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Dispositionelle Parameter

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 68-73)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

3. Abweichungsbewältigung im Modell

3.2 Das Reaktionsflussmodell

3.2.4 Dispositionelle Parameter

In dem Augenblick, in welchem wir Sprachhandlungen und die Reaktionen darauf mit Bewer-tungen, Markierungen und Planungsvorgängen zusammen bringen, müssen wir von Einstellun-gen, Motiven und Intentionen sprechen. Es liegt ja nahe, im Kontext der Abweichungsverarbei-tungsdiskussion den ‚Schweregrad‘ der als abweichend empfundenen / thematisierten kommuni-kativen Handlungen in Relation zum ‚Härtegrad‘ der Reaktion zu setzen. Es liegt sogar nahe, ei-ne Regelhaftigkeit anzuei-nehmen, welcher eiei-ne liei-nerare oder sogar expoei-nentielle Relation

62 vgl. Spranz-Fogasy [1986].

tn+2

P M

iK!

eK!

E!

schen Markiertheit der Abweichung und Markiertheit der Reaktion zu Grunde liegt. Die Unter-suchung wird zeigen, dass diese Annahme berechtigt ist. Sie wird jedoch auch zeigen, dass die Regelhaftigkeit eine gewisse Variationsbreite aufweist.

Die Regel- und Normendiskussion in Kapitel 2 hat verdeutlicht, wie jede Sprache als ein System von Regeln in ihrer Anwendung durch Regeln bestimmt ist und dass Regeln normativ eingesetzt werden können. Der Anlass für die vorliegende Arbeit ist letztendlich, dass jedes lebendige Sys-tem Abweichungen zulässt.63 Ich gehe nun davon aus, dass die Reaktionen auf Regelabweichgen ihrerseits durch die vermutbare Abweichungs-Reaktions-Relation einer Regelhaftigkeit un-terworfen sind. Diese Annahme ist noch zu beweisen. Gibt es wirklich Regeln für Abweichun-gen, und wenn ja, wie sind sie zu erkennen? Auf jeden Fall werden wir dispositionelle Parameter annehmen müssen, die sich sowohl auf die Produktion an tn, als auch die an tn+2 auswirken. Dies legen auch Überlegungen unter 3.1 nahe. Hinsichtlich der Reaktionen auf Regel-Abweichungen sollte also eine Toleranz-Gradation bestehen.64

Dies will nichts anderes sagen, als dass Hörer auf Abweichungen unterschiedlich reagieren:

Manche Abweichungen erzeugen keine (wahrnehmbare) Reaktion, andere eine leichte, wieder andere eine starke. Die Art der Reaktion ist abhängig von der Toleranz-Schwelle des Rezipien-ten. Die jeweilige Schwelle ist situations-, kontext- und persönlichkeitsgebunden.65 Um zu ver-deutlichen, was ich damit sagen will, komme ich auf das Modell von Franz Hundsnurscher66 zu-rück:

63 Vgl. Keller und Öhlschläger, in Heringer [1974]. Aus diesem Grunde auch das Attribut ‘lebendig’: Ich möchte Sprache nicht im biologischen Sinne als etwas Lebendiges verstehen, sondern sie auf diese Weise von ‘toten’ Sys-temen wie Rechner-Programmen abgrenzen, die sich eben genau dadurch auszeichnen, dass sie nicht mehr funkti-onieren, wenn man ihren Regeln nicht folgt. Für natürliche Sprachen muss man vielmehr annehmen, dass sie nur funktionieren, wenn auch Abweichungen möglich sind. Vgl. Coseriu [1970].

64 vgl. Püschel [1985], 14.

65 Vgl. Abschnitt 4.1.3.2. Kolde [1980], 173f., berührt die unterschiedliche ‚Fehler‘-Toleranz ebenfalls, nennt aber nur beispielhaft die L2-Erwerbsproblematik, soziolektales Prestigedenken, Interesse am Gesprächsgegenstand, Lernbereitschaft und Angst vor Sanktionen bei expliziter Korrektur. Er mutmaßt, dass außerdem die Einstufung des Fehlers als „Entgleisung“ oder „Kompetenzdefizits“ für die Thematisierung eine Rolle spielen dürfte.

66 Hundsnurscher [1973], 60. Graphisch leicht verändert.

Abb. 3.4: Performanzmodell nach Hundsnurscher

Nach Wertung und Markierung der an tn erfolgten Äußerung / kommunikativen Handlung hängt die Planung der (möglichen) Reaktion an tn+1 von den in Abb. 3.4 aufgeführten Faktoren ab:

• kommunikative Intention: Sowohl das Thema als auch die Motivation treten als Subkompo-nenten der Intention auf.67 Wenn das Thema des Dialogs den Rezipienten stark berührt, wird er heftiger auf irritierende Äußerungen seines Partners ansprechen. Nicht umsonst sprechen wir davon, dass es für viele Menschen sog. ‚Reizthemen‘ gibt, auf die sie reagieren wie der Stier auf das ‚rote Tuch‘. Die Motivation nimmt dann Einfluss darauf, ob der Rezipient eine Frage (Erkenntnisinteresse) oder einen Einwand (Widerspruchsinteresse) formulieren wird.

• partnertaktisches Programm: Dieser Begriff kann im Einzelfall auf sehr viele unterschiedli-che Parameter referieren. Einfach gesagt beeinflusst das partnertaktisunterschiedli-che Programm einen Rezipienten in seiner Reaktionsplanung so, dass Einzeläußerungen in den strategischen Rahmen des gesamten kommunikativen Austausches passen sollen. Wichtig in unserem Kon-text ist, dass Gesprächspartner häufig Abreden darüber treffen, was ihr gemeinsames Pro-gramm sein soll (Planung, Informationsvermittlung usw.).

• psycho-physische Verfassung: Ein zurückhaltender Mensch wird länger zögern, bevor er eine Abweichung kommentiert. Ein wenig am Gespräch interessierter wird sich weniger schnell beteiligen oder anders reagieren68 als ein interessierter. Ein gereizter Mensch wird tendenziell eine markiertere Reaktion hervorbringen als ein ruhiger.

67 Hundsnurscher [1973], 62f.

68 Vgl. Kallmeyer / Schmitt [1996] und Hartung [1996].

Kodierung des Textems kommunikative

Intention Text

psycho-physische Verfassung partner-taktisches Programm

Präzisions- Regelung

Zeitfaktor Regelung Wissenspeicher Sprachspeicher

• Präzisions-Regelung: Hundsnurscher spricht hier vom Anpassen des Präzisionsgrades an die jeweilige Situation.69 Im Falle der Reaktionsplanung bezieht sich dieser Parameter also nicht nur auf die eigene, bevorstehende Produktion, sondern auch auf die an die gerade wahrge-nommene Produktion angelegten Maßstäbe.

• Zeitfaktor-Regelung: Wenig verfügbare Zeit kann sich unterschiedlich auf die Reaktionspla-nung auswirken. Der Rezipient kann auf eine Frage oder einen Einwand verzichten, er kann sich kurz fassen oder aber auch heftiger reagieren, als dies ohne Zeitdruck der Fall wäre. Die endgültige Wahl hängt stark von den anderen Parametern ab.

• Wissensspeicher: Nur was im Kontrast zu bestehendem Wissen steht, kann hinterfragt oder kritisiert werden. Bei Produktionen an tn, die aufgrund mangelnden Wissens erst einmal ü-berhaupt nicht verstanden werden, sind VF?s die wahrscheinlichste Wahl. In Verbindung mit Minderwertigkeitsgefühlen (psycho-physische Verfassung) wiederum kann genau dies Wis-sensdefizit zur Wahl agressiver Handlungen führen, die dann oft die Form von kNF?s, iK!s oder eK!s annehmen werden.

• Sprachspeicher: Hundsnurschers Begriff setze ich der Einfachheit halber mit dem weiterfüh-renden Begriff ‚Kompetenz‘ gleich. Bekannte eigene geringe Kompetenz wird einen Rezi-pienten aus Furcht vor Zurückweisung oder Gegenkritik eventuell daran hindern, Kritik zu üben. Bekannte oder angenommene geringe Kompetenz des Produzenten wird den Rezipien-ten eventuell zur Wahl geringer markierter NTRIs motivieren (außer bei Verabredung zur Korrektur im L2-Erwerb etwa).

Die kursorische Darstellung der Wirkungsweisen der von Hundsnurscher angenommenen Para-meter zeigt deutlich, dass wir eine starre Regelhaftigkeit in der Abweichungs-Reaktions-Relation nicht annehmen dürfen – zumal das Performanzmodell in gleichem Maße auf die Reaktionspla-nung für tn+2 wie die Deutung derÄußerung an tn+1 anzulegen ist. Wir müssen also davon ausge-hen, dass die Reaktionen auf Regel-Abweichungen eine Toleranz-Gradation aufweisen, die das Verhältnis von Abweichungsgrad und Markiertheit der folgenden Reaktion beeinflusst.

69 Hundsnurscher [1973], 64.

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