• Keine Ergebnisse gefunden

Das Konstrukt Lebensqualität wird in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten untersucht. Wäh-rend sich die Ökonomie und die Sozialindikatorenforschung mit objektiven Merkmalen von Lebens-qualität befassen, untersucht die psychologische Forschung unter dem Begriff Wohlbefinden die sub-jektiven Aspekte von Lebensqualität. In der Psychiatrie wird Lebensqualität in erster Linie als Evalua-tionskriterium psychiatrischer Behandlung und Versorgung verwendet, wobei sich die Bezugnahme sowohl auf Theorie und Forschung zu Sozialindikatoren wie auch zu subjektivem Wohlbefinden in engen Grenzen hält. In all diesen Disziplinen wird subjektive Lebensqualität als subjektive Einschät-zung der eigenen Lebensumstände und -situation verstanden.

Die subjektive Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen erlangte im sozialpsychi-atrischen Kontext im Zusammenhang mit der partiellen Verlagerung der psychisozialpsychi-atrischen Versorgung von stationären zu ambulanten und gemeindenahen Strukturen deshalb grosse Bedeutung, weil die ambulante Versorgung und Behandlung in der Gemeinde nicht nur eine Verminderung der psychiatri-schen Symptomatik, sondern eine Verbesserung verschiedenster Lebensbereiche anstrebte. Obwohl in den in diesem Zusammenhang entstandenen Studien unterschiedlichste Definitionen, Konzepte und Messinstrumente verwendet wurden und viele Befunde sich widersprechen, lassen sich folgende kon-sistente Ergebnisse zusammenfassen:

Kaum Zusammenhänge zwischen objektiven Lebensumständen und subjektiver Lebensqualität:

Auch Menschen, die unter objektiv deprivierten Umständen leben, weisen eine relativ hohe subjektive Lebensqualität auf. Dies gilt sowohl für die Allgemeinbevölkerung wie auch für Menschen mit psychischen Erkrankungen.

Kein Einfluss der soziodemografischer Variablen Geschlecht, Alter und Bildung. Bezüglich des Stellenwerts der finanziellen Situation bzw. des Einkommens sind die Befunde wider-sprüchlich.

 Positiver Einfluss einer Erwerbstätigkeit: Eine Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Ar-beitsmarkt beeinflusst die subjektive Lebensqualität stärker als die Arbeit in geschütztem Rahmen oder andere arbeitsähnliche Tätigkeiten.

 Positiver Einfluss sozialer Beziehungen: Die Resultate bezüglich struktureller Merkmale wie der Grösse des sozialen Netzes u.Ä. sind widersprüchlich. Freundschaften wirken sich positiv auf die Lebensqualität aus. Besonders stark hängt die wahrgenommene soziale Unterstützung mit der Lebensqualität zusammen.

Psychosoziale Belastungen: Der Einfluss von negativen Lebensereignissen auf die subjektive Lebensqualität wurde kaum empirisch untersucht. Hingegen ist erwiesen, dass negative Le-bensereignisse das Auftreten depressiver Symptome erhöht, die wiederum die Lebensqualität negativ beeinflussen (s.u.). Negative gesellschaftliche Stereotypen beeinflussen die Lebens-qualität psychisch erkrankter Menschen insofern, als diese sich derer bewusst sind und des-halb erwarten, stigmatisiert, diskriminiert und ausgegrenzt zu werden. Diese wahrgenommene Stigmatisierung verringert die subjektive Lebensqualität, ebenso eine auf Verheimlichung und Rückzug ausgerichtete Einstellung über den Umgang mit der Stigmatisierung (Stigma-Coping). Hierbei spielt das Selbstwertgefühl eine entscheidende Rolle, da es den Effekt modi-fiziert. Der Einfluss konkreter stigmatisierender Erfahrungen und Erlebnisse hingegen ist nicht konsistent belegt.

 Deutlicher Einfluss eines positiven Selbstkonzepts: Belegt ist vor allem ein Effekt des Selbst-wertes und kognitiver Überzeugungen wie Selbstwirksamkeit und Kontrollgefühl. Ein schlechtes Selbstwertgefühl ist eng verknüpft mit depressiver Symptomatik.

 Deutlicher Einfluss von depressiven und Angstsymptomen, Einfluss der momentanen Stim-mung: Bei diesem unter dem Begriff „affective fallacy“ diskutierten Phänomen handelt es sich um einen der konsistentesten Befunde. Bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis beeinflussen zudem Positiv- und Negativsymptome die Lebensqualität. Weitere klinische Ein-flussfaktoren sind die subjektive Symptombelastung, der Schweregrad der Symptomatik und Nebenwirkungen von Psychopharmaka. Widersprüchliche Befunde bestehen hinsichtlich der Diagnose, der Erkrankungsdauer und neurokognitiver Defizite sowie in Bezug auf die Inan-spruchnahme. Hingegen hat die subjektive Beurteilung der Behandlungsqualität bzw. die so bezeichneten „unmet needs“ einen Einfluss auf die Lebensqualität.

Wenig Veränderungen subjektiver Lebensqualität über die Zeit: In Längsschnittstudien zeigen sich eine relativ hohe Stabilität der Lebensqualität bzw. wenig Veränderungen. Daneben gibt es aber auch noch einen instabilen Anteil, was sich im Einfluss der momentanen Stimmung und dem engen Zusammenhang zwischen der Verbesserung depressiver Symptome und einer Erhöhung der Lebensqualität zeigt. Die hohe Stabilität der Lebensqualität relativiert sich je-doch, wenn berücksichtigt wird, dass meist die durchschnittliche Veränderung über die Zeit

untersucht wird. Auf der individuellen Ebene zeigt sich, dass sich im Längsschnitt bei einigen Personen die Lebensqualität verbessert, sich bei anderen verschlechtert oder gleich bleibt.

Qualitative Forschung zu Lebensqualität und Recovery: Studien, in denen anhand von qualita-tiven Interviews ein Zugang zu persönlichen und sozialen Erfahrungen und subjekqualita-tiven Be-deutungen im Zusammenhang mit subjektivem Wohlbefinden und Lebensqualität gesucht wird, finden über die Befunde der quantitativen Forschung hinausgehende Aspekte: so scheint für die Betroffenen ein Gefühl von Hoffnung, Sinnhaftigkeit, persönlichem Wachstum und Entwicklung zentral für ihr Befinden und den Umgang mit der Erkrankung zu sein. Darüber hinaus spielt im Zusammenhang mit der Bewältigung psychische Stabilität für die Betroffenen eine wichtige Rolle. Die Integration der Erkrankung ins Selbstbild ist teilweise schwierig, da gewisse Symptome, das Angewiesensein auf Medikamente sowie deren Nebenwirkungen als stark beeinträchtigend erlebt werden. Ebenso wird die gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung als Belastung empfunden, während positive soziale Beziehungen insbesondere zu Freunden, aber auch zu Fachleuten, als hilfreich, stützend und der Lebensqualität und Be-wältigung förderlich erfahren werden. Schliesslich bezeichnen die Betroffenen das Erleben von Kompetenz, wie es vor allem an einer Arbeitsstelle erlebt wird, als zentral für ihre Le-bensqualität.

Die Forschung zur subjektiven Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen ist durch eine unübersichtliche Anzahl an Studien gekennzeichnet. In Bezug auf mögliche Einflussfaktoren fällt auf, dass diese auf sehr unterschiedliche psychologische und soziologische Theorien und Konzepte verweisen, diese in den Studien aber selten explizit gemacht werden. Dazu gehören vor allem Stress-theorien, Bewältigungs- und Ressourcen-Konzepte, die „Modified-Labeling-Theorie“, Theorien zum Selbstkonzept und zu Recovery. Zur Lebensqualität von psychisch erkrankten Menschen besteht je-doch keine verbindliche Theorie, sondern allenfalls konzeptuelle Modelle (Taillefer et al., 2003), wäh-rend sich psychologische Modelle auf unterschiedlich benannte Konstrukte wie Wohlbefinden oder Glück beziehen. Dies wirft die Frage auf, was denn eigentlich in diesen Studien gemessen wird. In einigen Instrumenten wird die Zufriedenheit mit verschiedenen Lebensbereichen wie Familie, Freizeit, Arbeit, Gesundheit erfragt und zu einem Mittelwert oder bereichsspezifischen Werten aggregiert. In anderen Studien wird die Lebensqualität mittels einer einzigen Frage erhoben, die von Diener (1984) als valider Indikator für die Lebensqualität bezeichnet wird, nämlich „Wie empfinden Sie Ihr Leben gesamthaft?“16. Wiederum andere Instrumente kombinieren diese beiden Ansätze und messen – in Anlehnung an Lehmans Modell (1983a, b; vgl. 2.4) – sowohl die Zufriedenheit in bestimmten Berei-chen wie auch das globale Wohlbefinden. Daneben existieren Instrumente, die auf die

16 „How do you feel about your life as a whole?“ Interessanterweise bezeichnet Diener (1984) diese Frage, deren Wortlaut eher auf die affektive Komponente von Wohlbefinden ausgerichtet ist, als validesten Indikator für die kognitive Bewertung des Wohlbefindens.

zogene Lebensqualität fokussieren und neben Fragen zur allgemeinen Lebenszufriedenheit vor allem krankheitsspezifische Beeinträchtigungen und Symptome erfassen (Gladis et al., 1999).

Je nachdem, wie das Konstrukt gemessen wird, ergeben sich andere Einflussfaktoren. Hinzu kommt, dass die sozialpsychiatrischen Studien entweder spezifische oder aber gemischte diagnostische Grup-pen in unterschiedlichsten Behandlungssettings untersuchen, was die Vergleichbarkeit stark erschwert.

In den vorhergehenden Kapiteln war abwechslungsweise von „Einflussfaktoren“, „Zusammenhän-gen“, „Prädiktoren“ oder „Aspekten“ von Lebensqualität die Rede, was wiederum die Heterogenität der Konzeptualisierungen und insbesondere der Messmethoden und Untersuchungsdesigns widerspie-gelt. Ein Interpretationsproblem ergibt sich zudem aus der Tatsache, dass die meisten der erwähnten Studien die Zusammenhänge zwischen subjektiver Lebensqualität und anderen Konstrukten im Quer-schnitt erfassen und somit die vermeintlichen Prädiktoren keineswegs als kausal oder zeitlich vorher-gehend interpretiert werden können.

Diese Befunde werfen grundsätzliche Fragen auf: Wenn die subjektive Lebensqualität als Einschät-zung der eigenen Lebensumstände definiert wird, weshalb ist dann empirisch kein Zusammenhang festzustellen? Wenn depressive Symptomatik, Selbstwert und subjektiv wahrgenommene soziale Un-terstützung so eng mit Lebensqualität verknüpft sind, wie gut ist dann die divergente Validität des Konstruktes bzw. der verschiedenen Konstrukte? Wenn die Veränderungssensitivität so gering ist bzw. Veränderungen stark mit der depressiven Symptomatik zusammenhängen, wie tauglich ist dann das Konstrukt Lebensqualität als Evaluationskriterium? Wie kommt die Einschätzung überhaupt zu-stande?

Die aus der Sicht vieler Forschender mangelhafte Beantwortung dieser Fragen hat in den letzten Jah-ren vor allem im deutschsprachigen Raum zu fundamentaler Kritik an der Verwendung von subjekti-ver Lebensqualität als Evaluationskriterium in der sozialpsychiatrischen Versorgungsforschung ge-führt. Den Stand des wissenschaftlichen Diskurses fasse ich im nächsten Abschnitt zusammen, um in einem weiteren Kapitel anhand eines konzeptuellen Modells aufzuzeigen, dass der kritisierte Mangel an theoretischen Konzepten eher in einer bisher nicht ausreichenden disziplinübergreifenden Betrach-tungsweise als in einem tatsächlichen Fehlen solcher Konzepte begründet ist.

4 Konzeptuelle Modelle und theoretische Ansätze zur subjektiven Lebensqualität