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10.6.1 Beitrag der Untersuchung zum gegenwärtigen Diskurs 10.6.1.1 Inhaltliche Aspekte

Die vorliegende Arbeit hatte auf der inhaltlichen Ebene zum Ziel, Veränderungen und Einflussfakto-ren der subjektiven Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen über einen Zeitraum von mehreren Jahren zu erfassen. Darüber hinaus sollte die individuelle Bedeutung verschiedener Lebensbereiche für die subjektive Lebensqualität aus der Perspektive der Betroffenen erhoben werden.

Dieser zweifache Ansatz erlaubte es einerseits, die Resultate mit bisherigen Befunden der nomotheti-schen Lebensqualitätsforschung zu verknüpfen, andererseits sollte ein Bezug zu neueren Perspektiven und Konzepten wie Recovery oder Empowerment, welche das subjektive Erleben der Betroffenen in den Vordergrund stellen, geschaffen werden.

Der beobachtete starke Anstieg der subjektiven Lebensqualität zwischen der Erstbefragung der Längs-schnittstudie, die während einer stationären Behandlung der Studienteilnehmenden in einer psychiatri-schen Klinik durchgeführt wurde, und der Zweiterhebung ein Jahr später wurde hauptsächlich auf die Verbesserung des Befindens im Zusammenhang mit der Rückgang der psychopathologischen Sym-ptome zurückgeführt. Zwischen der Zweit- und Drittbefragung veränderte sich die subjektive Lebens-qualität nicht, was angesichts der sich eher verschlechternden Lebensumstände der Studienteilneh-menden, insbesondere der zunehmenden Inanspruchnahme institutioneller Unterstützung, als Anpas-sungsprozess gedeutet werden kann. In den qualitativen Interviews wurde eine Verminderung der subjektiven Lebensqualität einerseits im Zusammenhang mit dem Leiden an den Symptomen und dem Verzicht auf subjektiv wichtige Aktivitäten als Folge der Einschränkungen durch die Erkrankung er-wähnt. Allerdings wurden biografische Lernprozesse und positive Entwicklungen als subjektiv wichti-ge Veränderunwichti-gen wichti-geschildert. Diese ermöglichten in den Auwichti-gen der befragten Personen die Bewälti-gung der Erkrankung und ihrer Folgen und erlaubten eine für die subjektive Lebensqualität zentrale positive Zukunftsperspektive.

Entgegen der pauschalen Schlussfolgerungen vieler bisheriger Studien in diesem Feld, dass die objek-tiven Lebensumstände nur einen schwachen Zusammenhang mit der subjekobjek-tiven Einschätzung der Lebensqualität aufweisen, kommt die vorliegende Arbeit zum Ergebnis, dass verschiedenste Aspekte

87 „consumer led research“ (Faulkner & Thomas, 2002)

der Lebenssituation auf individueller Ebene für die subjektive Lebensqualität zentral sind. So erwiesen sich die Erwerbssituation, das Einkommen, die Gestaltung der Freizeit, die sozialen Beziehungen und die wahrgenommene Unterstützung sowie belastende Lebensereignisse als Einflussfaktoren subjekti-ver Lebensqualität. Die methodische Triangulation erlaubte hier eine wichtige Differenzierung, indem in den qualitativen Interviews deutlich wurde, wie stark sich die subjektive Bedeutung der verschiede-nen Lebensbereiche und der psychischen Erkrankung sowie diesbezügliche Wünsche, Ziele und Er-wartungen zwischen den Teilnehmenden unterschieden.

In Bezug auf die psychiatrische Rehabilitation lässt sich aus den Befunden folgern, dass zusammen mit den Betroffenen Verbesserungen in den genannten Lebensbereichen angestrebt werden sollen, was ja auch seit Beginn der rehabilitativen Praxis wichtiges Zielsetzungen sind. Darüber hinaus implizie-ren die beschriebenen individuellen Unterschiede eine vermehrte Ausrichtung psychiatrischer Rehabi-litationsbestrebungen am Individuum und seinen Wünschen, Erwartungen und Zielen. Neuere Ansätze der Rehabilitation wie Empowerment und Alltags- und Lebensweltorientierung sind insofern als zu-kunftsweisend zu beurteilen. Als besonders zentral ist der Einbezug von Lernprozessen und der Erar-beitung von Zukunftsperspektiven zu werten, weil diese eine aktive Bewältigung und die Anpassung an die Erkrankung und ihre Folgen erleichtern.

10.6.1.2 Konzeptuelle Aspekte

Auf der theoretischen Ebene wurde angestrebt, ein in der Medizin – und analog dazu in der Psychiatrie – hauptsächlich als Evaluationskriterium für die Behandlungsqualität verwendetes Konstrukt aus einer sozialwissenschaftlich orientierten Perspektive zu betrachten, wobei in erster Linie auf die Erkenntnis-se der psychologischen Wohlbefindensforschung Bezug genommen wurde. Durch dieErkenntnis-sen Zugang soll-ten theoriebasierte Erklärungen für bisher schwer interpretierbare Ergebnisse der Lebensqualitätsfor-schung gefunden werden und die Befunde aus den verschiedenen ForLebensqualitätsfor-schungsgebieten aufeinander bezogen werden.

Das als Interpretationshilfe gewählte konzeptuelle Modell, das bisherige Erkenntnisse aus der Wohl-befindensforschung strukturiert und zusammenfasst, ermöglichte diesbezüglich verschiedene Rück-schlüsse. So zeigt das Modell, dass die Zusammenhänge zwischen Lebensumständen und deren Be-wertung als indirekt aufzufassen sind, da individuell variierende Faktoren wie der Selbstwert, kogniti-ve Bewertungsstile, die momentane Stimmung und Persönlichkeitsmerkmale diese Zusammenhänge beeinflussen. Dies erklärt unter anderem den fehlenden empirischen Zusammenhang zwischen objek-tiven Lebensumständen und subjektiver Lebensqualität.

Darüber hinaus ist als zentraler Punkt des Modells die Konzeptualisierung von Anpassungsprozessen zu sehen. Diese bewirken eine stetige Angleichung innerer Bewertungskriterien an die äusseren Gege-benheiten und die wahrgenommenen eigenen Möglichkeiten, was in erster Linie über die Veränderung persönlicher Erwartungen, Wünsche und Ziele geschieht. Anpassung zeigt sich empirisch dadurch, dass Veränderungen äusserer Umstände nur in geringem Mass und unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. subjektiver Stellenwert des veränderten Lebensbereichs) zu einer Veränderung der subjektiven

Lebensqualität führen. Umgekehrt ist – vor allem im Zusammenhang mit der Bewältigung der Erkran-kung – eine aktive Veränderung äusserer Umstände im Hinblick auf Erwartungen und Ziele ebenfalls denkbar. Daraus folgt, dass subjektive Lebensqualität nicht ausschliesslich als „Produkt“, „Ergebnis“

oder „Outcome“ verschiedener anderer – insbesondere psychologischer – Phänomene, sondern selbst als dynamischer Prozess zu konzeptualisieren ist.

Hieraus ergeben sich wichtige neue Forschungsfragen. So bleibt u.a. zu klären, wie diese Anpassungs-prozesse im Einzelnen gestaltet sind, inwiefern sie durch die Symptome einer psychischen Erkrankung beeinflusst werden, und in welcher Weise die Bewältigung und der Umgang mit der Erkrankung damit verknüpft sind. Hier ergeben sich auch Verbindungen zum Recovery-Konzept, welches für eine gelin-gende Bewältigung psychischer Erkrankungen und ihrer Folgen ebenfalls Entwicklungsdynamik und Prozesshaftigkeit in den Vordergrund stellt.

10.6.1.3 Methodische Aspekte

Auf methodischer Ebene wurde versucht, mittels eines komplexen und in diesem Forschungsgebiet bisher kaum verwendeten Auswertungsverfahrens zur Analyse von Längsschnittdaten, der Mehrebe-nenanalyse, den Besonderheiten und typischen Problemen umfangreicher und unbalancierter Daten-sätze gerecht zu werden. Die Daten von 183 Studienteilnehmenden mit der Hauptdiagnose einer Schi-zophrenie oder affektiven Erkrankung, die an mindestens zwei von drei möglichen Erhebungszeit-punkten befragt werden konnten, flossen dabei in die Analyse ein. Daneben wurden 16 Personen mit-tels eines qualitativen Leitfadeninterviews zu ihrer subjektiven Lebensqualität befragt. Der Ansatz der Methodentriangulation, d.h. der Verbindung eines quantitativen und eines qualitativen Zugangs zum Forschungsgegenstand, wurde einerseits gewählt, um die formulierten Fragestellungen mittels je ge-eigneter Methoden zu beantworten. Zudem wurde davon ausgegangen, dass durch allfällige Konver-genzen, Divergenzen und die Komplementarität beider Untersuchungsteile vertiefte Erkenntnis über den Forschungsgegenstand zu gewinnen wären.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass durch den quantitativen Zugang in erster Linie Er-kenntnisse über den Einfluss bestimmter Lebens- und Erlebensbereiche auf die subjektive Lebensqua-lität gewonnen werden können. Der qualitative Zugang hingegen erhellt subjektive Bedeutungszu-sammenhänge und die individuell unterschiedliche Ausprägung von Wünschen, Erwartungen und Zielen.

Die methodische Triangulation erlaubt eine Differenzierung bisheriger Befunde, insbesondere, dass aufgrund von Anpassungsprozessen und dem individuellen Stellenwert einzelner Lebensbereiche die Verwendung eines „Globalkonstrukts“ die Ziele der Evaluation sozialpsychiatrischer Behandlung und Versorgung – z.B. die Überprüfung der Wirksamkeit von Behandlung und Versorgung bezüglich des Wohlbefindens oder der Verbesserung spezifischer Lebensbereiche – nicht zu erfüllen vermag. Hier ist die Entwicklung von spezifischeren Kriterien nötig, welche die Betroffenen als Expertinnen und Experten für ihre Erkrankung einbeziehen und es erlauben, Interventionen und Versorgungsstrukturen

im Hinblick auf individuelle Ziele, Wünsche und Erwartungen sowie der beschriebenen Anpassungsprozesse zu evaluieren.

10.6.3 Kritisch zu hinterfragende Aspekte

Die Studie, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde lag, orientierte sich bezüglich ihrer Frage-stellungen und der erhobenen Variablen in der Tendenz an einer Vorstellung von Lebensqualität, die diese als Ergebnis des Verhältnisses zwischen Ressourcen und Belastungen konzeptualisiert (vgl. Rü-esch et al., 2004). Im Gegensatz dazu steht bei der psychologischen Wohlbefindensforschung, die hier als theoretischer Bezugsrahmen gewählt wurde, die Frage im Vordergrund, wie die Einschätzung der Lebensqualität zustande kommt und welche psychologischen Prozesse hierbei involviert sind. Diese Perspektive erlaubte zwar die Integration neuer konzeptueller Ansätze und die Interpretation inkonsis-tenter Forschungsergebnisse. Andererseits liessen sich aus den Daten selber kaum direkte Schlussfol-gerungen bezüglich dieser Prozesse ableiten, da psychologische Variablen wie Selbstwert, Selbstwirk-samkeit oder Persönlichkeitsmerkmale in der Studie nicht erhoben worden waren. Diesbezügliche Argumentationen und Interpretationen beruhen demnach vollumfänglich auf den Erkenntnissen der psychologischen Wohlbefindensforschung. Die Fokussierung auf psychologische Prozesse führt zu-dem zwangsläufig zu einer Vernachlässigung anderer Aspekte, die im Zusammenhang mit psychi-schen Erkrankungen ebenfalls wichtig sind. So konnten z.B. wichtige soziologische Aspekte wie die gesellschaftliche Exklusion durch Stigmatisierungsprozesse und die Beeinträchtigung gesellschaftli-cher Teilhabe durch sozioökonomische Deprivation nur am Rande berücksichtigt werden. Darüber hinaus können aufgrund der erhobenen Variablen keine Aussagen über den Einfluss biologischer und neurologischer Indikatoren psychischer Erkrankungen, wie z.B. die Beeinträchtigung sozialer Kogni-tionen oder die Informationsverarbeitung, auf die Einschätzung der subjektiven Lebensqualität getrof-fen werden. Dies erschwert die Verknüpfung der Untersuchungsergebnisse mit den gegenwärtig inten-siv diskutierten neurowissenschaftlichen Ansätzen in der (Sozial-)Psychiatrie. Diesbezüglich wäre z.B. die Frage interessant, inwieweit die beschriebenen Anpassungsprozesse mit neurobiologischen Indikatoren bzw. deren Veränderung im Zusammenhang mit der psychischen Erkrankung verknüpft sind.

Auf der anderen Seite wird aber gerade die zunehmende Ausrichtung der Psychiatrie an den Neuro-wissenschaften vehement kritisiert und als unethisch betrachtet, da so die Betroffenen, ihr Wissen und ihre Erfahrungen im Umgang mit der Erkrankung aus der Forschungsagenda ausgeschlossen würden (Faulkner & Thomas, 2002). Hier bietet die vorliegende Arbeit sozusagen eine „Rückbesinnung“ auf die im Zuge der Deinstitutionalisierung wichtig gewordene subjektive Perspektive der Menschen mit psychischen Erkrankungen. Darüber hinaus erlaubt sie die Bezugnahme zu ebenfalls wichtigen aktuel-len Konzepten wie Empowerment und Recovery.