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normorientierte Sprachbetrachtung

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 23-26)

Traditionell wird Sprache als System von Regeln aufgefasst; man könnte sagen, ‘langue’ gilt als die Norm der ‘parole’.14 Die Verlaufsrichtung dieser Autoritätsbeziehung ist zu komplementieren dadurch, dass es ohne ‘parole’ keine ‘langue’ gäbe. Dies ist nachvollziehbar und auch verständ-lich, denn in dem Moment, in welchem eine Grammatik ‘parole’ beschreibt und in einem Regel-werk zur ‘langue’ festschreibt, kehrt sich die Beweislast um: Nun muss die ‘parole’ durchsetzen, dass sie auch in einer vom Code abweichenden Form ihre Daseinsberechtigung hat.15 Der norm-orientierten Sprachbetrachtung entspricht die traditionelle Sicht auf Sprache: Sprachbeschreibung und Sprachverwendung werden primär unter dem Aspekt der Richtigkeit betrachtet, wobei die Verschriftlichung von Sprache eine entscheidende Rolle spielt. Dies lässt sich natürlich in nicht unerheblichen Maße auf die Anforderungen des Schulunterrichtes und der rhetorischen Ausbil-dung etwa und den damit verbundenen Teilbereichen wie Wortgebrauch, Aussprache, Lautbil-dung usw. zurückführen.16 Vor allem auch beim Spracherwerb und der Standardisierung von Sprachen sowie bei Verständigungs- und Stildiskussion und Übersetzungsproblemen ging es vor allem um Sprachrichtigkeit.17 Erst recht die Sprachkritik geht von der Fiktion einer Sprachrich-tigkeit aus. Prinzipiell ist dagegen auch nichts einzuwenden. Es bleibt jedoch die triviale Tatsa-che, dass keine Regel ohne Abweichung bleiben kann.

Diese Abweichungen wurden bislang selten betrachtet. Saussure fordert zwar so etwas wie eine

‘Parole-Linguistik’18 und wir haben etwa auch die interessante ‘Grammaire des Fautes’ von H.

Frei, in welcher er die bemerkenswert logische These aufstellt, dass niemand aus reiner Freude Fehler mache, sondern vielmehr, weil Fehler zum System der Sprache genauso gehörten wie die

‘richtigen’ Äußerungen.19 Arbeiten dieser Art sind jedoch die Ausnahme.

Fazit: ‘langue’ kann ‘parole’ nicht restlos erklären. Die vornehmlich normative Betrachtung der Sprache wird der Sprachwirklichkeit nicht gerecht.20 Nicht nur, weil sie die Abweichungen aus der Sprache auslagert, sondern auch, weil sie den Charakter von Regeln als Produkte von Prozes-sen interaktionellen Aushandelns nicht berücksichtigt. Daher ist eine andere Betrachtungsweise notwendig, nämlich eine interaktionelle.

14 Saussure [1972], 37: „La langue est nécessaire pour que la parole soit intelligible et produise tous ses effets; mais celle-ci est nécessaire pour que la langue s’ètablisse.“

15 Dies ist die Grundlage für eine auch von Saussure geforderte, aber nicht mehr entwickelte Parole-Linguistik.

16 Nehmen wir als Beispiel die sog. ‘Antibarbari’, z.B. Krebs [1984].

17 Vgl. Siebenborn [1976], Cherubim [1979], Kolde [1980]. S. Hoffmann [1990] für einen interessanten Band zur Fachsprachproblematik und Peyer / Portmann [1996] für aktuelle Beiträge zum Themenbereich Norm und Didak-tik.

18 Saussure [1972], 38. Vgl. die Arbeiten der Prager Schule und der Genfer Schule.

19 Frei [1929], S.19. Ähnlich auch Havers [1931], der nach der ursprünglichen Forderung nach der Abkehr von star-rer Regelfixiertheit letztlich doch wieder von Fehlern und Fehlerklassen spricht. Vgl. Öhlschläger [1974], 95, zum Thema ‚Gesetze‘ und ‚soziale Regeln‘: „Bei gesetzmäßigem Verlauf kann es [...] qua Status von Gesetzen keine Abweichungen geben, da Gesetze erst und nur aufgrund der beobachtbaren Geschehen, die sich unabhängig von den Gesetzen vollziehen, gemacht werden, um diese zu beschreiben, zu erklären und für uns verstehbar zu ma-chen.“

20 Vgl. aber die ausführliche Diskussion des Normbegriffs in Abschnitt 2.1.

interaktionsorientierte Sprachbetrachtung

Neben der einseitigen, normativen Sicht auf Abweichungen liegt die zweite Belastung der sprachwissenschaftlichen Behandlung von Abweichungen darin, dass die entsprechenden Er-scheinungen meist losgelöst von den Bedingungen, unter denen sie entstehen und in denen sie Funktionen erfüllen, betrachtet wurden. Dies gilt auch und besonders für die Tatsache, dass Ab-weichungen oder ‘Fehler’ und deren kommunikative Bearbeitung ja nicht nur in ‘Abfragesituati-onen’ (etwa im schulischen Kontext, bei Bewerbungsschreiben oder Anträgen), sondern als all-tägliche, interaktive Routinen21 in Gesprächen vorkommen. Ihre gesprächshafte Verarbeitung ist also nicht nur etwas Peripheres, sondern etwas, was zu ihrer Substanz, zu ihrem Wesen gehört.22 Die unlösbare Verbindung von sprachnormativen und sozialen Prozessen bringt D. Cherubim gut auf den Punkt:23

Normierung von Sprache meint Selektion (durch Auswahl oder Konstruktion) von sprachlichen Mit-teln nach Kriterien, die einen (meist heterogenen) Begriff von Sprachrichtigkeit festlegen. Selektionen dieser Art können als soziale Prozesse und deren Wirkungen verstanden werden. Normierung und Normen in diesem Sinne sind dann Instrumente einer sozialen Kontrolle von Sprache, die sich ihrer-seits wiederum ganz unterschiedlichen Motiven verdankt.

Das heißt also, dass die Beschäftigung mit Abweichungen immer auch eine Beschäftigung mit sozialen Prozessen und somit mit menschlichem Handeln bedeutet. In diesem Kontext dürfen Abweichungen dann auch nicht mehr allein unter dem Aspekt der Sprach- oder Handlungsrich-tigkeit gesehen werden. Vielmehr kommt doch hinzu, dass nicht nur die Produzenten einer als abweichend markierten (Sprach-)Handlung ihr Gesicht wahren müssen, sondern auch die eventu-ell von den Folgen der als abweichend markierten Handlung Betroffenen.24

21 Vgl. Goffman [1982], 250: „Ich habe deutlich zu machen versucht, dass diese korrektive Tätigkeit ein konstanter Bestandteil der alltäglichen Interaktion ist und dass sie in Gestalt rituell abgeschlossener Austäusche den organisa-torischen Rahmen für Begegnungen erzeugt. Durch rituelle Austäusche, insbesondere korrektiver Art, wird das Verhalten strukturiert, schälen sich durch ihre Funktion zu einer Einheit zusammengefasste Abschnitte aus dem Verhaltensstrom heraus.“

22 Vgl. Goffman in 1971: „Die traditionelle Einheit bei linguistischen Untersuchungen ist der Satz. Offensichtlich verhält es sich nun aber in Wirklichkeit so, dass ein Gesprächsschritt häufig mehr als einen Satz umfasst und dabei gleichwohl in gewisser Hinsicht eine natürliche Einheit darstellt. Diese Einheit kann als ein funktional differenzierter Schritt (zum Beispiel als korrektur oder Anerkennung) in der Aufeinanderfolge von Schritten auftreten, die einen Austausch ausmachen, so dass der rituelle Zug und der Gesprächsschritt zusammenfallen.

Aber ein einzelner Gesprächsschritt kann auch zwei solcher Züge umfassen. Darüber hinaus kann ein einzelner Gesprächsschritt, wie bereits gezeigt, zugleich den abschließenden Schritt des einen Austauschs und den eröffnenden Schritt eines neuen enthalten. Jede Technik der quantitativen Analyse, die den Satz oder selbst den Gesprächsschritt als Einheit wählt, wird für einige der signifikanten Realitäten der Interaktion blind sein.“

Goffman [1982], 205f. Vgl. Püschel [1985] zu Abweichen als Form sozialen Handelns.

23 Cherubim [1995], 29.

24 Vgl. Goffman [1982], 252: „Ein Individuum ist nicht nur bemüht, seiner jeweiligen Tätigkeit erfolgreich nachzu-gehen. Es ist vielmehr auch ständig bemüht, ein Image von sich zu wahren, das vor den anderen zu bestehen ver-mag.“, und Goffman [31994], 10: „Jeder Mensch lebt in einer Welt sozialer Begegnungen, die ihn in direkten oder indirekten Kontakt mit anderen Leuten bringt. Bei jedem dieser Kontakte versucht er, eine bestimmte Strategie im Verhalten zu verfolgen, ein Muster verbaler und nichtverbaler Handlungen, die seine Beurteilung der Situation und dadurch seine Einschätzung der Teilnehmer, besonders seiner selbst ausdrückt.“

So ist es auch kein Zufall, dass die Sprachwissenschaft bereits im 19. Jahrhundert25 den Weg von der „Konstatierung reiner Fakten“ zum Suchen von Erklärungen für das ‚Warum‘ fand.26 Das zu-nehmende Interesse an der Erforschung des interaktionellen Aspektes gesprochener Sprache, die

‚Pragmatisierung‘ der Sprachwissenschaft nach dem zweiten Weltkrieg dokumentieren die The-men der Jahrestagungen des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim im Zeitraum 1966 bis 1985:27

Jahrbuch Titel Zentrale Themen

1966/67 Sprachnorm, Sprachpflege, Sprachkritik28

Sprachnorm / Sprachwandel, Sprachwissenschaft / Sprachkritik, Sprachpflege / Sprachwissenschaft, Grammatische Probleme 1972 Gesprochene Sprache29 „Was heißt ‚Verständigung durch sprechen‘?“, Redekonstellation

und Textsorte, Sprachverhaltensmodell, Syntaktische Besonderhei-ten der deutschen Alltagssprache, Sprachmoden

1980 Dialogforschung30 Ethnomethod. Konversationsanalyse, kommunikative Grammatik,

„Zur maschinellen Rekonstruktion natürlich-sprachlicher Dialoge“, forens. Argumentation, Zuhöreraktivitäten, Jugendsprache, Dialog-eröffnung in Telefongesprächen, Handlungsaufforderungen 1985 Kommunikationstypologie31 Entw. v. Kommunikationstypologien, ‚Rahmen‘-Konzept,

Denk-muster, Ironie, Schlichtungsgespräche, Konstitution und Prozessie-rung v. Emotionen

Ende der 60er Jahre scheint die deutsche Sprachwissenschaft noch um eine Positionsbestimmung bemüht gewesen zu sein, wie besonders Peter v. Polenz‘ Artikel zum Einsatz sprachwissen-schaftlicher Methoden in der Sprachkritik, aber auch die Beiträge von Paul Grebe, Hugo Steger im IdS-Jahrbuch 1966/67 zeigen. In den 70er und 80er Jahren entwickelte sich die Erforschung sprachlicher Interaktion dann zu einem eigenen Forschungszweig, wie nicht nur die Tagungs-themen des IdS, sondern auch weite Teile der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Forschungsbe-richte und Aufsätze belegen.

Die vermehrte Beschäftigung mit gesprochener Sprache zeigte dann auch, dass natürlich nicht nur Regeln, sondern auch andere Faktoren über Gelingen und Nicht-Gelingen des kommunikati-ven Austausches bestimmen. Goffman stellt fest:32

Die Struktur des Dialogs wird dadurch kompliziert, dass jeder der Partizipanten nicht nur das virtuelle Vergehen im Auge haben muss, sondern auch seine eigene Rolle und die Rolle der anderen Partizipan-ten innerhalb eines Systems der vernünftigen Regelung korrektiven Handelns.

25 Cherubim [1975b], 14-18.

26 Cherubim [1975b], 27.

27 vgl. Schwitalla [1980] und Cherubim [1998].

28 IdS [1968]

29 IdS [1974]

30 IdS [1981]

31 IdS [1986]

32 Goffman [1982], 171.

Die Interaktionspartner brauchen also eine solide Kommunikationsbasis, auf der jeder seinen in-dividuellen sozialen Raum behaupten können muss um auf sicherer Basis agieren zu können. Al-le Beteiligten haben zudem zu jeder Zeit Störfaktoren unterschiedlichster Natur zu bewältigen.

Sie müssen daher nicht nur deutlich produzieren, sondern auch aufmerksam rezipieren – also bewusst handeln. Deshalb reicht es m.E. nicht, nach dem Überwinden normorientierter Sprachbetrachtung und dem Hinfinden zu interaktionsorientierter Sprachbetrachtung stehen zu bleiben. Wir brauchen zusätzlich eine rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung.33

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 23-26)