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3.3.1 Negative Lebensereignisse

Die negative Wirkung belastender Lebensumstände und insbesondere negativer Lebensereignisse auf das Befinden wurde im Rahmen der Stressforschung durch zahlreiche Studien belegt7. Im

7 Vgl. dazu die Übersicht von Abbey und Andrews (1985).

hang mit psychischen Erkrankungen wurden psychosoziale Belastungen bezüglich ihres Stellenwerts hinsichtlich des Beginns sowie des Verlaufs psychischer Erkrankungen untersucht (Brown & Birley, 1968; Monroe et al., 1983; Norman & Malla, 1993a). Obwohl Menschen mit psychischen Erkrankun-gen zumindest vor dem Beginn ihrer Erkrankung nicht nachweisbar von mehr Stressoren betroffen sind als die Allgemeinbevölkerung (Norman & Malla, 1993a), und viele Personen, die einschneidende Ereignisse erleben, nur vorübergehende und leichte – z.B. depressive – Symptome entwickeln8,9, sind im Vorfeld von Erkrankungsbeginn, Rückfällen oder einer verstärkten Symptomatik häufig belastende Lebensereignisse oder Stress festzustellen (Headey, Holmström & Wearing, 1984; Monroe et al., 1983; Norman & Malla, 1993a; Paykel, 2003). Eine Erklärung dafür liefert das Vulnerabilitäts-Stress-Modell bzw. Diathese-Stress-Vulnerabilitäts-Stress-Modell (Zubin & Spring, 1977), demzufolge Menschen mit psychischen Erkrankungen vulnerabler, d.h. anfälliger für Belastungen und Stressoren sind. Es wird angenommen, dass diese sowohl durch genetische, neurophysiologische, soziale und psychologische Merkmale be-dingt ist (Norman & Malla, 1993b).

Nur wenige Studien zur subjektiven Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen haben den Effekt negativer Lebensereignisse untersucht. Die Ergebnisse besagen, dass negative Le-bensereignisse die subjektive Lebensqualität eher indirekt beeinflussen, indem sie im Alltag zu einer verstärkten Reaktivität bezüglich negativer Affekte (Myin-Germeys, Krabbendam, Delespaul & van Os, 2003) sowie zu einer Verstärkung depressiver Symptome führen (Norman & Malla, 1993a), was wiederum die Lebensqualität und das subjektive Wohlbefinden beeinträchtigt (vgl. 3.5.1). Insgesamt ist die Befundlage aber eher spärlich und die Zusammenhänge allenfalls moderat (Headey et al., 1984;

Kaiser & Priebe, 1998; Norman & Malla, 1993a). Darüber hinaus erschweren methodische Probleme die empirische Untersuchung dieser Zusammenhänge. So können auch „positive“ Lebensereignisse wie Heirat, die Geburt eines Kindes oder eine Beförderung als Stress und Belastung erlebt werden (Norman & Malla, 1993b). Dies impliziert, dass vermehrt zwischen objektiven Merkmalen von Stress wie z.B. der Anzahl negativer Ereignisse und deren subjektiven Beurteilung im Sinne von Merkmalen wie Kontrollierbarkeit, dem Grad der Unerwünschtheit des Ereignisses u.Ä. unterschieden werden müsste. Ausschlaggebend für die Belastung durch ein Ereignis könnte nämlich weniger dessen Auftre-ten als vielmehr dessen subjektive Bewertung und die Einschätzung eigener Bewältigungsressourcen sein (Monroe et al., 1983; Norman & Malla, 1993b).

3.3.2 Wahrgenommene Stigmatisierung

Ähnliche Fragen stellen sich im Zusammenhang mit der Untersuchung der Wirkung der Erwartung, aufgrund der psychischen Erkrankung stigmatisiert zu werden sowie diskriminierender Erfahrungen auf das Leben und Befinden von Betroffenen hat. Beide Phänomene können als psychosoziale

8 Eine Ausnahme ist die Entwicklung von posttraumatischen Belastungsstörungen infolge extremer Lebenser-eignisse oder wiederholter Traumatisierung.

9 Konzepte wie die im vorhergehenden Kapitel erwähnte Stress-Puffer-Hypothese, das Coping-Konzept (Lazarus

& Folkman, 1984; Pearlin & Schooler, 1978) sowie die Resilienzforschung (Rutter, 1987) haben sich mit dieser Tatsache theoretisch und empirisch auseinandergesetzt.

ren verstanden werden. Untersucht wurden sie hauptsächlich im Rahmen der „Modified Labeling Theory“ von Link (Link, Cullen, Frank & Wozniak, 1987; Link, Cullen, Struening, Shrout & Doh-renwend, 1989). In Abwandlung der Etikettierungs-Theorie von Scheff (1966), die die Etikettierung durch Diagnosestellung oder Psychiatrieaufenthalt als ätiologisch relevant, d.h. verursachend, für ab-weichendes Verhalten bzw. die psychiatrische Symptomatik erachtet, geht die „Modified Labeling Theory“ davon aus, dass die Etikettierung und folgende Stigmatisierung in erster Linie den Verlauf der Erkrankung und das Befinden der Betroffenen beeinflusst. Werden sich Menschen mit psychi-schen Erkrankungen im Rahmen einer Diagnosestellung oder Klinikeinweisung bewusst, dass die tief verankerten gesellschaftlichen Vorurteile und negativen Stereotypen über psychisch Kranke – z.B.

dass sie unberechenbar, gefährlich oder unmündig sind – für sie persönlich relevant geworden sind, führt dies zur Erwartung, von anderen zurückgewiesen, abgewertet und diskriminiert zu werden (Link et al., 1989; Link & Phelan, 2001). Aus dieser Erwartung heraus, so die theoretische Annahme, verlie-ren die Betroffenen ihr Selbstwertgefühl, ziehen sich zurück und versuchen, die Erkrankung zu ver-heimlichen (Stigma-Coping), was langfristig zu verminderten Chancen sozialer Partizipation führt (Link, 1987; Link et al., 1989; Link & Phelan, 2001).

Empirisch sind nicht nur die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber Menschen mit psychischen Er-krankungen vielfach belegt (z.B. Angermeyer & Matschinger, 2003; Crisp, Gelder, Rix, Meltzer &

Rowlands, 2000; Lauber, Nordt, Falcato & Rössler, 2004; Stuart & Arboleda-Florez, 2001), sondern auch das Wissen der Betroffenen darum – in der Literatur als wahrgenommene Stigmatisierung be-zeichnet– und die Tendenz, darauf mit Rückzug und Geheimhaltung zu reagieren (Camp, Finlay &

Lyons, 2002; Graf, Lauber, Nordt, Rüesch, Meyer & Rössler, 2004; Link, 1987; Müller, Nordt, Lau-ber, Rüesch, Meyer & Rössler, 2006; Schulze & Angermeyer, 2003). Nachgewiesene negative Folgen wahrgenommener Stigmatisierung reichen von einem höherem Risiko für Stellenlosigkeit (Link, 1987;

Link et al., 1989), dem Vermeiden von professioneller Hilfe und Behandlung (Cooper, Corrigan &

Watson, 2003; Link, Mirotznik & Cullen, 1991; Sirey, Bruce, Alexopoulos, Perlick, Friedman &

Meyers, 2001) bis hin zu Gefühlen von Scham, Angst, Isolation und Hoffnungslosigkeit (Dinos, Ste-vens, Serfaty, Weich & King, 2004). In Übereinstimmung mit der theoretischen Annahme, dass wahr-genommene Stigmatisierung zu sozialem Rückzug führt, weisen Personen, die sich stark stigmatisiert fühlen und defensive Bewältigungsstrategien wie Rückzug für sinnvoll halten, kleinere soziale Netz-werke auf (Link et al., 1989; Perlick, Rosenheck, Clarkin, Sirey, Salahi, Struening & Link, 2001);

umgekehrt wird weniger Stigmatisierung wahrgenommen, wenn die soziale Unterstützung als gut eingeschätzt wird (Müller et al., 2006).

Wahrgenommene Stigmatisierung verringert die subjektive Lebensqualität deutlich (Graf et al., 2004;

Link, Struening, Rahav, Phelan & Nuttbrock, 1997; Markowitz, 1998; Rosenfield, 1997; Wahl, 1999).

Einige Studien zur Lebensqualität zeigen zudem einen negativen Einfluss von konkreten stigmatisie-renden oder diskriminiestigmatisie-renden Erfahrungen (Depla, de Graaf, van Weeghe & Heeren, 2005; Marko-witz, 1998), allerdings bleibt aufgrund der Befunde unklar, ob letztendlich konkrete Erfahrungen oder

eher die subjektive Erwartung, stigmatisiert zu werden, für die gefundenen Effekte verantwortlich sind (Müller et al., 2006). Es scheinen aber bei Weitem nicht alle Menschen mit psychischen Erkrankungen unter der von ihnen wahrgenommenen Stigmatisierung zu leiden, und die individuellen Unterschiede im Umgang mit den negativen Stereotypen sind beträchtlich (Camp et al., 2002; Freidl, Lang & Sche-rer, 2003). Eine zentrale Rolle hierbei könnte die Tatsache spielen, dass die wahrgenommene Stigma-tisierung stark mit dem Selbstwert zusammenhängt, was durch zahlreiche Studien belegt wird (Blan-kertz, 2001; Link, 1987; Link, Struening, Neese-Todd, Asmussen & Phelan, 2001; Wright, Gronfein

& Owens, 2000). Andere Untersuchungen zeigen, dass das Selbstwertgefühl den Einfluss der Stigma-tisierung auf die subjektive Lebensqualität entscheidend beeinflusst (Markowitz, 1998; Rosenfield, 1997), bzw. dass sich der Einfluss der Stigmatisierung abschwächt, wenn Komponenten des Selbst-konzeptes wie Selbstwert und Selbstwirksamkeit kontrolliert werden (ebd.). Der aus der psychologi-schen Forschung bekannte Zusammenhang solcher auf das Selbst bezogenen Variablen mit dem Be-finden (z.B. Pearlin, Lieberman, Menaghan & Mullan, 1981) wurde auch im Zusammenhang mit der Lebensqualität psychisch erkrankter Menschen untersucht, wie im nächsten Abschnitt zusammenfas-send beschrieben wird.

3.4 Psychologische Merkmale: Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Autonomie- und