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10.5.1 Eignung von subjektiver Lebensqualität als Evaluationskriterium

Die Implementierung von subjektiver Lebensqualität als Evaluationskriterium in der psychiatrischen Behandlungs- und Versorgungsforschung stand in einem Zusammenhang mit der Deinstitutionalisie-rung stand und hatte zwei zentrale Ziele (vgl. Kap. 2.3). Unter der Perspektive eines „ganzheitlichen“

Gesundheitsverständnisses (Baker & Intagliata, 1982) sollte durch die Messung subjektiver Lebens-qualität der Erfolg bzw. die Qualität sozialpsychiatrischer Versorgungsstrukturen und Behandlungs-formen die Gesamtheit der Rehabilitationsbereiche mittels eines einzelnen Indikators gemessen wer-den. Darüber hinaus sollte die Perspektive der Patientinnen und Patienten, ihre subjektive Beurteilung der Behandlung, in die Evaluation mit einfliessen (Malm et al., 1981). In der Begrifflichkeit von And-rews und Whitey (1976) wurden also Bereiche der subjektiven Lebensqualität – z.B. Arbeit, soziale Beziehungen u.Ä. – wie auch Kriterien – persönliche Werte, Wünsche, Erwartungen und der Bewer-tungsstil – gleichzeitig mittels desselben Konstrukts erhoben. Hierbei wurde davon ausgegangen, dass die Zufriedenheitsbeurteilung der verschiedenen Bereiche diese Kriterien enthält, dass also mit der Messung der Zufriedenheit der Unterschied oder eben „gap“ zwischen der realen Ausprägung der Bereiche und diesbezüglichen Wünschen und Erwartungen abgebildet wird. Allerdings blieben solche Annahmen implizit. Diese unzureichende konzeptuelle Differenzierung und daraus folgende fehlende

85 Dabei handelt es sich in der vorliegenden Untersuchung nicht um eine vollständige Übereinstimmung, insbe-sondere da im quantitativen Teil zu gewissen Lebensbereichen keine Variablen erhoben wurden (z.B. Freizeit).

Anhaltspunkte zur Interpretation der Forschungsergebnisse führten dazu, dass entweder Menschen mit psychischen Erkrankungen die Fähigkeit, ihre Lebensqualität zu beurteilen, abgesprochen wurde (At-kinson et al., 1997) oder aber das Konstrukt „subjektive Lebensqualität“ als ungeeignet hinsichtlich des angestrebten Ziels der Evaluation erachtet wurde (Kilian & Pukrop, 2006; Pukrop, 2003).

Die vorliegende Arbeit, in der ich versuchte, durch den Einbezug theoretischer Konzeptualisierungen aus der psychologischen Wohlbefindensforschung und den Zugang über die Methodentriangulation (vgl. 10.4.2) einen vertieften Einblick in die fraglichen Phänomene zu erlangen, verweist darauf, dass die skizzierten Probleme auf zwei Ebenen anzusiedeln sind. Die erste Ebene betrifft die Erhebung von subjektiver Lebensqualität an Gruppen von Personen. Dadurch, dass ein Teil der Befragten mit einem Bereich zufrieden ist, ein anderer Teil jedoch nicht, ergibt sich in quantitativen Analysen im statisti-schen Durchschnitt kein Einfluss eines bestimmten Bereichs. Dasselbe gilt in Bezug auf die Verände-rung der subjektiven Lebensqualität. So konnten verschiedene Längsschnittuntersuchungen (Ruggeri et al., 2004; Welham et al., 2001) zeigen, dass sich diese im Schnitt über den beobachteten Zeitraum nicht veränderte, auf der individuellen Ebene aber bei einem Teil der Befragten zunahm, sich bei ei-nem anderen Teil verschlechterte oder gleich blieb (vgl. hierzu auch Rogosa, 1995), was natürlich für die Evaluation einer Intervention von Bedeutung wäre. Die Resultate des qualitativen Untersuchungs-teils wie auch die Studien aus der Recovery-Forschung (vgl. 3.8.2), zeigen zudem, dass die Lebensbe-reiche, die erfasst werden, für die einzelnen Personen unterschiedliche Bedeutungen bzw. einzelne Bereiche für einige Personen kaum eine Bedeutung haben – eine Tatsache, die in den Instrumenten zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität und bei Untersuchungen, die Personengruppen86 fokussie-ren, kaum berücksichtigt wird.

Die zweite Ebene betrifft das Individuum. Wie ich in den vorhergehenden Kapiteln herausgearbeitet habe, führen hier Anpassungsprozesse zu einer stetigen Veränderung der Bewertungskriterien der eigenen Lebenssituation bzw. Lebensqualität, die geprägt sind von persönlichen Wünschen und Er-wartungen. In der Forschung zur subjektiven Lebensqualität zeigen sich diese Anpassungsprozesse einerseits im Phänomen der „relativen Deprivation“ und dem „disability paradox“ (vgl. Kap. 3.1), andererseits lässt sich auch die fehlende Veränderung der Lebensqualität über längere Zeiträume – und somit auch die kritisierte mangelnde Veränderungssensitivität der Instrumente – darauf zurückführen.

Die vorliegende Arbeit erhellt zudem – wie auch die Studien zu Recovery (vgl. 3.8.2) – einen weiteren Aspekt: Obwohl direkte Zusammenhänge zwischen objektiven Lebensumständen und subjektiver Lebensqualität in Untersuchungen an Gruppen fehlen, haben die durch die Lebensqualitätsforschung besonders fokussierten Bereiche, welche verschiedene Aspekte der Lebensumstände erfassen, auf der individuellen Ebene sehr wohl einen Einfluss auf die subjektive Lebensqualität, nur ist eben deren Bedeutung „personal and idiosyncratic“ (Corring & Cook, 2007; S. 242). Versuche, solche individuel-len Unterschiede mittels spezifischer Messmethoden quantitativ zu erfassen, wurden bisher als nicht sehr erfolgreich bewertet (Trauer & Mackinnon, 2001). So birgt die Gewichtung einzelner

86 Diagnosegruppen, Patientinnen/Patienten gegenüber Allgemeinbevölkerung etc.

reiche entsprechend dem individuellen Stellenwert (Rating der Wichtigkeit) Probleme hinsichtlich der psychometrischen Eigenschaften der Skalen (ebd., Franz, Meyer & Gallhofer, 1999). Werden subjek-tiv wichtige Lebensbereiche sowie der Wert, anhand dessen die Zufriedenheit beurteilt wird, von Be-fragten selber bestimmt (Joyce, Hickey, McGee & O’Boyle, 2003; Prince & Gerber, 1998), sind nicht nur individuumsübergreifende Aussagen erschwert, sondern es bleibt nach wie vor offen, ob z.B. bei einem hohen Wert die Bedingungen und Erwartungen in diesem Lebensbereich einander entsprechen oder ob die diesbezüglichen Erwartungen angepasst wurden (vgl. Angermeyer & Kilian, 2006).

Diese Überlegungen lassen den Schluss zu, dass die Erfassung von subjektiver Lebensqualität für den Zweck der Evaluation wenig geeignet ist. Dies nicht nur aufgrund der beschriebenen Interpretations-probleme und der fehlenden Validierung von Messinstrumenten, sondern auch dann, wenn ein Instru-ment validiert ist und auf einer theoretischen Konzeptualisierung beruht wie der im quantitativen Un-tersuchungsteil verwendete Fragebogen der WHO. Hingegen ist die Annahme, Menschen mit psychi-schen Erkrankungen seien nicht in der Lage, ihre subjektive Lebensqualität adäquat einzuschätzen, weil persönliche Erwartungen, Wünsche und „mental states“ diese Einschätzungen verzerren würden (Atkinson et al., 1997), nicht haltbar. Gerade diese Erwartungen und Wünsche stellen ein zentrales Element der für die Bewältigung der Erkrankung und das persönliche Wohlbefinden wichtigen Anpas-sungsprozesse dar. In Bezug auf die psychiatrische Rehabilitation im Sinne von Recovery (vgl. 10.2.5) können solche Anpassungs- und Bewältigungsprozesse Folgendes umfassen: das Erarbeiten und An-streben von realistischen Zielen in Bereichen, die den Betroffenen wichtig sind, die Förderung von Autonomie, Selbstwirksamkeit und Kompetenz (Empowerment), die Verarbeitung der Erkrankung und ihrer Folgen, die Förderung von Handlungsfähigkeit und Bewältigungskompetenzen, die ein Le-ben mit und trotz der Erkrankung ermöglichen.

Eine Evaluation von Versorgungs- und Behandlungsstrukturen müsste somit Aspekte von Recovery erfassen und abbilden. Doch wie lassen sich der individuell unterschiedliche Anteil und die Anpas-sungsprozesse messen?

10.5.2 Recovery als alternatives Evaluationskriterium?

Während Recovery als „Vision“ (Anthony, 1993; Corrigan, Giffort, Rashid, Leary & Okeke, 1999) für das Verständnis von psychischen Erkrankung und deren Verlauf schon seit Längerem in der Fachlite-ratur wie auch in der Praxis diskutiert wird, sind empirische Untersuchungen und Ansätze, das Kon-zept zu operationalisieren, bisher relativ spärlich geblieben (ebd.; Resnick et al., 2004).

Ein Blick auf entsprechende Studien zeigt einerseits, dass der qualitative Zugang zu Recovery die Bedingungen der Bewältigung von psychischen Erkrankungen und den Stellenwert von Zukunftsper-spektiven und innerem Wachstum abzubilden vermag (vg. Kap. 3.8.2). Andere Studien wiederum verdeutlichen die Probleme bei der Operationalisierung bzw. Quantifizierung dieses Konzepts. So identifiziert Markowitz (2001) als Komponenten von Recovery psychiatrische Symptome, das Selbst-wertgefühl und „soziales Wohlbefinden“ (Arbeit, Beziehungen, Wohnsituation), und moniert, dass die Zusammenhänge zwischen diesen Komponenten bisher zu wenig erforscht seien. Corrigan et al.

(1999) ermittelten ebenfalls den Selbstwert, Empowerment, die subjektive Lebensqualität, das soziale Netzwerk und Symptome als Einflussfaktoren von Recovery. In der Studie von Noordsy et al. (2002) wurden Hoffnung, Selbstverantwortung und „getting on with life“ als zentrale Aspekte von Recovery erhoben, diese – so die Autoren – können sowohl objektiv wie auch subjektiv erfasst werden.

It remains an empirical question whether objective quantification of hope, taking personal responsability, and ”getting on with life“ will be meaningfully correlated with consumers’ sub-jective experience of recovery (S. 321).

Resnick et al. (2004) definieren den objektiven Aspekt von Recovery als die Abwesenheit jeglicher Erkrankungssymptome (S. 540), während der subjektive Aspekt ein Gefühl der Hoffnung und die Fähigkeit, selber Entscheidungen zu treffen, enthält. Die Autoren (ebd.) kommen zu folgendem Schluss:

Recovery is a complex concept that has multiple factors and correlates (S. 546).

Die Parallelen zu den Problemen im Zusammenhang mit der Verwendung von subjektiver Lebensqua-lität als Evaluationskriterium sind offensichtlich. Im Hinblick auf die Resultate der vorliegenden Ar-beit und weiterer Studien in diesem Bereich (vgl. 3.8.2) ist Recovery als Perspektive und Werthaltung (vgl. 10.2.5.) zwar zu begrüssen, weil dadurch die individuelle Bedeutung verschiedener Lebensberei-che sowie die Wichtigkeit positiver Entwicklungen und Lernprozesse einen grösseren Stellenwert erhalten. Die Hoffnung, dass damit ein „besseres“ Evaluationskriterium gefunden worden wäre, erfüllt das Konzept jedoch nicht.

Ohnehin ist die Erwartung, dass so komplexe und dynamische Phänomene – wie subjektive Lebens-qualität, Wohlbefinden oder Recovery – durch einen einzelnen Wert oder Indikator abzubilden wären, als wenig realistisch zu bewerten. Wie in Kapitel 10.3.4 dargelegt wurde, ist die Erforschung und the-oretische Weiterentwicklung dieser Phänomene als zukünftige Aufgabe einer sozialpsychiatrischen Grundlagenforschung zu verstehen. Der anwendungsorientierten sozialpsychiatrischen Forschung bleibt die Aufgabe, Evaluationskriterien und Instrumente zu entwickeln, die spezifischer auf einzelne Ziele der Behandlung, Rehabilitation und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen ausgerichtet sind. Solche Instrumente existieren bereits für eine ganze Reihe dieser Ziele: Symptomre-duktion und Rückgang der subjektiven Symptombelastung können z.B. mittels der BPRS (Overall &

Gorham, 1962) und SCL-90-R (Franke, 1995) erhoben werden, die Bewältigungsorientierung durch den COPE-Fragebogen (Carver, Scheier & Weintraub, 1989), Behandlungsbedürfnisse mittels dem Camberwell Assessment of Needs (Slade, Phelan, Thornicroft & Parkman, 1996), darüber hinaus be-stehen zahlreiche Instrumente zur Erfassung von Konstrukten wie Selbstwirksamkeit, soziale Fertig-keiten, Zufriedenheit mit der Arbeitssituation – nur um ein paar Beispiele zu nennen. Diese Instrumen-te sind meist gut validiert und die erhobenen WerInstrumen-te lassen sich mit NormwerInstrumen-ten vergleichen (Kilian &

Pukrop, 2006). Im klassischen, an der medizinischen Forschung orientierten Evaluationsdesign des kontrollierten, randomisierten Versuchs erlaubt der Einsatz dieser Instrumente den Vergleich von Gruppen, die eine bestimmte Behandlungsform erhalten oder in einer bestimmten Angebotsstruktur

betreut werden, mit solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. Nur wenige dieser Instrumente beziehen allerdings die subjektive Perspektive der Betroffenen im Sinne ihrer persönlichen Ziele und Wünsche mit ein (z.B. TEXAS, „treatment expectations assessment“; Lauber, 2007, persönliche Mitteilung).

Hieraus erwächst die (Heraus-)Forderung für die Sozialpsychiatrie, Methoden und Instrumente zu entwickeln, welche die Betroffenen als Expertinnen und Experten für ihre Erkrankung einbeziehen (Faulkner & Thomas, 2002)87 und die es erlauben, die Interventionen und Versorgungsstrukturen auch im Hinblick auf individuelle Ziele, Wünsche und Erwartungen zu beurteilen.