EIner kAmmer + ä sAchn gemAcht wordn sind= die ansOn- sten in Andern kammern + nIch vOrgekommen sind, + ...

--- (asyl-6, 11 äm 1 - 13 äm 2)

Die kNF? wird im Anschluss an eine NF? gestellt162, deren repair für ÄM unbefriedigend war.

Auch die repair der kNF? lehnt er ab:

äm: NF?1,1 / SU1 / SK1 / NF?1,2 - ws: repair1,1 / SU2 / SK2 / repair1,2 / SU3 / SK3 / repair1,3 - äm: kNF? - ws: repair2 - äm: iK!1,1 - ws: Abwehr1 - äm: iK!1,2 - ws: Abwehr2,1 / SU4 / Abwehr2,2 ÄM unterstellt WS recht offen, in seinen Ausführungen die Wahrheit über die Entscheidungs-prozesse bei bestimmten Gerichtsverhandlungen verfälscht zu haben. Bemerkenswert ist der aus der Struktur von WS’s repair ablesbare ausgeprägte Wille zur Kooperation. Auf die Konzession, dass ‘das wohl richtig’ sei, bietet WS erstens eine ausführliche Erklärung dazu an, wie auch in Kammergerichten Entscheidungen fast autokratisch gefällt werden können, und zweitens unter-mauert er seine Behauptung durch das Argument der Urteile dieser einen Kammer, die in ihrem Ergebnis auffällig von denen anderer Kammern abweichen.

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 189-195)