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psychiatrische Versorgung von der ausschliesslich stationären Behandlung der Patientinnen und Pati-enten in grossen, meist abgelegenen Kliniken in die „Gemeinde“ und ambulante Einrichtungen verla-gert (Forster, 2000; Haug & Rössler, 1999; Katschnig, 2006; Lamb & Bachrach, 2001). Dieser Re-formbewegung und Umstrukturierung, die als „Enthospitalisierung“ und „Deinstitutionalisierung“

bezeichnet wird, lagen einerseits wirtschaftliche Überlegungen im Sinne einer Kostensenkung durch ambulante Versorgungsstrukturen, zugrunde (Prince & Prince, 2001). Andererseits war es ein erklärtes Ziel der Reformen, durch die Behandlung in der Gemeinde sekundäre Begleiterscheinungen

4 In der Gesundheitsökonomie existiert zudem das Konzept der „quality adjusted life years“ (QALY), das An-haltpunkte über Kosten und Nutzen medizinischer Behandlung liefert (Holloway & Carson, 2002; Prince &

Prince, 2001).

5 Erste Psychopharmaka: Chlorpromazin (Neuroleptikum, 1950), Imipramin (trizyklisches Antidepressivum, 1958).

scher Erkrankungen wie soziale und berufliche Desintegration und der Verlust alltagspraktischer Fä-higkeiten zu vermeiden (Kilian & Pukrop, 2006). Die Enthospitalisierung zeitigte jedoch unerwartete Effekte: die entlassenen Patientinnen und Patienten benötigten auch in der Gemeinde intensive Betreuung, da sie von komplexen Problemen – darunter Arbeitslosigkeit, Armut, Stigmatisierung, sozialer Isolation und Problemen bei der Alltagsbewältigung – betroffen waren (Prince & Prince, 2001). Da entsprechende Unterstützungsangebote anfänglich fehlten, gerieten sie zudem häufig in Notlagen wie Obdachlosigkeit, oder die Rückfälle bzw. Wiedereinweisungen in Kliniken folgten sich aufgrund der fehlenden Nachsorge in kurzen Zeitabständen (Herman & Smith, 1989; Kilian & Pukrop, 2006). Dies führte letztendlich dazu, dass viele der „deinstitutionalisierten“ Patientinnen und Patienten langfristig in Wohnheimen betreut wurden, was z.B. Lamb (1981) und später Wilson (1993) zur Kritik veranlasste, die Enthospitalisierung sei tatsächlich eine „Transhospitalisierung“, da sich die Wohn-heime als institutionelle Versorgungsstruktur nicht wesentlich von der stationären Psychiatrie unter-scheiden würden. Die Rahmenbedingungen der gemeindepsychiatrischen Versorgung haben sich heute insofern geändert, als dass es kaum mehr Patientinnen und Patienten gibt, die nach jahre- oder jahr-zehntelangem Aufenthalt in einer Klinik in die Gemeinde zurückkehren und dort leben und betreut werden sollen. Auch heute haben aber Menschen mit psychischen Erkrankungen, die in der Gemeinde leben, weit mehr Schwierigkeiten zu bewältigen als nur die erkrankungsbedingten: so sind die oben genannten psychosozialen und ökonomischen Problemlagen nach wie vor typische Belastungen von Betroffenen (Prince & Prince, 2001).

Die Ziele psychiatrischer Behandlung weiteten sich in diesem Zusammenhang von der Reduktion psychiatrischer Symptome zu einer umfassenden Rehabilitation im gesundheitlichen, sozialen und beruflichen Bereich aus (Rössler & Lauber, 2004). Die Ausgestaltung, Planung und insbesondere Eva-luation eines derart breiten und vielschichtigen Behandlungsansatzes erforderte ein Bewertungskriteri-um, das einerseits dessen Multidimensionalität und andererseits der subjektiven Perspektive der be-handelten Personen Rechung trug (Fabian, 1990). Mit den grundlegenden Arbeiten von Baker und Intagliata (1982) sowie Lehman (Lehman, 1983a, b; Lehman, Ward & Linn, 1982), die die Konzep-tualisierungen und Befunde von Campbell et al. (1976) und Andrews und Whitey (1976) zur Lebens-qualität in der Allgemeinbevölkerung auf Menschen mit psychischen Erkrankungen übertrugen, wurde der Grundstein zur späteren „Erfolgsgeschichte“ des Konstruktes in der Sozialpsychiatrie gelegt. Ba-ker und Intagliata (1982) führen fünf Begründungen auf an, weshalb Lebensqualität ein angemessenes Evaluationskriterium psychiatrischer Behandlung ist:

1. „Comfort rather than cure“: Dieser Begründung liegt die Ansicht zugrunde, dass für viele chronische psychische Erkrankungen keine Heilung erwartet werden könne. Wie auch Lamb (1981; vgl. auch Bachrach & Lamb, 1982) gingen die Autoren davon aus, dass es für Lang-zeitpatientinnen und -patienten unrealistisch sei, ein hohes Niveau der Rehabilitation zu errei-chen. So formulierte Lamb (1981, S. 106) als Rehabilitationsziel: „... and make them feel comfortable living low-energy but satisfying lives in a non-hospital environment“. Im

Hin-blick auf den Empowerment-Ansatz in der Rehabilitation (Rössler & Lauber, 2004) sind sol-che Ansätze heute eindeutig als überholt zu werten, während die folgenden Begründungen auch gegenwärtig von vielen Autoren angeführt werden (Hansson, 2006; Ruggeri, Gater, Bi-soffi, Barbui & Tansella, 2002).

2. Die Komplexität der Versorgung und der Behandlungsziele psychiatrischer Rehabilitation ver-langen nach einem komplexen bzw. multidimensionalen Evaluationskriterium.

3. Die in den 80er Jahren immer wichtiger werdende Kundenzufriedenheit („client satisfaction“, S. 70) erfordert den Einbezug der subjektiven Perspektive.

4. Eine ganzheitliche Perspektive auf psychische Gesundheit und Krankheit, in Anlehnung an das Konzept der WHO (vgl. 2.2), wird auch durch die moderne Psychiatrie vertreten.

5. „Good politics“ (S. 70): Der Einbezug der subjektiven Perspektive entspricht der politischen Korrektheit (vgl. Prince & Prince, 2001).

Die Erfassung der Lebensqualität schien geeignet, über eine verbesserte Symptomatik hinausgehende Veränderungen in zentralen Lebensbereichen wie sozialer und beruflicher Integration u.Ä. abzubilden (Awad et al., 1997; Bigelow, Brodsky, Stewart & Olson, 1982). Die Fokussierung auf die subjektive Lebensqualität sollte zudem den Einbezug des subjektiven Erlebens gewährleisten (Malm, May &

Dencker, 1981; Tempier, Mercier, Leouffre & Caron, 1997). Auch als Behandlungsziel erlangte die Verbesserung der subjektiven Lebensqualität anfangs der 90er Jahre einen erhöhten Stellenwert (Sar-torius, 1992), da deutlich wurde, dass diese die Inanspruchnahme, die Compliance und die Beurteilung der Behandlung sowie die Rehospitalisierungsrate beeinflusst (Hunt & McKenna, 1993; Postrado &

Lehman, 1995).

Heute ist das Konstrukt Lebensqualität in Politik, klinischer Praxis und pharmazeutischer Industrie als Evaluationskriterium akzeptiert (Kilian & Pukrop, 2006). In der sozialpsychiatrischen Forschungstra-dition zur subjektiven Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen entstanden eine Vielzahl von Studien und eine breite Wissensbasis, wobei sich der Forschungsbereich bis heute unab-hängig und relativ unbeeinflusst von der psychologischen Wohlbefindensforschung und der Forschung über Sozialindikatoren entwickelte. Schon Baker und Intagliata (1982) beklagten das Fehlen einer verbindlichen Definition, die Vielzahl der genutzten Messinstrumente, die daraus resultierende einge-schränkte Vergleichbarkeit der Studien sowie einen gravierenden Mangel an Theorie. Interessanter-weise werden gegenwärtig noch immer die gleichen Mängel beanstandet (Pukrop, 2003).

Die folgenden Kapitel verfolgen die Entwicklung des Forschungsfeldes anhand des chronologischen Ablaufs. Da im Rahmen der Verwendung des Konstrukts als Evaluationskriterium psychiatrischer Versorgung und Behandlung theoretische Überlegungen wenig Raum einnahmen, verlief diese Ent-wicklung gewissermassen von der Empirie zur Theorie. Erst gewisse schwer interpretierbare empiri-sche Befunde führten mit der Zeit zu einer verstärkten theoretiempiri-schen und methodiempiri-schen Auseinander-setzung (Fabian, 1990). Aus diesen Gründen werde ich zuerst die wichtigsten empirischen Befunde zu den Einflussfaktoren und Veränderungsprozessen der subjektiven Lebensqualität von Menschen mit

psychischen Erkrankungen zusammenfassen, wobei ich auf den theoretischen Kontext, aus dem die untersuchten Konzepte stammen, Bezug nehme. In einem weiteren Kapitel (vgl. 4) versuche ich, an-hand eines konzeptuellen Modells zur subjektiven Lebensqualität diese Befunde zu klären und das Konstrukt theoretisch zu differenzieren. Die meisten empirischen Untersuchungen beruhen auf einer relativ einfachen Konzeptualisierung von Lebensqualität, die ich im nächsten Abschnitt kurz darstelle.