• Keine Ergebnisse gefunden

Quantitätsproblem

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 153-160)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

5. Abweichungen und die Funktionen der Bewältigungsreaktionen

5.1 Sprechplanungsänderungen

5.2.1 Verständnisfragen (VF?)

5.2.1.3 Quantitätsproblem

An drei Beispielen zeige ich, auf welche unterschiedliche Weisen die Rezipienten die fehlende Information zu erhalten versuchten. Rollenfragen dominieren in (83)103, (84)104 und (85) wie wir zuerst in (83) sehen:

Weil das Gespräch sich schon vorher mehrmals um die Tante gedreht hatte, die im selben Haus wie AT, U, A1 und S lebt und in deren Garten die Essensrunde gerade sitzt, war ST davon aus-gegangen, dass die Referenz eindeutig sei. AT hingegen fehlt die Angabe, ‘welche’ von mehre-ren Tanten gemeint sei. ST‘s nonverbale, gestische Reparaturmethode führt mit einer Verzöge-rung von etwa einer Sekunde zum Erfolg.

(83) s: ... ich hAb da AUch noch-n:: sAlzstreuer mitgebracht wEIl: + fAlls a2: [na gut]

In (84) fehlen DB die Informationen (Identität (ProMarkt)) und (Position (ProMarkt)). Nach der Rollen-Identität fragt DB durch wörtliche Wiederholung des Prädikates ‘ProMarkt’; nach der Po-sition durch den Fragesatz ‘Wo ist denn105 das?’. Die Erklärung für das Informationsdefizit ergibt sich aus der repair: Die beiden Gesprächspartner gehen von unterschiedlichen Firmennamen ein und desselben Elektro-Geschäftes aus:

(84) ds: ... ja und dann bin ich da gleich in den prOmarkt rein und hab mir-n ---

104 Vgl. Weinrich [1993], 886, 889.

105 Zur Bedeutung dieser Abtönungspartikel s. Burkhardt [1994].

ds: wEIßte da in diesm großn klOtz im kElla,

In Beispiel (85) liegen acht Gesprächsschritte zwischen den Ereignissen tn und tn fin:

(85) m: ... Nur ein Fehler hattest Du.

M und H sprechen über eine von H persisch geschriebene, von M am Tage zuvor erhaltene Ur-laubskarte. Durch die eK! „Nur ein Fehler hattest Du.“ spricht M das Ereignis an. Da sie den Fehler (höflicherweise?) nicht nennt, muss H mit VF?1 danach fragen.106 Da M’s repair2,1 nicht genug Informationswert für H besitzt – M nennt nur die richtige persische Formulierung – setzt H VF?2,1. Das nicht durch Intonation als Frage kenntlich gemachte „Ja.“ wird von M richtig als Aufforderung zur ausführlicheren Erklärung verstanden: Mit dem Zitat des Fehlers setzt sie re-pair2,2. VF?2,2 deute ich ebenfalls als Einwand gegen mangelnde Ausführlichkeit. Die benötigte Information, dass persisch „Bier“ sich /gu/ und nicht /gur/ schreibt, bietet M erst in repair2,3 an.

5.2.1.4 Sachfrage

Im Gegensatz zur Mehrzahl der Fälle stellt H selbst die Sachfrage:

(86) h: ... Mhm. Hast Du Verwandte da?

n: Nein, ich hab keine Verwandte da. Aber die äh vielleicht mein +p+

vielleicht ist bei +p+ Kaspian See. Kaspian See, weißt du?

h: Was is das?

N‘s englische Bezeichnung für ‘Kaspisches Meer’ (Kaspian Sea)107 versteht H und fragt deshalb

„was ist das?“. N, der die deutsche Bezeichnung nicht kennt, versucht mit Zusatzinformationen

106 h: NF? - m: repair1 / eK! - h: VF?1 - m: repair2,1 - h: VF?2,1 - m: repair2,2 - h: VF?2,2 - m: repair2,3 - h: Annahme; s. Anh. 2.1, wiese 9, 2.1.

107 Im Transkript an dieser Stelle „Kaspian See“. Es besteht also die Möglichkeit, dass N diesen Namensbestandteil mit deutscher Betonung ausgesprochen hat, oder dass bei der Verschriftlichung ein Fehler aufgetreten ist.

db: + + ach sO= dA:= ++ ich

nachzubessern, doch erst W‘s NF? führt zum Erfolg. Dieses Herantasten an eine gemeinsame Wahrheit ist ganz besonders typisch für die VF?/NF?-repair-Sequenzen im Korpus ‘wiese’.

5.2.1.5 Rückversicherung

Rückversichernde VF?s können eine relativ lange Zeitdauer haben und durch Rückmelde-Partikeln und Teil-repair stark untergliedert sein – wie z.B. die Frage in Beispiel (87):

(87) ir: ... ++ Aba: wie gesAgt= da/ ja’

jf: [....] stEht [nich ganz verstAndn,] das sie jetz ---

jf: grAde gesagt hAbm, und zwa: ++ das bezIEht sich ja doch auf die si- tuation wo/ + wo: die: [mAr...] als Offensichtlich Unbegründet ---

ir: genAU,

jf: Eingestuft is’ + + und dAnn wo:n: e:m= a[l]so auch sone AUs- ---

ir: genAU, ja= ja= und dAgegn jf: weisungsverfügung breits erhAltn hat, + um [mit]zsAgn=

---

jf: das ver verwAltungsgericht= und das verwAltungsgericht + entsch* aso ---

JF unterbricht IR und beginnt ihre Rückversicherung mit der Feststellung in VF?1,1, dass sie

„nicht ganz verstanden“ habe, was IR „gerade gesagt“ hat, um dann begleitet und weitergeführt von IR’s Rückmeldungen die begonnene VF? zu beenden. Mit repair1,3 schließt IR den Satz von JF fortsetzend an. Der nun folgende erste Teil der zweiten VF? richtet sich auf den in repair1,3 erwähnten Einspruch vor Gericht: JF vergewissert sich, dass hierfür eine Wochen-Frist gilt, und schließt nach den Bestätigungen repair2,1/2,2 die Frage nach der weiteren Rechtshandlung („bitte um-ä Aufschiebung dieser Abschiebung“). Nachdem IR auch diese VF? beantwortet hat, setzt JF ein Annahmesignal („gut“) und ergreift die Gelegenheit, im Besitz des Rederechts zu sein, um

VF?3 zu stellen, die – zweimal durch IR bestätigend begleitet – ab Fläche 24 sehr ausführlich be-antwortet wird („ja, genau das ist“ etc.)108.

jf: VF?1,1 - ir: repair1,1 - jf: VF?1,2 - ir: repair1,2 (innerhalb VF?1,2) - ir: repair1,3 - jf: VF?2,1 - ir: repair2,1 / repair2,2 (innerhalb VF?2,1) - jf: VF?2,2 - ir: repair2,3 / SU1 / SK1 / SU2 / SK2 / repair2,4 - jf: Annahme / VF?3,1 - ir: repair3,1 / SU3 (innerhalb VF?3,1) - jf: VF?3,2 - ir: repair3,2 (innerhalb VF?3,2) - jf: VF?3,3 / SU4 / SK3 - ir: repair4,1 - hh: iK!1 - ir: repair4,2 - ml: eK!1,1 - hh: iK!2 - ml: eK!1,2 - hh: iK!3 - ml: eK!1,3 - hh: iK!4 (innerhalb eK!1,3) - ir: repair5 / closing signal Obgleich viele der von mir untersuchten Gesprächssequenzen ähnlich lang sind, ist diese die ein-zige, in der Verständnisfragen die Ursache dafür sind.109 Die meisten Verständnisfragen lassen sich wesentlich leichter lösen – z.T. mit Techniken, wie wir sie in den Beispielen (88) und (89) finden:

(88) m: ... + a[l]so ma Abgesehen von der/ von den mitgliedern’

a: der ---

m: der XXXXinger X:XX.

a: XXXXinger oder der bUndes:= + [ä: ja] ...

--- (p-4-11, 2. 3 a 1-5)

(89) m: ... + und zwa:r + hätt ich gern[e] von Ihn mal so:n allgemEIn-n EIn- ---

m: druck, wie kommt: der Aufbau der partEI in XXXXXXX: vorAn,

d: +++ jetz ---

m: + bEIdes, aso ganz breit,

d: die struktUr’ oda die pollItische,/ +++ ...

--- (p-6-4 5 k 1-6)

In beiden Fällen bieten die Sprecher Wahrheitsalternativen an. In (88) wählt A die erste der bei-den. In (89) hingegen verweigert M die Auswahl, weil er beide, von D nur als alternativ verstan-dene Elemente der Auswahlmenge meinte: Er widerspricht („beides“) und nennt den Grund für seinen Wunsch, beide Elemente berücksichtigt zu wissen („also ganz breit“). Eindeutig fällt in (88) der Ablauf unkomplizierter und ökonomischer aus als in (89): Anstelle etwa zu fragen

„Meinen Sie die Mitglieder der Menge X oder der Menge Y?“ schließt M seine Frage einfach nahtlos in Form eines Genitivattributes an den vorangegangenen Satz an. A folgt dieser Muster-vorgabe. In (89) hingegen muss D zuerst eine Denkpause von etwa 1,5 sec. nehmen, bevor er seine durch die starke Verkürzung vom Sinn her schwer verständliche VF? stellt.

108 ML’s „m:= “s in Fläche 34 deute ich als in diesem Zusammenhang zu vernachlässigende turn-claiming-Signale.

109 Vgl. Anh. 2.2, Teil 5.1.

Die VF?s in den Beispielen (87) bis (89) dienen ausschließlich der Rückversicherung. Die Fra-gen VF?1 und VF?2 aus ks-5, S13, in Beispiel (90) zeigen jedoch wieder funktionsfremde Eigen-schaften – in diesem Fall solche der in der Gradation um den Wert 1 bzw. 2 höher gelegenen NF? und kNF?. Die initiale VF? aus ks-5, S14, befindet sich an der Grenze zur rhetorischen Fra-ge:

In der Rückversicherungssequenz in ks-5, S13, stoßen sich ST und U daran, dass nicht ein Hahn, sondern der Papagei Charly den von AT kommentierten Krählaut ausgestoßen habe, weil sie le-diglich das vom Papageien produzierte Echo des ‘echten’ Hahnenschreis gehört haben. Auslöser der gesamten Problemsequenz ist also ein Übermittlungsfehler, Auslöser der Rückversicherungs-fragen jedoch die Bemerkung AT’s. Der Reaktionsablauf zeigt, dass die Klärung in diesem Fall nicht einfach ist:

st: VF?1 - u: VF?2 - at: repair1 - st: iK!1,1 - u: NF?1 - st: iK!1,2 - a2: repair2 - st: NF?2 - u: repair3 - at: repair4 - st: Annahme

Wie die Äußerungen in den Flächen 147f. zeigen, sind U und ST wirklich der Ansicht, dass nur Charly gekräht habe. Deshalb sind sie auch nicht leicht zu überzeugen. Die Art und Weise, wie U in NF?1 nochmals Einspruch erhebt („der Hahn, ja?“), legt eine Deutung von NF?1 und VF?2 als kNF? ähnlich nahe. Dasgleiche gilt für ST‘s VF?, die ich allerdings nur am Übergang zu einer NF? einstufen würde: In ks-5, S14, stellt er die rückversichernde VF? „was hat der?“ mit einer Betonung110, die nahelegt, dass er keine Schwierigkeiten mit Übermittlung und Vermittlung hat.

Vielmehr will er als ‘guter’ Mitspieler im small-talk-Ritual ‘richtig’ auf U’s Anekdote eingehen, dass der in S13 thematisierte Hahn eingesperrt wurde, weil er – ganz artgerecht – seine Futtersu-che auch auf die Blumenbeete des Nachbarn ausgedehnt hatte.

5.2.1.6 Fokuswechsel

In den Teil-Korpora ‘ks’ und ‘uw’ habe ich drei, bzw. eine Verständnisfrage ausmachen können, die eindeutig auf einen Fokuswechsel der Aufmerksamkeit schließen lassen. Hierbei muss nicht unbedingt an einen Wechsel von einem Gespräch zum anderen gedacht werden – auch das ‘Auf-tauchen’ etwa aus der eigenen Gedankenwelt oder der Aufmerksamkeits-Wechsel von einer praktischen Tätigkeit zum Gespräch können die Ursache sein.

In Beispiel (91) laufen drei Gesprächsstränge parallel: Im ersten wird nicht ganz ernsthaft dar-über verhandelt, wie U-Bahn-Züge gesteuert werden, im zweiten wird Auskunft dardar-über verlangt, ob das Mikrophon bereits läuft und im dritten geht es um die Spargeltemperatur:

(91) s: lÄUft das u: ++ [...], a1: + ich dEnk die dInga fahrn automAtisch' da,

an: chIhhh:= m-nö=

---

s: mIkro schon' oder wAs, m-hIhihi

st: s-wAr der sOHn des a1: jA:, die ganze zahEIt,

---

st: vAters der mit:= pIlln zUgedrogt in der Ecke lag und grInste

e: + [dAng ---

110 Auf der Tonbandaufnahme deutlich; das Transkript kann diesen bestimmten Tonfall nicht wiedergeben.

s: M:=

Zu Beginn erhält S auf die Frage „läuft das Mikro schon oder was?“ von A1 die lachende Ant-wort „ja, die ganze Zeit“. S scheint die AntAnt-wort zweifelsfrei gehört zu haben: Sie lacht direkt im Anschluss daran. Das Gespräch läuft mit den Themen U-Bahn und Spargeltemperatur weiter. In Fläche 48 wiederholt A1 seine diesmal von ST bestätigte Äußerung, dass das Tonbandgerät be-reits laufe. An dieser Stelle plaziert S die VF? „was denn?“. A1 bessert erneut nach („das Mik-ro,“), worauf S wieder lacht („wU:hähä=“). Diese Sequenz lässt sich nur so deuten: S war zum Zeitpunkt von A1’s erster Antwort durch die anderen Gesprächsstränge abgelenkt; ihr vermeint-lich antwortendes Lachen in Fläche 44/45 galt einer anderen verbalen oder nonverbalen Hand-lung. Dass ihre Aufmerksamkeit geteilt ist, zeigen ihre folgenden Redebeiträge: In Fläche 49 quittiert S A1’s dritte Bestätigung („läuft schon die ganze Zeit,“) mit der Bemerkung „na dann,“, um fast ohne Zeitintervall zur Spargeltemperaturfrage mit den Worten „nee, der ist doch warm,“

Stellung zu nehmen. In Beispiel (92) ist ein Fokuswechsel als VF?-Motiv noch deutlicher zu er-kennen:

f1: schÜtzt das klIma erhAltet den rEgnwald= XXXXXXXXX, damit man:

transparEnt hat was man rießEIkeln kann, ...

--- (uw-16 3 m1 1)

M1 und M2 sind nicht mehr besonders aufmerksam. Sie stellen sich vor, wie sie den von der ge-planten Aktion betroffenen Baumarktleiter bewegen wollen, vor die Tür zu kommen. Während M2 eine konkrete Idee unterbreitet, werden die beiden von F1 angesprochen, die mit ihnen zu-sammen einen noch offenen Punkt besprechen möchte. M1 fragt „was?“, worauf F1 repair anbie-tet, indem sie erstens den Zweck der von ihr gewünschten Kurzbesprechung wiederholt und zweitens den Hinweis „für’s Transpi“ hinzufügt. Der weitere Verlauf des Gesprächsausschnittes, den ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte, deutet darauf hin, dass M1 schon seit ei-niger Zeit der eigentlichen Besprechung nicht mehr besonders aufmerksam gefolgt ist.111 In ähn-licher Weise wie in Beispiel (91) muss hier also eine VF? gestellt werden, weil ein Ge-sprächsteilnehmer einen Fokuswechsel von einem Gesprächsstrang zum anderen vornehmen will.

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 153-160)