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10.1 Übersicht

10.2.4 Psychische Erkrankung

10.2.4.1 Diagnose und Erkrankungssymptome

Die Diagnose einer affektiven Erkrankung und insbesondere die subjektiv eingeschätzte depressive Symptomatik hatten den weitaus stärksten Effekt auf die subjektive Lebensqualität. Die Effekte sind aufgrund des Auswertungsverfahrens als statistisch unabhängig voneinander zu verstehen, was bedeu-tet, dass auch bei Personen mit der Diagnose einer schizophrenen Erkrankung die subjektive Lebens-qualität durch depressive Symptome vermindert war. Depressive Symptome wie Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit, Schuld und Traurigkeit betreffen zum einen den affektiven Zustand, sie beein-flussen aber auch kognitive Prozesse der Beurteilung und Bewertung (vgl. Kap. 3.4 und 3.5.1). Da die Einschätzung der subjektiven Lebensqualität sowohl affektive wie auch kognitive Komponenten ent-hält, ist der Zusammenhang nicht erstaunlich. Die enge Verknüpfung zwischen depressiver Sympto-matik und subjektiver Lebensqualität bestätigt bestehende Befunde (Huppert & Smith, 2001; Kühner, 2002; Ritsner et al., 2003). Da dieser Befund in erster Linie konzeptuelle und methodische Gründe und Implikationen hat, werde ich in den Kapiteln 10.3 und 10.4 näher darauf eingehen.

79 In nachträglichen statistischen Analysen ergab sich jedoch kein Zusammenhang zwischen der Depressivitäts-skala und dem Lebensereignis „Auseinandersetzung“.

In den qualitativen Interviews kam zum Ausdruck, dass – unabhängig von der Diagnose – die psychi-schen Symptome vor allem in exazerbierenden und akuten Erkrankungsphasen als grosse Belastung wahrgenommen wurden. Teilnehmende mit affektiven Erkrankungen80 beschrieben sich eher als grüb-lerische, nachdenkliche Menschen und schilderten vor allem die absolute Hoffnungslosigkeit während akuten depressiven Phasen als schlimm, während Teilnehmende mit einer Schizophrenie-Diagnose ihre Stressanfälligkeit und den Umgang damit als stetige Herausforderung beschrieben. Akute Wahn-symptome wurden ausschliesslich im Zusammenhang mit Klinikeinweisungen erwähnt und von den Betroffenen selbst als nachträglich schwer nachvollziehbar bezeichnet.

10.2.4.2 Inanspruchnahme

Wie in anderen Untersuchungen (Kaiser & Priebe, 1998; Mercier & King, 1994; Ruggeri et al., 2002) zeigte die Inanspruchnahme psychiatrischer Behandlung – im quantitativen Teil der Analyse anhand von Anzahl und Dauer von Hospitalisierungen erfasst – keinen Zusammenhang mit der subjektiven Lebensqualität. Allerdings wurde die Inanspruchnahme ambulanter Angebote nicht erfasst. In den qualitativen Interviews wurde jedoch immer wieder auf Klinikaufenthalte und die Bedeutung professi-oneller Unterstützung Bezug genommen. Letztere wurde von den Befragten sehr unterschiedlich erlebt und bewertet, was sich auch in anderen qualitativen Untersuchungen zeigt (Baer et al., 2003; Corring

& Cook, 2007). Ein Teil der Befragten standen der Psychiatrie und psychiatrischen Fachpersonen skeptisch bis ablehnend gegenüber, während andere eine positive Einstellung hatten und betonten, wie wichtig die professionelle Unterstützung für sie sei. Welcher Art die Unterstützung war und welche Fachpersonen sie betraf, war wiederum sehr individuell und reichte von wöchentlichen psychothera-peutischen Sitzungen über monatliche Besuche bei einer niedergelassenen Psychiaterin oder einem Psychiater, gelegentlichem Aufsuchen des Ambulatoriums oder Kriseninterventionszentrum bis zu langjähriger Betreuung durch den Hausarzt oder die Hausärztin.

Der Bezug der Medikamenteneinnahme zur Lebensqualität zeigte sich im quantitativen und im qualita-tiven Untersuchungsteil, und zwar in dem Sinn, dass Personen, die keine oder wenig Medikamente einnehmen mussten, ihre Lebensqualität höher einschätzen als Personen, die mehrere oder hoch do-sierte Medikamente einnahmen. Dies entspricht den Resultaten von Angermeyer et al. (1999), die herausfanden, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen die Einnahme von weniger Medikamen-ten als zentral für ihre Lebensqualität einschätzen. Naheliegend ist die Erklärung, dass Personen, die mehrere oder hochdosierte Medikamente einnehmen, psychisch stärker beeinträchtigt sind und deshalb ihre Lebensqualität als vermindert bewerten. Anlehnend an Untersuchungen zur Bedeutung medikamentöser Nebenwirkungen (Angermeyer et al., 1999; Awad et al., 1997; Baer et al., 2003;

Browne et al., 1998; Marder, 2005; Ritsner et al., 2002) lässt sich annehmen, dass diese mit der Anzahl eingenommener Medikamente zunehmen und somit auch die Lebensqualität stärker beeinträchtigen. Auch in den qualitativen Interviews berichteten die Befragten von Beeinträchtigungen durch Nebenwirkungen, wobei vor allem Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und

80 Diese Befunde entstammen nicht der systematischen inhaltsanalytischen Auswertung der Interviewtexte, son-dern geben persönliche, während der Interviewgespräche notierte Eindrücke wieder.

gen, wobei vor allem Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Gewichtszunahme als belastend empfunden wurden. Teilweise wurde auch das Angewiesensein auf Medikamente selbst negativ bewer-tet, was eine ambivalente Einstellung gegenüber den Medikamenten zufolge hatte. Andere Befragte wiederum schrieben Medikamenten eine sehr positive Bedeutung zu; in ihren Augen ermöglichten die Medikamente erst das Empfinden einer guten Lebensqualität.

10.2.4.3 Stigmatisierung

Verschiedene Aspekte von Stigmatisierung waren sowohl im quantitativen wie auch im qualitativen Untersuchungsteil mit der subjektiven Lebensqualität verknüpft. Die wahrgenommene Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, d.h. die Überzeugung, dass die „meisten Leute“ (Link et al., 1989) Men-schen mit psychiMen-schen Erkrankungen geringschätzen und ihnen ablehnend oder abwertend begegnen, hatte in den quantitativen Analysen keinen Effekt auf die Lebensqualität. Diese wurde jedoch durch ein defensives Stigma-Coping vermindert. Dies bedeutet, dass die Überzeugung, dass es besser ist, eine psychische Erkrankung zu verschwiegen und dass sich Menschen mit psychischen Erkrankungen eher zurückziehen sollten, mit einer Beeinträchtigung des Wohlbefindens einhergeht (vgl. auch Cor-ring & Cook, 2007). Erklären lässt sich dieser Befund einerseits mit dem Zusammenhang von Stig-mawahrnehmung und Copingorientierung mit dem Selbstwertgefühl und der Selbstwirksamkeit (Cor-ring & Cook, 2007; Markowitz, 1998; Rosenfield, 1997). Der Selbstwert ist wiederum eng mit der subjektiven Lebensqualität verknüpft (ebd.). Andererseits verweist das defensive Stigma-Coping auf eine tendenziell depressive und selbststigmatisierende Verarbeitung der psychischen Erkrankung (Corring & Cook, 2007), die der subjektiven Lebensqualität ebenfalls abträglich sein könnte (vgl.

10.2.4.1).

Auch in den qualitativen Interviews wurde die Wahrnehmung von Stigmatisierung und deren Bewälti-gung durch Verschweigen und Rückzug angesprochen, wenn auch bei Weitem nicht von allen Teil-nehmenden. Dies widerspiegelt die Resultate der Studien von Camp et al. (2002) sowie von Freidl et al. (2003), die aufzeigen konnten, dass die Beeinträchtigung durch und der Umgang mit negativen gesellschaftlichen Stereotypen individuell variiert. In den Interviews wurde – entsprechend der „Modi-fied-Labeling-Theorie“ von Link et al. (1989) – vor allem der Aufenthalt in einer psychiatrischen Kli-nik als jenes Element der Stigmatisierung dargestellt, welches am stärksten die Vorurteile des sozialen Umfelds und der Gesellschaft evoziert und für die Betroffenen dazu führt, dass sie z.B. am Arbeits-platz ihre Erkrankung verschweigen. Verschiedentlich berichteten die befragten Personen von Erfah-rungen mit stigmatisierendem Verhalten anderer, was auch den Befunden der quantitativen Erhebung entspricht (vgl. Kap. 7.2.4). Diese bestanden vor allem daraus, von anderen Personen, insbesondere Freundinnen und Freunden oder Bekannten, gemieden zu werden, was die Betreffenden als verletzend und kränkend beschrieben und was in ihren Augen wiederum zu tendenziellem Rückzug und dem Verschweigen der Erkrankung und des Klinikaufenthalts beitrug.