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Die zentralen Kritikpunkte des wissenschaftlichen Diskurses der letzten zehn Jahre beziehen sich auf die Unwissenschaftlichkeit des Lebensqualitätskonstruktes, die sich aus fehlender Theorie, unter-schiedlichen Definitionen und daraus folgender methodischer Probleme ergibt. Folgendes Zitat von Hunt (1997) weist auf die ethische Dimension der Problematik hin, wenn auf der Basis von – aufgrund fehlender theoretischer Anhaltspunkte schwer interpretierbaren – Befunden versorgungs- und behand-lungsbezogene Entscheidungen gefällt werden.

It is the first tenet of any scientific enterprise, where measurement is to be attempted, that the object of measurement be precisely and meaningfully defined and the measuring in-strument be appropriate and valid for the task. Moreover, where decisions may be made on the basis of the results of the applications of the measure, it is essential that consensus ex-ists in the scientific and clinical community in order that all concerned know exactly what is being evaluated and that priorities in medical care are set on a standard basis (Hunt, 1997;

S. 205).

Zwar besteht, wie schon in Kapitel 2.3 beschrieben, eine langjährige Forschungstradition zur subjekti-ven Lebensqualität bzw. wird diese routinemässig zur Erfassung der Perspektive von Patientinnen und Patienten in vielen Studien zu psychiatrischer Versorgung und Behandlung erhoben (vgl. 2.3; Franz, 2006b; Kilian & Pukrop, 2006). Die grosse Mehrheit der Untersuchungen bezieht sich aber nicht auf ein bestimmtes theoretisches Modell, sondern orientiert sich allenfalls an globalen Modellvorstellun-gen und vereinfachten Annahmen wie der, dass subjektive Lebensqualität messbar ist und durch pro-fessionelle Interventionen sowie die Veränderung objektiver Lebensumstände verbessert werden kann (Pukrop, 2003; Kilian & Pukrop, 2006). Die fehlende wissenschaftliche Reflexion hat dazu geführt, dass es gegenwärtig keine empirisch überprüfbare Theorie zur Lebensqualität gibt (Kilian & Pukrop, 2006). Dies ist verbunden mit einer „definitorischen Unbestimmtheit“ (Pukrop, 2003; S. 49) bzw.

zeigt sich darin, dass keine verbindliche Definition des Konstruktes existiert (Awad et al., 1997; Hunt, 1997).

Die Konsequenz daraus ist, dass für die Operationalisierung und Messung der subjektiven Lebensqua-lität keine anerkannten oder verbindlichen Kriterien bestehen (Kilian & Pukrop, 2006; Pukrop, 2003) und unzählige Instrumente ad hoc entwickelt und angewandt wurden (Taillefer et al., 2003). In seiner Kritik erwähnt Pukrop (2003), dass zur Erfassung der subjektiven Lebensqualität über 800 Instrumen-te existieren und folglich ForschungsresultaInstrumen-te und deren InInstrumen-terpretation mitunInstrumen-ter stark davon abhängen, welches Instrument eingesetzt wurde. Problematisch ist dies vor allem in Bezug auf die Gütekriterien der Instrumente und die Interpretation der Ergebnisse ohne theoretische Anhaltspunkte (Angermeyer

& Kilian, 2006; Fakhoury & Priebe, 2002; Holloway & Carson, 2002; Hunt, 1997).

A fundamental problem from an evaluation perspective is that reliability, validity, and stan-dardization of instruments derived from tested theoretical models provide some assurance that what is of interest is, in fact, being measured. Since, to a large extent, instruments are not derived from tested theoretical models, one result may be an apparent lack of change among program recipients in the areas of interest to service providers (Prince & Prince, 2001; S. 1027).

Einige Forschende bemängeln nicht nur das Theoriedefizit, sondern stellen die Validität des Konstruk-tes grundsätzlich in Frage. Beim vermeintlich neuartigen Einbezug der Erlebensperspektive von Pati-entinnen und Patienten analog zur somatischen Medizin handle es sich im psychiatrischen Kontext gar nicht um etwas Neues, da hier die subjektive Perspektive und die Orientierung an der Verbesserung der Alltagsbewältigung, dem psychischen Befinden und der sozialen Integration sowieso ein integraler Bestandteil von Anamnese und therapeutischer Intervention sei (Angermeyer & Kilian, 2006; Gladis et al., 1999; Kilian & Pukrop, 2006). Zudem erfasse das Konstrukt gar nicht die subjektive Perspekti-ve, denn diese – „the inner life“ (Hunt, 1997; S. 209) – sei geprägt von Gefühlen wie Hoffnung, Liebe oder Ängsten und zudem häufig mehrdeutig (ebd.). Die Lebensqualitätsforschung gehe davon aus, so Angermeyer und Kilian (2006), dass die subjektive Lebensqualität davon abhänge, ob die Lebensbe-dingungen den eigenen Wünschen und Bedürfnissen entsprechen. Dieser Ansatz lässt jedoch viele Fragen offen: so bleibt z.B. unklar, welche Wünsche und Bedürfnisse die untersuchten Personen über-haupt haben, da in den meisten Instrumenten die abgefragten Lebensbereiche nicht von ihnen selbst bestimmt werden (ebd.). Eine hohe Lebensqualität würde dann entweder bedeuten, dass Bedürfnisse und äussere Bedingungen gut übereinstimmen, dass ein Bereich so unwichtig ist, dass die objektive Ausgestaltung keine Rolle spielt, oder aber die Wünsche den objektiven Bedingungen angepasst wur-den (ebd.), wobei bei der Interpretation kaum entscheidbar wäre, was im Einzelfall zutrifft.

Die Validität des Konstruktes wird zudem durch den engen Zusammenhang mit depressiven Sympto-men in Frage gestellt, wobei vor allem der „Bias“ bzw. die Verzerrung der Lebensqualitäts-Einschätzung als problematisch erachtet werden (Katschnig, 2006; Kilian & Pukrop, 2006). Atkinson et al. (1997) sprechen Menschen mit psychischen Erkrankungen deshalb die Fähigkeit, ihre Lebens-qualität einzuschätzen, sogar ab.

...although the responses of mental health patients to quality of life instruments should ide-ally reflect their current physical, psychological, and social situation, such responses are likely to be obscured by individuals’ expectations, personal desires, or mental states (Atkin-son et al., 1997; S. 100).

Andere Forschende wiederum sind aber der Ansicht, dass das depressive Erleben ein inhärenter Be-standteil der subjektiven Perspektive ist, und gerade deswegen nicht „umgangen“, sondern in Bezug auf den Varianzanteil statistisch kontrolliert werden sollte (Baer et al., 2003; Franz, 2006a; Gladis et al., 1999; Orley, Saxena & Herrman, 1998). Auch die Überlappung mit anderen Konstrukten und der empirisch nachgewiesene Einfluss zahlreicher Faktoren (vgl. 3.1 bis 3.8) werden als wissenschaftlich fragwürdig eingestuft, da die Abgrenzung unklar und die divergente Validität mangelhaft sei (Kilian

& Pukrop, 2006; Taillefer et al., 2003). So fehle ein externes Kriterium zur Validitätsüberprüfung

(Hunt, 1997), und die Unterscheidung zwischen Glück, Wohlbefinden und Zufriedenheit sei ebenso ungenügend wie die Abgrenzung sowohl gegenüber Konstrukten aus dem psychiatrischen Kontext wie Beeinträchtigungsgrad, Funktionsniveau oder soziale Anpassung, wie auch gegenüber psychologi-schen Konstrukten wie Selbstwert, Ängstlichkeit, Copingstil und Persönlichkeitsmerkmale (Pukrop, 2003). Tatsächlich verzeichnete die Happiness-Datenbank der Universität Amsterdam schon vor zwölf Jahren über sechstausend „Korrelate“ von Glück, Wohlbefinden und subjektiver Lebensqualität (Veenhoven, 1995).

Verschiedentlich wird deshalb dafür plädiert, im Bereich der Evaluation von Versorgung und lung spezifischere Konstrukte zu verwenden. So halten Salize et al. (1999) die Erhebung von Behand-lungsbedürfnissen („unmet needs“, vgl. 3.5.2) für den besseren Indikator in Bezug auf die Evaluation der Wirksamkeit von Behandlung und Versorgung. Kilian und Pukrop (2006) empfehlen die Verwen-dung bereits bestehender, theoretisch und methodisch besser fundierter Skalen.

Bezieht man darüber hinaus das gesamte Spektrum verfügbarer psychometrisch evaluierter Instrumente mit ein, so ergibt sich ein umfangreicher Bestand an reliablen, validen, sensi-tiven und normierten Skalen, die theoretisch hinreichend verankerte und hoch differenzierte Konstrukte des subjektiv zugänglichen Variablenkosmos erfassen können. Es bedarf einge-hender Begründung, inwieweit ein schlecht definiertes Globalkonstrukt LQ [Lebensqualität]

über die bereits verfügbaren spezifischen Indikatoren der subjektiven Erlebniswelt noch hinausgehen könnte (Kilian & Pukrop, 2006; S. 314).

Im Rahmen des Recovery-Ansatzes (vgl. 3.8.2) sprechen sich dagegen andere Autoren und Autorin-nen für eiAutorin-nen eher breiteren Zugang zum subjektiven Erleben aus, bei dem die subjektive Lebensquali-tät nur einer von mehreren Aspekten ist. Allerdings ist dazu anzufügen, dass sich in Bezug auf die theoretische Differenzierung, Dimensionalität, Operationalisierung und divergente Validität von Re-covery exakt dieselben Fragen und Kritikpunkte stellen wie für die subjektive Lebensqualität (Noord-sy et al., 2002; Resnick, Rosenheck & Lehman, 2004). Nach wie vor erachten auch viele Forschende – unter der Bedingung der theoretischen Weiterentwicklung – die Verwendung von subjektiver Lebens-qualität als sinnvoll. Dies einerseits, weil die subjektive Perspektive und Einschätzung der eigenen Lebenssituation als wichtige Information in Praxis und Forschung einbezogen werden sollte (Franz, 2006b; Orley et al., 1998). Andrerseits wird eine breite und multidimensionale Erfassung des Behand-lungserfolgs als wichtig erachtet – neben der Verbesserung der Symptome soll auch erhoben werden, ob die Behandlung auch sonst Verbesserungen der Lebenssituation von psychisch erkrankten Men-schen bewirkt (Fabian, 1990; Awad et al., 1997; Gladis et al., 1999).

Es gibt allerdings bedeutend mehr theoretische Grundlagen und konzeptuelle Differenzierungen als die hier zitierten kritischen Stimmen bemängeln. So besteht in der psychologischen Wohlbefindens- und der Sozialindikatorenforschung seit langem ein reger wissenschaftlicher Diskurs, der auch diffe-renzierte Modelle hervorgebracht hat. Diese Konzeptualisierungen haben jedoch, wie schon mehrfach erwähnt, bisher wenig Eingang gefunden in die Debatte innerhalb der sozialpsychiatrischen For-schung.