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Ansätze in der Forschung

Im Dokument Das Nicht war zu leise! (Seite 83-87)

rezeptionsorientierte Sprachbetrachtung

4. Das Korpus

4.1 Das Transkriptionsverfahren

4.1.3 Zum Sinn einer Gesprächs- und Situationstypologie im Rahmen der Transkription

4.1.3.1 Ansätze in der Forschung

Typologien fassen Elemente von Datenmengen mit bestimmten Eigenschaften nach bestimmten Kriterien zusammen und strukturieren sie. Diese Strukturierung kann heuristisch sehr wertvoll sein. Sie kann aber auch Menschen mit Rädern an den Füßen erzeugen, wenn Typologien Struk-turen erzeugen, die realiter so nicht vorhanden sind. Das Problem ist, dass eine Gesprächsanalyse einerseits möglichst unvoreingenommen und beobachtend36, also deskriptiv, vollzogen werden muss, um nicht durch vorurteilsbehaftete Sichtweise zu falschen Schlüssen zu führen, anderer-seits aber eine gewisse Vorstrukturierung und Teilinterpretation häufig unumgänglich ist. Ohne-hin sind latente Alltagstypologien, die auf kommunikativer Erfahrung beruhen, unOhne-hintergehbar.

Auch in diesem Sinne ist mit Popper Beobachtung immer Beobachtung im Lichte von Theorien.

H/R stellen ihrem System sog. ‘Gesprächsbereiche’ zur Seite37, welchen sie vier Prädikate zuord-nen.38Diese Subspezifizierung des Prädikates ‘arbeitsorientiert’ in ‘handarbeitsorientiert’ (4. und z.T. 5.) und ‘kopf-arbeitsorientiert’ ( z.T. 5. bis 11.) ist m.E. recht unsinnig, denn es gibt kein ü-berzeugendes Kriterium für diese Trennung: Aus der Art der Tätigkeit erwachsende Einflüsse, die sich auf das Sprachverhalten auswirken können, sind letztlich nicht allein der Tätigkeit selbst inhärent, sondern rühren auch aus den Rahmenbedingungen des Gespräches her.

36 Vgl. Bergmann [1981], 21: „Entscheidend ist also, mögliche Untersuchungsphänomene nicht einfach über eine Liste von im vorhinein feststehenden Fragen zu lokalisieren, sondern sich vom Untersuchungsmaterial selbst vor-geben zu lassen und durch genaue Beobachtung einzuholen.“

37 Henne/Rehbock [1995], 30: 1. persönliche Unterhaltung, 2. Feier-, Biertisch-, Thekengespräche, 3. Spielgesprä-che, 4. Werkstatt-, Labor-, FeldgespräSpielgesprä-che, 5. Kauf- und VerkaufsgespräSpielgesprä-che, 6. Kolloquien, Konferenzen, Diskus-sionen, 7. Mediengespräche, Interviews, 8. Unterrichtsgespräche, 9. Beratungsgespräche, 10. Amtsgespräche, und 11. Gerichtsgespräche. Diese Liste, die auf Vorarbeiten der Freiburger Schule beruht, bezeichnen Hen-ne/Rehbock selbst als unvollständig, doch erwecken die weiteren Ausführungen den Eindruck, als hielten sie die elf von ihnen angenommenen Gesprächsbereiche doch für ausreichend.

38 Henne/Rehbock [1995], 30.

Als solide Basis für die postulierten Gesprächsbereichen setzen H/R ein „kommunikativ-pragmatisches Kategorieninventar“39, was in recht unsystematischer und teilweise schwer nach-vollziehbarer Weise Parameter aus Gesprächstyp, Gesprächssituation und sozialem Verhältnis der Gesprächspartner kombiniert. Einige der Kriterien scheinen sinnvoll, andere sollten jedoch keine Berücksichtigung finden. So z.B. ist Punkt 5., das soziale Verhältnis der Gesprächspartner zueinander, von äußerster Bedeutung für das Gesprächsverhalten. Punkt 3., die Konstellation der Gesprächspartner, ist eher von sekundärer Bedeutung40, zumal die Festlegung unter zwei Ge-sichtspunkten geschehen kann: Einerseits kann ganz einfach als Grundlage gelten, wieviele Per-sonen bei dem Gespräch anwesend sind, andererseits, wieviele PerPer-sonen aktiv daran teilnehmen.

Natürlich würde niemand behaupten, dass eine große Gruppe von Zuhörern das Sprechverhalten einer kleinen, aktiv in ein Gespräch verwickelten Personenenzahl nicht beeinflussen würde. Ge-rade diese Konstellation ist ja ein wesentlicher Zug von Talkshows oder Podiumsdiskussionen.

Sinnvoll ist in diesem Falle also die zusätzliche Trennung in aktive und passive Gesprächsteil-nehmer.41 B. Techtmeier setzt genau an diesem Punkt ihre Kritik an, indem sie darauf hinweist, dass „Wesentliches und weniger Wesentliches undifferenziert in ein Kategorieninventar“ ge-presst würde und „primäre und abgeleitete Kriterien“ so einen „gleichberechtigten Status“ erhiel-ten.42

B/S gehen dem Problem der Gesprächsbereichsklassifizierung aus dem Wege, indem sie nach kurzer Kritik an H/R43 beschließen, dass am sinnvollsten nur ein einziges „übergeordnetes Krite-rium“ als „hierarchisch strukturierte Typologisierungsbasis“ zur Anwendung gelangen sollte.

Dieser Vorschlag wurzelt in einem früheren Vorschlag Brinkers in Bezug auf ‘monologische’

Texte – also Textsorten.44 Die Frage sei erlaubt, ob sich eine für unidirektionale Texte konzipier-te Typologie überhaupt auf Gespräche übertragen lässt.45 Gerade eines der grundlegenden Merk-male der Gesprächsanalyse, die Dialogizität, wird doch dort gar nicht berücksichtigt.

39 Henne/Rehbock [1995], 31f. 1. Gesprächsgattungen: 1.1. natürlich, 1.1.1. natürlich spontan, 1.1.2. natürlich ar-rangiert, 1.2. fiktiv/fiktional, 1.2.1. fiktiv, 1.2.2. fiktional, 1.3 inszeniert; 2. Raum-Zeit-Verhältnis (situationeller Kontext): 2.1. Nahkommunikation: zeitlich simultan und räumlich nah (face-to-face), 2.2. Fernkommunikation:

zeitlich simultan und räumlich fern: Telefongespräche; 3. Konstellation der Gesprächspartner: 3.1. interpersona-les dyadisches Gespräch, 3.2. Gruppengespräch, 3.2.1. in Kleingruppen, 3.2.2. in Großgruppen; 4. Grad der Öf-fentlichkeit: 4.1. privat, 4.2. nicht öffentlich, 4.3. halb öffentlich, 4.4. öffentlich; 5. Soziales Verhältnis der Ge-sprächspartner: 5.1. symmetrisches Verhältnis,5.2. asymmetrisches Verhältnis, 5.2.1. anthropologisch bedingt, 5.2.2. soziokulturell bedingt, 5.2.3. fachlich oder sachlich bedingt, 5.2.4. gesprächstrukturell bedingt; 6. Hand-lungsdimensionen des Gesprächs: 6.1. direktiv, 6.2. narrativ, 6.3. diskursiv, 6.3.1. alltäglich, 6.3.2. wissenschaft-lich; 7. Bekanntheitsgrad der Gesprächspartner: 7.1. vertraut, 7.2. befreundet, gut bekannt, 7.3. bekannt, 7.4.

flüchtig bekannt, 7.5. unbekannt; 8. Grad der Vorbereitetheit der Gesprächspartner: 8.1. nicht vorbereitet, 8.2.

routiniert vorbereitet, 8.3. speziell vorbereitet; 9. Themafixiertheit des Gesprächs: 9.1. nicht themafixiert, 9.2.

themabereichfixiert, 9.3. speziell themafixiert; 10. Verhältnis von Kommunikation und nichtsprachlichen Hand-lungen: 10.1. empraktisch; 10.2. apraktisch.

40 Vgl. Techtmeier [1984], 54.

41 Hier kann man natürlich vom Hundertsten ins Tausendste kommen, denn – um bei diesem Beispiel zu bleiben, es ist in vielen Talkshows ja usus, ‘Fragen ans Publikum’ zu stellen. Vgl. Hess-Lüttich [1989], insbes. 181-184.

42 Techtmeier [1984], 53f.

43 Brinker/Sager [1989], 111f., in Anschluss an Techtmeier.

44 Brinker [1988], 118ff., 125.

45 Hierzu Hundsnurscher [1994], 223ff.

Ausgehend von der Textfunktion unterscheidet Brinker zwischen Informationstexten, Apelltex-ten, ObligationstexApelltex-ten, Kontakttexten und Deklarationstexten.46 Zur weiteren Subklassifizierung bietet er zwei „Kriteriengruppen“ an, nämlich die des Kontextes und die der Struktur.47 Ich möchte an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen, doch lässt sich in diesem Zusammenhang bemerken, dass – obwohl der Blickwinkel ‘Funktion’, unter welchem die Klassifizierung statt-findet, vielleicht besser gewählt ist als der von H/R – letztendlich für die Analyse von dialogi-schen Texten nicht viel gewonnen ist.48 Zu befürchten ist, dass bei der Analyse von Texten aus unterschiedlichen Gesprächsbereichen oder sogar innerhalb eines Gesprächsbereiches aufgrund des wissenschaftlichen Anspruches der größtmöglichen Beschreibungsgenauigkeit dasselbe Di-lemma entsteht, mit dem H/R konfrontiert waren: Wenn möglichst viele relevante Faktoren be-rücksichtigt werden sollen, endet man leicht in einem unüberschaubaren Wust aus Subkategorien und Zusatzbedingungen bzw. -parametern. In diesem Zusammenhang finden sich bei Ehlich inte-ressante Überlegungen zur Texttypologie, die einige Aspekte der hier vorangehenden Diskussion zusammenfassen.49 In der Literatur zur Entwicklung von Kommunikationstypologien stellt Eh-lich generell eine mangelnde Beziehung „zwischen Theorie und Phänomenbereich“ fest:

Die Erstellung von Klassifikationen und Typologien ist weitgehend abgelöst von der sprachlichen Wirklichkeit. Ihnen fehlt häufig eine tatsächliche Grundlage in den Phänomenen. Damit fehlen ihnen aber auch die Bedingungen der Möglichkeit für eine sinnvolle Empirie.50

Nach der längeren Betrachtung von Klassifikationssystemen in anderen Wissenschaftszweigen stellt Ehlich 11 grundlegende Thesen für die Entwicklung einer Kommunikationstypologie auf, deren wichtigste ich hier verkürzt wiedergebe:

1. Die Entwicklung von Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns hat die Aufgabe, die Formbe-stimmtheit dieses Handelns selbst zu rekonstruieren.

2. Kategorien für die Analyse des sprachlichen Handelns“ müssen aus dem sprachlichen Handeln selbst entwickelt werden anstelle sie diesem „sozusagen ‘vorzukonstruieren’.

5. Das Verständnis des sprachlichen Handelns hat seinen systematischen Ausgangspunkt in der Kategorie des gesell-schaftlichen Zweckes. Dieser steuert die Struktur der Formbestimmtheit sprachlichen Handelns.

6. Die Formbestimmtheit des sprachlichen Handelns ist nicht plan in die sprachlichen Einzelformen abgebildet. Eine Theorie des sprachlichen Handelns hat ihre Aufgabe in der Rekonstruktion seiner Komplexität und nicht in der Reduktion nach der Analogie mathematischer und physikalischer Wissenschaft.

46 Ich zitiere die 3. Aufl.: Brinker [1992], 133.

47 Brinker [1992], 133ff.

48 Wohin würde z.B. ein Verkaufsgespräch gehören? Vgl. dazu Hundsnurscher [1994], 224. Dies Problem erkennen Brinker/Sager [1989], 113, unter dem Verweis auch an, dass die Linguistik „von der Aufstellung einer in sich stimmigen Gesprächstypologie [...] noch weit entfernt“ sei, und retten sich in die Annahme, dass „für die Analyse konkreter Gespräche [...] eine solche [Gesprächsbereichs-] Typologie auch nicht unbedingt notwendig“ sei; viel-mehr genüge es, „den sozialen und situativen Kontext des jeweiligen Gesprächs [...] sowie die übergeordnete Funktion [...] zu bestimmen, die das Gespräch in diesem Rahmen erfüllt bzw. erfüllen soll.“

49 Ehlich [1986].

50 Ehlich [1986], 56f.

11. Die Entwicklung von Klassifikationen und Typologien des sprachlichen Handelns ist nicht abstrakt, sondern nur in einem Wechselprozess von Empirie mit linguistischer Theoriebildung möglich.51

Die letzte These birgt sowohl viel Wahrheit in sich, als sie auch ein schönes ‘Hintertürchen’ aus dem Dilemma öffnet, indem sie die Typologie zwischen Empirie und Theoriebildung hin und her pendeln lässt. An dieser Stelle möchte ich deshalb lieber auf den Gesprächszweck, oder vielleicht genauer, die Funktion eingehen. Hundsnurscher bezweifelt m.E. zu Recht, „ob die Betrachtung vom Handlungszweck her allen Kommunikationsformen gerecht wird.“52 Prinzipiell sinnvoll scheint die von ihm vorgeschlagene „Globaltaxonomie“53:

Abb. 4.6: Dialogtaxonomie nach Hundsnurscher

Die Annahme dreier unterschiedlich akzentuierter Dialogarten54 erlaubt die Gestaltung unter-schiedlicher Typologien. Für kommunikationszweckorientierte Dialoge etwa gelte dann,

dass es durchaus zielgerichtete Gespräche (purposeful dialogues) gibt, wie sich anhand von Wegaus-künften, Beratungsgesprächen, Verhandlungen, Bekehrungsgesprächen usw. zeigen lässt, d.h. anhand von Kommunikationsformen, die durch bestimmte kommunikative Ziele charakterisiert sind, auf die die Gesprächspartner hinsteuern, wenn sie sich auf ein solches Gespräch einlassen.55

Selbst bei von einem bestimmten Zweck oder einer Funktion dominierten Gesprächen können innerhalb des Gesprächshandlungsrahmens „auch anders profilierte Gespräche ihren Ort ha-ben“:56

Die Subsumierung beliebiger Gesprächsformen unter einer nach einheitlichen Kriterien angelegten Di-alog-Typologie stößt auch deswegen auf einige Schwierigkeiten, weil manche Gespräche von ziemlich komplexer interner Struktur sind. So ist es zwar möglich, von einem Planungsgespräch, einem Kaufge-spräch, einem BekehrungsgeKaufge-spräch, einem BeratungsgeKaufge-spräch, einem Unterweisungsgespräch usw. als je verschiedenen Gesprächstypen (bei zwei Gesprächspartnern: Dialogtypen) zu reden und sie auf-grund ihres übergeordneten Handlungszwecks und der zuauf-grundeliegenden Interessenlage dem oben entwickelten Schema des Sprechhandlungsansatzes zuzuordnen. Bei näherer Untersuchung kann man

51 Ehlich [1986], 67ff.

52 Hundsnurscher [1994], 224.

53 Hundsnurscher [1994], 225.

54 Zu den beziehungsgestaltenden Gesprächstypen vgl. Adamzik [1994], 369f., 371ff.; Adamzik [1984], 128, 140, 143-178. Vgl. auch unten Abschnitt 6.2.4.

55 Hundsnurscher [1994], 224.

56 Hundsnurscher [1994], 226.

Dialoge

kommunikationszweckorientierte Dialoge

beziehungsgestaltende Dia-loge

handlungsbegleitende Dia-loge

allerdings zu der Auffassung gelangen, dass es sich hier um kombinatorische Muster handelt, die sich aus verschiedenen ‘einfachen Dialogmustern’ zusammensetzen.57

Dazu kommt, dass Menschen sich im Gespräch eben nicht ‘wie auf Schienen bewegen’, sondern ganz im Gegenteil im abgesteckten Rahmen häufig relativ frei agieren:

Indem sie sich in ihrem Verhalten der ‘Gesprächsmaschine’ bedienen, setzen sie zwar bestimmte Strukturzwänge in Kraft, denen sie dann selbst und natürlich auch ihre jeweiligen Interaktionspartner unterworfen sind. [...] Doch der tatsächliche Gesprächsverlauf wird nicht allein dadurch bestimmt, was in der Interaktion an Strukturzwängen aufgebaut wurde und aufgebaut wird, sondern auch durch das, was die Interagierenden jeweils aus diesen Strukturbedingungen machen.58

Ferner lässt sich beobachten, dass keineswegs eine bestimmte Sprechhandlung immer die gleiche Reaktion hervorruft, sondern vielmehr in Abhängigkeit einer Vielzahl von Parametern ganz un-terschiedliche Reaktionen erfolgen können.59 Was ist also zu tun?

Fest steht, dass im Rahmen dieser Arbeit auf keinen Fall eine Typologie gefunden werden kann, die den hier diskutierten Ansprüchen genügen könnte. Es steht aber auch fest, dass bestimmte ty-pisierende Angaben zu den Gesprächen der Teil-Korpora unabdingbar sind, um fehlerhafte Schlüsse aus angestellten Beobachtungen zu vermeiden. Ich nehme deshalb ganz ‘pragmatisch’

eine mir als hilfreich scheinende Menge von Parametern an.

4.1.3.2 Gesprächstypologie in dieser Arbeit

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