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Zusammenfassung: Selbstunterbrechungen und Selbstkorrekturen

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 143-147)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

5. Abweichungen und die Funktionen der Bewältigungsreaktionen

5.1 Sprechplanungsänderungen

5.1.3 Zusammenfassung: Selbstunterbrechungen und Selbstkorrekturen

Partial repetitions or recycles are frequently treated as sloppiness, as inarticulateness, as not having thought about what one was going to say, as evidence of the disorderliness of single occurrences in passing conversation. I hope it can now be seen that almost precisely the opposite of each these is the case. We should thereby be encouraged to investigate other ap-parently unorganised ‘sloppy’ materials in the natural world. Schegloff [1987a], 84.

Das zentrale Phänomen des Kapitels 5.1 sind die ‘Sprechplanungsänderungen’ – Sprechpla-nungsänderungen, die sich auf der sprachlichen Oberfläche als Selbstunterbrechungen und Selbstkorrekturen zeigen. Das Kriterium, was diese beiden Sprechhandlungsformen von anderen Abweichungsbewältigungsmustern trennt, ist natürlich das ‘Selbst’: Eigeninitiative bewirkt die Änderungen am vorgesehenen Sprachproduktionsablauf.

Die Ergebnisse der unter 5.1.1 und 5.1.2 dokumentierten Untersuchungen zeigen, dass trotz funktioneller Gemeinsamkeiten und Überschneidungen bei SUs und SKs unterschiedliche Schwerpunkte vorliegen. Hast, Unsicherheit und Formulierungsschwierigkeiten sind häufige Auslöser für beide Handlungsbereiche. Da die SK aber meist auf eine SU folgt, führt die Markie-rung dort id.R. zu anderen Oberflächenphänomenen.

Im Bereich der SU endet die Behandlung von Formulierungsschwierigkeiten eher unproduktiv, wenn auch nicht erfolglos, in Stottern, Stocken, Zögern und dergleichen (5.1.1.2). Die SK hinge-gen wird hier in komplexeren Situationen durch einfache und umformulierende Verkürzung, Ein-schränkung, einfache und umformulierende Ergänzung sowie Umformulierung unterschiedlicher Komplexität in weitaus differenzierterer Weise realisiert (5.1.2.4 bis 5.1.2.7, 5.1.2.9). ‘Einfache’

Probleme wie etwa Versprecher, Inkongruenzen oder ‘falsche’ Wörter werden, wie sich gezeigt hat, mit einfachen Mitteln behoben (5.1.2.1 bis 5.1.2.3, 5.1.2.8).

Motive für Sprechplanungsänderungen wie Erregung, Hast, Formulierungsschwierigkeiten, Ab-lenkung oder Unsicherheit lassen sich in der SU höchstens durch induktive und deduktive Ver-fahren feststellen (5.1.1.1, 5.1.1.4), in der SK aber finden sie durch greifbare Handlungen ihren Ausdruck. Die Funktion der SK ist also primär die der Reparatur.

Die eigentliche Stärke der SU – wenn man das überhaupt so nennen kann – liegt in erster Linie in der Hinweis-Funktion: Sie kündigt Selbstkorrekturen und Parenthesen an (5.1.1.5, 5.1.1.6), sie zeigt dem Gesprächspartner, dass ein turn abgegeben oder nicht beansprucht wird (5.1.1.7). Nicht übersehen werden sollte auch ihre Rolle bei der Anzeige des Gesprächs- und Gedankenabbruchs (5.1.1.8). Ein Gesprächsabbruch kündigt sich in den meisten Fällen durch eine ganze Reihe von kommunikativen Signalen an, von denen die SU vielleicht eines der prägnantesten ist. Gedan-kenabbrüche ihrerseits sind weniger weitreichend in ihren Auswirkungen, doch umso mehr kann eine SU in einem solchen Fall dem Gesprächspartner eine wertvolle Information sein. In diesem

Sektor korrespondiert die SK lediglich mit Selbstkritik und selbstbezüglichem Kommentar (5.1.2.11).

Zusammenfassend darf also festgestellt werden, dass trotz erschwerter Deutung und teilweiser Überschneidung der Auslöser und Funktionen SU und SK zwei ‚Rollen‘ untereinander aufteilen:

• SU: Hinweis-Funktion

• SK: Reparatur-Funktion

Zuletzt bleibt die Frage, was nun die Betrachtung der Selbstunterbrechung und der Selbstkorrek-tur für die Erforschung der fremd-initiierten KorrekSelbstkorrek-turen leisten kann; mit welchen Erkenntnis-sen dieses ausführliche Kapitel zu rechtfertigen sein könnte. Ich denke, die Antwort liegt auf der Hand: Da wir nur selten Informationen haben, warum ein Gesprächspartner eine Sprachprodukti-on an tn+1 als abweichend registriert, markiert, und/oder thematisiert hat, können die SU und die SK in diesem Rahmen wertvolle Interpretationshilfen sein.72

72 Dabei dürfen wir natürlich nicht vergessen, dass zwischen Selbst- und Fremdkorrektur ein wesentlicher Unter-schied besteht: Die Selbstkorrektur behebt oft Versprecher, markiert und behebt die Diskrepanz zur eigenen In-tention oder Antizipation, gibt uns Hinweise zur momentanen Empfindlichkeit des Sprechers. Die Fremdkorrek-tur erfolgt, wie wir sehen werden, nach Norm-Abweichungen und Erwartungs-Abweichungen.

5.2 Fragen

We select some Noun Phrase in a sentence, re-place it by an appropriate question-word, re-place the latter at the beginning of a sentence, and with other mechanical operations, form a question.

Chomsky [1980], 42.

Fragen wir uns nach den möglichen Fragen im Deutschen, bietet sich ein Blick in eine Text-grammatik an – z.B. die von Harald Weinrich.74 Er unterscheidet zwischen

1) ‘Geltungsfragen’, mit den Subtypen ‘einfache Geltungsfragen’ und ‘Vergewisserungsfra-gen’75,

2) ‘Alternativfragen’76,

3) ‘Fokusfragen’, „die durch die besondere Form des Frage-Morphems die Aufmerksamkeit des Hörers auf denjenigen Teilbereich der Vorinformation lenken, der die Informationslücke ent-hält“77, mit den Subtypen ‘Verbfragen’78, ‘Rollenfragen’79 und ‘Applikationsfragen’80. Ferner nimmt Weinrich den Typ der

4) ‘Rhetorischen Fragen und Ausrufe’ an.81

Diese Frage-Typen lassen sich als Oberflächenrepräsentation der von mir angenommenen Klas-sen VERSTÄNDNISFRAGE, NACHFRAGE und KORRIGIERENDE NACHFRAGE betrachten. Sie können nur Funktionen der Reaktionsklassen sein. Das Auftreten von VF?, NF? und kNF? ist abhängig von den vorausgegangenen Äußerungen. Mit der Systematik von Weinrich kommen wir hier also nicht weiter. Etwas hilfreicher ist die Systematik, die Burkhardt aufstellt.82 Burkhardt unterschei-det zwischen Fragen, die keine Antwort zum Ziel haben, und Fragen, für die eine Antwort obli-gatorisch ist. Von diesem Ast, der sich in ‘inhaltliche’ und ‘strukturelle’ Fragen teilt, hängen 13 Fragetypen ab, die z.T. den in dieser Arbeit relevanten Funktionen entsprechen: So z.B. nennt auch er etwa den Typ der ‘verständnissichernden Frage’, der ‘bestätigungsheischenden Frage’, der ‘Verständnisnachfrage’ oder der ‘Vorwurfsfrage’. Burkhardt geht jedoch leider nicht

74 Weinrich [1993], 878-94.

75 Wie: „Ist die Unterschrift echt?“, resp. „Sie sind nicht vorbestraft?“.

76 Mit dem ‘Selektiv-Junktor’ oder, aaO 883.

77 Von ihm auch ‘Ergänzungsfragen’ genannt, aaO 883f.

78 ‘Pro-Verben’ mit „maximalem Bedeutungsumfang und minimalem Bedeutungsinhalt“ in Verbindung mit dem

‘Frage-Morphem’ was sollen ein spezifischeres Verb im Antwortsatz herbeiführen, aaO 884f.

79 ‘Rollenfragen’ richten sich auf die „Handlungsrollen Subjekt, Partner, Objekt“, aaO 885-88.

80 ‘Applikationsfragen’ fordern sowohl Zeit- und Positionsangaben als auch Begründungen, Erläuterung der ‘Um-stände’ - wozu auch Auskünfte über Kochrezepte, Benennungen oder Meinungen gehören - sowie Angaben über

‘Junktionen’, aaO 888-92.

81 aaO 892f.

82 Burkhardt [1986], 45ff., insbes. Schema 46.

liert auf diese Typen ein. Außerdem ist sein Aufsatz sprechakttheoretisch fundiert, ich hingegen arbeite im Rahmen des turn-taking-Modelles und möchte die Funktion der drei von mir ange-nommenen Reaktionsklassen deshalb auch aus dieser Perspektive betrachten:

Die VF?s, NF?s und kNF?s zeichnet primär die Funktion aus, dem Produzenten einer als abwei-chend markierten Sprechhandlung die Möglichkeit zur repair einzuräumen:

„THE TECHNIQUES FOR OTHER-INITIATION ARE TECHNIQUES FOR LOCATING THE TROUBLE SOURCE. The turn which affords others an opportunity for initiating repair is thus used to locate the trouble source;

such turns are massively occupied with nothing else. They are used, then, to provide the speaker of the trouble source ANOTHER opportunity, in the turn that follows them, to repair the trouble source.“ 83

Die Beispiele von Schegloff / Jefferson / Sacks für den Einsatz von repair-initiators reichen von reinen Fragen bis hin zu expliziten Korrekturen.84 Den qualitativen Unterschied innerhalb der Menge von beobachteten repair-Aufforderungen merken sie zwar an85, doch unterlassen sie die systematische Beschreibung dieser Unterschiede.86 Dieser systematischen Beschreibung sind hier die Abschnitte 5.2.1 bis 5.2.3 gewidmet. Zunächst werden die Fragen behandelt, die innerhalb einer Gesprächssequenz z.B. dieses Erscheinungsbild besitzen können:

(75) s: ++ chE-hAhAhA= hE hE=

m: hE-he=

an: hÖ=

u: ... hast die Ef Er gelEsn, hA'

st: wAs ---

an: + M' was ef Är’

a2: [...] nE' dAs das: spArgel:besteck, nE' also st: [...] dAs' M'

at: jA, genAU, ---

a2: ich probIEr das nochma[l], ob ich noch was Essn kann,

st: E: ef er, + oda ---

a1: nE:/ Ef er, an: [ef] är

u: Ef er, [...] +++ + jA: jajaja, ...

st: was has[te] gesAgt, ach sO, --- (ks-5, S5, 1. 57 st 1 - 60 st 5)

83 Schegloff / Jefferson / Sacks [1977], 377.

84 Schegloff / Jefferson / Sacks [1977], 377-379.

85 „They are used this way even when ‘other’ clearly ‘knows’ the repair or ‘correction’, and COULD use the turn to do it.“ Schegloff / Jefferson / Sacks [1977], 377.

86 Dies mag an ihrem vornehmlichen Interesse an einer Beschreibung der turn-taking-Struktur im Fall von repair liegen. Gruber [1996], 56, behauptet, dass repair laut Levinson nur bezüglich „inhaltlicher Aspekte“, die auf ei-nem „kognitiven Irrtum“ oder „eiei-nem Übermittlungsfehler beruhen“ gefordert werde. Dieses Verständnis des turn-taking-Prozesses ist nicht richtig. An keiner Stelle haben weder Sacks, Schegloff, Jefferson oder Levinson die Reichweite des Modells eingeschränkt.

Der meiner Systematik entsprechende Sprechhandlungsverlauf sieht so aus:

st: VF?1,1 - an: VF?2,1 - st: VF?1,2 - an: VF?2,2 - st: repair 1 / VF?1,3 - a1: repair2,1 - u: repair2,2 - an: repair2,3 - a1: repair2,4 (repair2,1-2,4 innerhalb VF?1,3) - st: Annahme

Das Problem: ST, der den Sinn der Abkürzung ‘FR’ nicht verstanden hat, provoziert durch seine dreigeteilte VF?1 die durch VF?1,2 ebenfalls gespaltene VF?2 von AN. Letztlich können ST und AN die Verständigungsschwierigkeit mit Hilfe von A1 und U lösen, doch für den wissenschaftli-chen Beobachter beginnen die Probleme erst hier. Bei genauer Betrachtung der fünf Teil-VF?s zeigt sich ihre unterschiedlicher Qualität. Diese Unterschiede beleuchtet der folgende Abschnitt.

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