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Die Vorgehensweise

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 31-49)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

1.3 Die Vorgehensweise

Wie bereits angemerkt, liegt das Hauptaugenmerk auf den Reaktionen auf Abweichungen: Die Art der Abweichung spielt zwar eine entscheidende Rolle, doch ist gerade die Art der Reaktion von größerem Interesse, denn sie spiegelt auch die jeweilige Einschätzung des Hörers über die Art der Abweichung wider. Die Arbeit soll zeigen, dass auf bestimmte Abweichungen bestimmte Reaktionen regelhaft folgen (Konstanz) und je nach Abweichungstyp die Variationsbreite unter-schiedlich groß sein kann (Variation).

Ich gehe von vier Annahmen aus, die die Untersuchungen leiten sollen:

Annahme #1:

Jede Sprache ist ein System von Regeln. Folglich ist auch das Sprechen einer Sprache durch Regeln bestimmt. Einige dieser Regeln können sekundär als soziale Normen bestimmt wer-den.

Diese Feststellung ist unerlässlich: Ihre Aufstellung ist die Voraussetzung für die Betrachtung von Abweichungen von den Sprachregeln überhaupt. Ohne eine Regelhaftigkeit kann es keine Abweichungen geben. Da aber mittlerweile hinlänglich bekannt ist, dass Sprachen regelgeleitet arbeiten – wenn auch über das ‘Wie’ teilweise große Uneinigkeit bzw. Unkenntnis herrscht –, ist es nur folgerichtig, auch über die Abweichungen nachzudenken.

60 Saussure [1972], 128. Er denkt dabei zwar an das Studium der langue, ich finde jedoch, dass der Gedanke im Zu-sammenhang mit Sprachwandel- und Stilforschung auch auf die Untersuchung der parole zutrifft. Saussure sagt selbst: „tout ce qui est diachronique dans la langue ne l’est que par la parole. C’est dans la parole que se trouve la germe de tous les changements.“ (138).

Annahme #2:

Jedes lebendige System lässt Abweichungen von Regeln oder Normen zu. Abweichungen beim Sprechen sind die Konsequenz ihrer Regelhaftigkeit.61

Dies mag zuerst etwas einfach wirken, doch ebenso wie Annahme #1 ist Annahme #2 – gerade wegen ihrer scheinbaren Einfachheit – von grundlegender Bedeutung für die Betrachtung der Abweichungsbewältigung. Nicht jedes beliebige System62 lässt Abweichungen zu. In Konse-quenz müsste ohne die Annahme von Annahme #3 davon ausgegangen werden, dass sprachliche Abweichungen systemfremd und somit nicht verarbeitbar sind. Die Erfahrung lehrt jedoch – und diese Arbeit soll es ebenfalls zeigen – dass letzteres nicht der Fall ist.

Annahme #3:

Die Reaktionen auf Regelabweichungen sind in der Sprache einer Regelhaftigkeit unterwor-fen.

Hier wird es spannend: Genau diese Annahme ist noch zu beweisen. Gibt es wirklich Regeln für Abweichungen, und wenn ja, sind sie überhaupt zu erkennen? Um die Beantwortung dieser Frage zu erleichtern, führe ich die letzte Annahme ein:

Annahme #4:

Hinsichtlich der Reaktionen auf Regel-Abweichungen besteht eine Toleranz-Gradation.63 Annahme #4 will nichts anderes sagen als dass auf Abweichungen unterschiedlich reagiert wird:

Auf manche Abweichungen wird überhaupt nicht reagiert, auf andere leicht, auf wieder andere stark. Die Art der Reaktion ist abhängig von der Toleranz-Schwelle des Rezipienten. Die jewei-lige Schwelle ihrerseits ist aber situations-, kontext- und persönlichkeitsgebunden. (s. 3.2.4) Um diese Annahmen zu überprüfen, gehe ich so vor:

Kapitel 2 behandelt die Erwartungen, die Menschen an sprachliche Kommunikation haben. Zu diesem Zweck diskutiere ich in Abschnitt 2.1 den Normbegriff, bevor ich mich in Abschnitt 2.2 noch einmal ausführlicher mit dem Phänomen der ‚Abweichung‘ befasse.

In Kapitel 3 stelle ich das Reaktionsflussmodell vor, anhand dessen das Reaktionsverhalten auf Abweichungen konzeptualisiert wird. Der Modellbildungsprozess verlangte einführende Überle-gungen zum (akustischen) Verstehen und (kognitiven) Verständnis sowie über mögliche Störun-gen in Abhängigkeit von der Einbettung in den Gesprächsrahmen. Störungsquellen und Störungstypen werden vorgestellt; ein erster Blick auf Störungsbewältigungsstrategien erfolgt über einen Exkurs zur Sprechhandlungstheorie. Die wesentlichen Kommunikationsmodelle

61 Vgl. Keller und Öhlschläger, in Heringer [1974].

62 Aus diesem Grunde auch das Attribut ‘lebendig’: Ich möchte Sprache nicht im biologischen Sinne als etwas Le-bendiges verstehen, sondern sie auf diese Weise von ‘toten’ Systemen wie Rechner-Programmen abgrenzen, die sich eben genau dadurch auszeichnen, dass sie nicht mehr funktionieren, wenn man ihren Regeln nicht folgt. Für natürliche Sprachen muss man vielmehr annehmen, dass sie nur funktionieren, wenn auch Abweichungen möglich sind. Vgl. Coseriu [1970].

63 vgl. auch Püschel [1985], 14.

einen Exkurs zur Sprechhandlungstheorie. Die wesentlichen Kommunikationsmodelle wurden auf ihre Eignung für die vorliegende Untersuchung geprüft. Dies findet sich in Abschnitt 3.1.

Abschnitt 3.2 enthält die detaillierte Darstellung des von mir entwickelten Modells. Ich gehe da-von aus, dass zwischen der Störung und der reaktiven Handlung die kognitive Verarbeitung der Störung, deren Bewertung und die Reaktionsplanung liegen. Aus dieser Annahme ergibt sich, dass nicht alle potentiellen Abweichungen wahrgenommen und kommunikativ verarbeitet wer-den müssen. Selbst eine Bewertung als ‚abweichend‘ erzwingt keine (wahrnehmbare) Reaktion.

Dem Produzenten der Abweichung stehen als Reaktionsmöglichkeiten neben dem korrekturfrei-en Fortsetzkorrekturfrei-en seiner Rede die Selbstunterbrechung und die Selbstkorrektur zur Verfügung. Hörer reagieren mit unterschiedlichen Arten von Fragen und Einwänden, deren Handlungscharakter von ganz unterschiedlich kritischer Natur ist.

Weil Bewertungen, Markierungen und Planungsvorgänge immer auch mit persönlichen Einstel-lungen, Motiven und Intentionen verbunden sind, werden dem Modell dispositionelle Parameter als handlungsmodifizierende Elemente beigeordnet. Dieser systematische Schritt führt zu der Annahme, dass Reaktionen auf Regel- und Erwartungsabweichungen einer Toleranz-Gradation unterliegen. Diese Annahme berücksichtigt nichts anderes als die Tatsache, dass die situations-, kontext- und persönlichkeitsgebundene Toleranz-Schwelle des Rezipienten die Art der Reaktion mitbestimmt.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit dem Korpus und dem zu seiner Erstellung notwendigen Transkrip-tionsverfahren. In Abschnitt 4.1 diskutiere ich ausgehend von Anforderungen, die ich an die Transkripte meiner Audiodaten stellte, kurz die Methoden von Henne/Rehbock, Brinker/Sager und Ehlich/Rehbein. Danach wird das Transkriptionsverfahren nach der graphisch-organisatorischen Darstellung und der Notationsweise erklärt. Etwas ausführlicher gehe ich auf die Problematik von Gesprächs- und Situationstypologien ein. Abschnitt 4.2 stellt die Teilkorpo-ra ausführlich vor. Die Untersuchung stützt sich auf ein großes Korpus von Tonbandaufnahmen (eine Podiumsdiskussion zur Asylgesetzgebung, Tischgespräche eines Abends unter Freunden, eine Interviewreihe mit Politikern, ein Planungsgespräch einer Umweltschutzgruppe) und eine Reihe ‚mitgehörter‘ Gespräche (14 spontane Alltagsgespräche, 5 Handelsgespräche, 4 einzelne Telefongespräche und ein Subkorpus mit Telefongesprächen unter Freunden, 1 Mediengespräch).

Kapitel 5 enthält die Analyse der in Kap. 4 vorgestellten Korpora vor dem Hintergrund des Mo-dells in Kap. 3. Abschnitt 5.1 behandelt Sprechplanungsänderungen, 5.2 Fragen, 5.3 Einwände.

Kapitel 6 schließlich führt die Untersuchungsergebnisse zusammen. In Abschnitt 6.1 können wir abschließende Aussagen zur Regelhaftigkeit bei der Verarbeitung von Abweichungen treffen.

Abschnitt 6.2 beleuchtet sechs Aspekte der Abweichungsverarbeitung im kommunikativen Kon-text, die sich im Laufe der Arbeit als bedeutend und/oder problematisch erwiesen, und zeigt so gleichzeitig interessante Detailforschungsgebiete auf: Wie soll das Ausbleiben von Sprechhand-lungen gedeutet werden? Wie ist mit dem Problem umzugehen, dass fehlende Videodaten die Deutung oft erschweren oder unmöglich machen? Welchen Einfluss nehmen die dispositionellen

Parameter wirklich auf das Gesprächsverhalten? Was lässt sich abschließend zum Verhältnis zwischen Gesprächstypen und Abweichungsverarbeitung sagen? Welche Bedeutung hat die Initi-alhandlung – also die erste reaktive Handlung an tn+2 – für den Verlauf der Bewältigungsse-quenz? Welche Gesprächsverläufe führen zu Eskalation? Die Arbeit schließt in Abschnitt 6.3 mit einer Bemerkung zur Kooperation als kommunikativem Prinzip.

2. ‚Erwartungen‘

Kommunikative Erwartungen gründen auf der Existenz von Konventionen, Regeln und Normen.

Ursache für die bewertende / kritisierende Ansprache fremder und eigener kommunikativer Handlungen können Abweichungen von der Erwartung sein, Konventionen, Regeln und Normen anzuerkennen und kommunikativ umzusetzen. Weil die Norm das verbindlichste dieser Kon-strukte ist, wird im Folgenden zuerst untersucht, was ‚Norm‘ mit Sprache zu tun hat und wie Abweichungen von der Norm zu definieren und verstehen sind.

2.1 Normen

Norm ist eine Varietät, die als Norm festgelegt wird.

Klein [1974b], 16.

Die Definition der Norm genormt! So manche definitorische Mühe wäre überflüssig. Mit dieser

‚Erleichterung‘ ist jedoch nicht zu rechnen. Der Schritt wäre auch wenig sinnvoll. Eine übergrei-fende Norm müsste so breit angelegt sein, dass sie dadurch im Einzelnen wirkungslos wäre. Es kann also keine einheitliche ‘Supernorm’ geben. Die Definition einer Norm hängt immer vom betroffenen Gegenstand und dem Norminteresse ab – in unserem Falle also von Sprache in der Gesellschaft und den möglichen Gründen, für diese Sprache (und das Handeln in dieser Gesell-schaft) Normen festzulegen. Und so stellt sich die Frage: Welche Normdefinition ist im Zusam-menhang mit Abweichungsbewältigung die richtige? Beginnen wir mit der wichtigen Trennung von Gebrauchsnormen und Zielnormen.

Zielnormen enthalten im Gegensatz zu Gebrauchsnormen (bei D. Cherubim Regeln, s.u.) eine

„Sollensforderung“.1 K. Gloy nennt fünf Typen von Zielnormen:

1. Norma: im technischen Sinne als „Maßstab oder Bezeichnung mit vereinheitlichender Funktion“, wobei die Wir-kungsweise von Industrienormen grundsätzlich auch in die Linguistik übertragbar sei.

2. Normb: im methodischen Sinne als „mögliche oder anzuwendende Verfahrensregeln bei materiellen oder ideel-len Operationen.“

3. Normc: im systemtheoretischen Sinne als „Sollwert eines Regelsystems, d.h. derjenige Zustand, in den ein ky-bernetisches System durch Regelmechanismen stets zurückgeführt wird / werden soll.“

4. Normd: ‘sozial’ „im Sinne der Regulierung des Handelns im gesellschaftlichen Leben.“

5. Norme: im statistischen Sinne nach Wahrscheinlichkeitshäufung von Ereignissen oder Verhalten.2

Prinzipiell kann jede dieser Normtypen die Grundlage für die eine oder andere Sprachnorm bil-den. Wir müssen aber nicht nur mindestens diese fünf unterschiedlichen Normtypen

1 Gloy [1975], 21.

2 Gloy [1975], 21-27.

tigen, sondern auch ihre Bezugspunkte und Wirkungsbereiche. Gloy geht deshalb zusätzlich von acht Normdimensionen aus3, die sich etwa so benennen lassen:

a) Bereich / Inhalt, e) Realisierung,

b) Normgeber / Normsubjekte, f) Parameter (Legitimation, Stigma, Funktion, Leistung, Zweck),

c) Geltung, g) System,

d) Wirkungsgrad, h) Alter / Geschichte

Diese beiden Strukturierungen verdeutlichen die Komplexität der gesamten Problematik und er-innern daran, die Multidimensionalität von Normen zu berücksichtigen: Oft führen im Gespräch gerade Normverstöße aus einer der weniger beachteten Dimensionen zu Konflikten.

Was macht nun sprachliche Normen aus? Die wissenschaftliche Diskussion zu dieser Frage war und ist sehr vielfältig und auch kontrovers. Die Anzahl der Definitionen ist fast so zahlreich wie die Anzahl der Beiträge zu diesem Thema.

Blick No 1, B. Sandig zu ‘Norm’ und ‘Konvention’:

Wir kommunizieren miteinander aufgrund der gemeinsamen aktiven oder passiven Kenntnis einer gro-ßen Anzahl von Regeln. Unter einer sprachlichen Regel verstehe ich ein Muster für eine Handlungs-weise oder für einen bestimmten Teil einer HandlungsHandlungs-weise. Ein solches Muster ist den Sprechern ei-ner Sprache durch Konvention bekannt. Aufgrund von Regelkenntnis können Handlungen verstanden werden.4

‚Regel‘ steht also für ‚konventionsgeleitetes Handlungsmuster‘. Der springende Punkt: Normen unterscheiden sich von Konventionen laut Sandig dadurch, dass Konventionen deskriptiv, Nor-men hingegen präskriptiv seien.5

Blick No 2, D. Cherubim zu ‘Regel’ und ‘Norm’:

Der von Sandig angesetzten Dichotomie ordnet Cherubim die Begriffe ‘Regel’ und ‘Norm’ zu, und zwar mit folgender Begründung: „regeln werden aus der beobachtung konkreten sprachver-haltens gewonnen, normen als maßstäbe an dieses sprachverhalten angelegt.“6 Diese Definition erscheint auch mir sinnvoll. Aber sehen wir weiter:

3 Gloy [1975], 35.

4 Sandig [1976], 93.

5 Sandig [1976], 93.

6 Cherubim [1980a], 14. So wären dann Regeln von der Funktion her ‘konstitutiv’, Normen aber ‘selektiv’.

Blick No 3, P. v. Polenz mit einer Einführung von vier Merkmalspaaren:

P. v. Polenz nutzt vier Merkmalspaare, um die Beziehungen der unterschiedlichen, von ihm in der Sprachnormdiskussion verwendeten Begriffe zu verdeutlichen:7

virtuell (abstrakt) realisiert (konkret) objektsprachlich-

funktionell:

metasprachlich- institutionalisiert:

deskriptiv: präskriptiv:

individuell: SPRACHKOMPETENZ SPRACHVERWENDUNG

sozial: SPRACHSYSTEM SPRACHBRAUCH SPRACHNORM SPRACHVERKEHR

Tab. 2.1: Beziehung der Existenzformen von Sprache nach v. Polenz

Die starke Differenzierung hilft Missverständnisse zwar zu vermeiden, doch trägt sie wenig zur Vereinfachung der Diskussion bei. Abgesehen davon bin ich überzeugt, dass jedes Individuum seine eigenen Vorstellungen von ‘richtiger Sprache’ hat, ja dass gerade diese Vorstellungen – und nicht die in der Gesellschaft herrschenden! – häufig zu Normkonflikten führen. Außerdem darf der von Leibniz entlehnte Terminus ‘Sprachbrauch’ m.E. nicht mit ‘Regel’ gleichgesetzt werden – auch nicht unter der Prämisse, dass der Schwerpunkt auf der Handlung und nicht auf der Beobachtung liegt. Schließlich folgt eine Regel erst aus dem ‘Sprachbrauch’.

Blick No 4, Presch und Gloy zur Deskriptivität von Regeln:

Die Betrachtung von Regeln als primär deskriptive Phänomena befürworten auch Presch / Gloy.8 Trotzdem verwenden sie ‘Norm’ im selben Band auch als Synonym für ‘Konvention’.9

Blick No 5, R. Bartsch zur Identität von Regel und Norm:

Kurz und knapp: Eine Entsprechung von ‘Regel’ und ‘Norm’ gibt es nicht.10 Normen sind das soziale Korrelat von Regeln.11

Blick No 6, D. Wunderlich zu Konventionen:

Für D. Wunderlich ist eine Konvention eine „eingespielte soziale Regel“, deren Entstehung der lebenspraktischen Not zur Kooperation und Handlungs-Koordination zu verdanken sei.12 Ihm zu-folge gibt es zwei Ebenen von Konventionalität in der Sprache: Erstens das System grammati-scher Regeln, zweitens die Regeln des symbolischen, speziell verbalsymbolischen Handelns.13 Dieser Ansicht zufolge manifestiert sich Konventionalität also im Vorhandensein von Regeln.

7 v. Polenz [1973], 127.

8 Presch / Gloy [1976b], 9: weil die „moderne Linguistik“ sich ebenfalls als ‘deskriptiv’ verstehe.

9 Presch / Gloy [1976b], 17.

10 Genausowenig wie Regelmäßigkeit, Brauch, Gewohnheit, Konvention, Vorschrift, Anordnung, oder Befehl.

Bartsch [1987], 157.

11 Bartsch [1987], 61-64.

12 Wunderlich [1972b], 11f.

13 Wunderlich [1972b], 13ff. Wobei die zweite Ebene die wichtigere sei, weil sie über „Sprachenlernen und Spra-chenverwenden“ bestimme.

Blick No 7, G. Kolde zu ‚Norm‘:

G. Kolde spricht dem Terminus ‘Norm’ eine implizit anzunehmende Kodifiziertheit ab und un-terscheidet außerdem zwischen „obligaten“ und „fakultativen“ Normen.14 Letztere wären m.E.

mit dem Wort ‘Regel’ auch nicht schlecht benannt.

Bewegen wir uns im Kreise? Mir scheint sinnvoll, vorerst so zu trennen:

I. Konventionen sind erfahrungs- oder konsensgesicherte Übereinstimmungen hinsichtlich des Verhaltens innerhalb eines (sozialen) Systems.

II. Regeln sind von der Mehrheit der Sprachbenutzer konventionell befolgte Sprach-verwendungsmuster.

III. Normen sind Festlegungen für Regeln.15

Die ersten beiden Definitionen reichen für die Zwecke dieser Arbeit aus. Es bleibt der Normbeg-riff. Im Zusammenhang mit der Problematik von Normabweichungen scheint mir gerade die viel-fach getroffene Feststellung bedeutsam, dass Normen immer auch auf Wertungen gründen. So etwa rangiert dieses Kriterium bei Klein im Rahmen der Bestimmung von Faktorengruppen der Normfestlegung ganz vorne. Er nennt:

„Ästhetizität“: Das sind „Wertungen im engeren Sinne“,

„Faktizität“: Das ist die „normative Kraft des Faktischen“,

„Beharrung“: Richtig ist etwas, ‘weil es schon immer so war’, und

„Funktionalität“: Die funktional günstigere Variante setzt sich durch.16

Ausführlicher noch ist Gloy, der insgesamt fünf, z.T. untergliederte, Normkriterien im Sinne von Begründungen annimmt:17

1. Strukturgemäßheit der Sprachvarietäten im Sprachsystem

4. Zweckmäßigkeit im Hinblick auf verständliches Sprechen

2. traditionalistisch-historische Qualität der Sprachvarietäten

5. Belegbarkeit im faktischen Sprachgebrauch

3. Moralische Qualität der Sprachvarietäten 5.1 Auftretenshäufigkeit

3.1 personen- / gruppenbezogene Argumente 5.2 Verwendung bei ‘kompetenten’ Sprechern 3.2 nationalistisch-politische Argumente

Sowohl aus seiner Diskussion dieser Kriterien als auch aus seiner Definition von ‘Sprachnorm’

wird deutlich, dass auch Gloy Wertungen für einen zentralen Bestandteil bestimmter Normie-rungsvorgänge hält:

Unter ‘Sprachnormen’ verstehe ich jene Teilmenge sozialer Normen (im Sinne von ‘Norma-d’), die durch Werturteile, Aufforderung und (geäußerte) normative Erwartung den Umfang der zulässigen

14 Kolde [1975], 52, Anm.1.

15 vgl. Keller [1974], 11f., 17.

16 Klein [1974b], 16f.

17 Gloy [1975], 65-86.

sprachlichen Mittel und - in Abhängigkeit von Faktoren der ‘Situation’ sprachlichen Handelns - eine spezifische Auswahl dieser Mittel bestimmen, vorschreiben oder auch nur empfehlen.18

Sinnvollerweise subsummiert Gloy die Sprachnormen unter die sozialen Normen. Die Definition ist allerdings so weit gefasst, dass auch ‘Regeln’ aufgrund des möglichen Empfehlungscharakters betroffen sein könnten. Hinweise zum Norm-Ursprung bleiben bei Gloy recht vage; generell scheinen sie sowohl aus sozialen, weitestgehend auf Erwartungen beruhenden Prozessen und den Ansprüchen einer ‘herrschenden Klasse’ hervorzugehen. Ein Hinweis findet sich bei Gloy / Presch. Dort heißt es: „Sprachliche Konventionen wären [...] im Normalfall zu begreifen als Se-dimentierungen von Kommunikationsprozessen.“19

Hartung, der zu keiner endgültigen Definition kommt, beschreibt Sprachnormen so:

Zunächst einmal sind Sprachnormen verdichtete kommunikative Erfahrungen, die durch Bewertungen bzw. den Bezug auf Wertsysteme gefestigt werden. Es handelt sich aber nicht um Erfahrungen schlechthin, sondern um herausgehobene, bewertete Erfahrungen darüber, welche Beschaffenheiten von Texten zweckmäßig, empfehlenswert oder unangemessen sind oder dafür gehalten werden.20

In beiden Fällen spüren wir einen Hauch von Naturalismus: Konventionen bzw. Normen ‘setzen sich ab’, sind ‘Verdichtungen’. Normen als Muschelkalkfundament der Sprache? Hier lohnt sich ein Rückgriff auf Hermann Paul:

Wir sind bisher immer darauf aus gewesen die realen Vorgänge des Sprachlebens zu erfassen. Von Anfang an haben wir uns klar gemacht, dass wir dabei mit dem, was die deskriptive Grammatik eine Sprache nennt, mit der Zusammenfassung des Usuellen, überhaupt gar nicht rechnen dürfen als einer Abstraktion, die keine reale Existenz hat. Die Gemeinsprache ist natürlich erst recht eine Abstraktion.

Sie ist nicht ein Komplex von realen Tatsachen, realen Kräften, sondern nichts als eine ideale Norm, die angibt, wie gesprochen werden soll. Sie verhält sich zu der wirklichen Sprechtätigkeit etwa wie ein Gesetzbuch zu der Gesamtheit des Rechtslebens in dem Gebiete, für welches ein Rechtsbuch gilt, oder wie ein Glaubensbekenntnis, ein dogmatisches Lehrbuch zu der Gesamtheit der religiösen Anschauun-gen und EmpfindunAnschauun-gen.21

Obwohl auch Paul von „realem Sprachleben“ spricht, nutzt er mit dem ‚Kodex‘ eine andere Ana-logie. Eine durch Normen gesprägte „Gemeinsprache“ ist für Paul kein Erfahrungs-Sediment, sondern gleicht aufgrund ihrer dem ‘Sprachleben’ entrückten Idealität anderen idealtypischen Darstellungen wie Gesetzesbüchern oder religiösen Dogmen. Die Gemeinsprache ist für ihn so-gar

nichts als eine starre Regel, welche die Sprachbewegung zum Stillstand bringen würde, wenn sie über-all strikte befolgt würde, und nur soweit Veränderungen zulässt, als man sich nicht an sie kehrt.

18 Gloy [1975], 61.

19 Gloy / Presch [1976b], 23.

20 Hartung [1986], 9.

21 Paul [1937], 404.

Bei alledem ist aber doch der Unterschied, dass die Gemeinsprache nicht eigentlich kodifiziert wird.

Es bleibt im allgemeinen der Usus, der die Norm bestimmt. Es kann das aber nicht der Usus der Ge-samtheit sein.22

Für die vorliegende Arbeit sind beide Gesichtspunkte – Regel / Norm als usus und Verhaltensko-dex – wichtig, weil sie tatsächlich zu unterschiedlichen Auffassungen davon führen, wie Sprache benutzt werden kann. In diesem Kontext scheinen mir fünf Anmerkungen Pauls bedeutsam:23

1. Die normierte ‘Gemeinsprache’ verändert sich durch Außeneinflüsse aus dem ‘Sprachleben’, 2. Normen werden durch einen mit „Autorität“ ausgestatteten Kreis festgelegt,

3. Dieser Kreis verfügt nicht über die Macht, seine Normen unausweichbar befolgt zu wissen, 4. Es gibt parallel zueinander bestehende Normen N1 bis Nn für das gleiche Normsubjekt,

5. Die „einzelnen Individuen“ eines Sprachgebietes mit einer einheitlichen Norm legen diese Norm in „mannigfa-chen Abstufungen“ aus.24

Zurück in der sprachwissenschaftlichen Postmoderne finden wir eine korrespondierende Festle-gung von Klein:

Man [kann] jede Varietät als Abweichung von einer anderen verstehen, die dann als Norm gilt oder gesetzt ist: Norm im sprachlichen Verhalten ist eine bestimmte ausgezeichnete Varietät eines gegebe-nen Varietätenraumes, Abweichungen sind alle andern Varietäten dieses Varietätenraumes. Bei dieser Art von Begriffsbestimmung wird besonders deutlich, dass Norm ein relativer Begriff ist. Norm ist ei-ne Varietät, die als Norm festgelegt wird.25

Mit Klein halte ich Normen gerade wegen ihres autoritären Charakterzuges für sehr arbiträr. Da es in diesem Falle aber weniger um Gesellschaftspolitik als um Sprachwirklichkeit geht, sehe ich auch, dass ‘Norm’ nicht ohne eine Normautorität gedacht werden kann. Welcher Beschaffenheit diese Autorität sei, mag dahingestellt bleiben. Fest steht, dass Normen sowohl ‘gesetzt’ als auch

‘in Kraft gesetzt’ werden.26

Besonders wichtig im Rahmen dieser Arbeit scheint mir die Feststellung von Bartsch, dass Normsetzungsakte sowohl „korrekt“ als auch „gültig“ sein können. ‘Korrekt’ sind sie, wenn

a. die Äußerung des Normsatzes verstehbar ist;

b. der den Normsatz Äußernde als Normautorität in dem entsprechenden Bereich gilt (d.h. befugt ist);

c. Normsubjekte bestehen, an die die Äußerung gerichtet ist;

d. der Norminhalt realisierbar ist, d.h. die Norm befolgbar ist;

e. der Norminhalt nicht schon durch geltende Normen impliziert ist;

e. der Norminhalt nicht schon durch geltende Normen impliziert ist;

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 31-49)