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Zur Vorgeschichte der Bestsellerliste

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 75-78)

Matthias Schaffrick

3. Zur Vorgeschichte der Bestsellerliste

Bestsellerlisten werden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erstellt. In Deutschland seit 1927. Die Bestsellerliste hat aber interessante literarhistorische Vorläufer, wie Carlos Spoerhase in einem aufschlussreichen Aufsatz über die Die ästhetische Vorge-schichte des Rankings in der europäischen Literatur- und Kunstkritik des 18. Jahrhunderts (so der Untertitel) gezeigt hat. Spoerhase diskutiert Listen, die seiner Interpretation zufolge den Ursprung ästhetischer Rankings darstellen. Christian Friedrich Daniel Schubart zum Beispiel konstruiert um 1790 eine „Kritische Skala der vorzüglichs-ten deutschen Dichter“, die 1792 postum publiziert wird. Schubart evaluiert die Werke 18 deutscher Autoren, indem er sie in neun Kategorien auf einer Skala von 0–20 bewertet: „Genie“, „Urtheilsschärfe“, „Litteratur“, „Tonfülle oder Versifica-tion“, „Sprache“, „Popularität“, „Laune“, „Witz“ und „Gedächtniß“. Spoerhase beschreibt diese Dichterskalen von Schubart und anderen als „ambitionierte[s]

Vorhaben, die ästhetische Qualität eines Kunstwerks oder gar eines ganzen künst-lerischen Œuvres numerisch zu erfassen“,11 und schlussfolgert, dass es für dieses Vorhaben heute nur noch die Institutionen der Bestseller- oder Bestenlisten gebe.

Spoerhase gibt einen historischen Abriss dieser Praxis, die 1708 mit der ‚Balken-waage der Maler‘ von Roger de Piles beginnt, bis hin zu Schubart. Anschließend an Spoerhases Analysen stellen sich die Fragen, wieso es einmal diese Dichterska-len gab, warum diese Praxis nicht fortgeführt wurde, inwiefern sie sich von den

10 Hecken: Populäre Kultur (2006), 87.

11 Spoerhase: Das Maß der Potsdamer Garde (2014), 126.

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heutigen Bestseller- und Bestenlisten unterscheiden und welche sozialstrukturellen Veränderungen damit einhergehen.

Die Dichterskalen entstanden aus dem Bedürfnis heraus, zu bewerten und zu vergleichen. Denn wie Spoerhase zeigt, zählen in diesen Listen vor allem die Punktabstände, also die Relationen, nicht die absoluten Werte. Für die Bewertung auf der Dichterskala gibt es keinen im Voraus festgelegten Wertungsmaßstab. Abs-trakte ästhetische Normen sind hier nicht notwendig. Die Listen schaffen hinge-gen numerische Evidenz für ein vergleichendes Verhältnis zwischen Autoren, das ansonsten unausgesprochen bleibt beziehungsweise gar nicht zur Disposition steht.

Darauf, dass diese Rankings eine vergleichende Beobachtung zweiter Ordnung12 ermöglichen, gründet sich ihre zeitgenössische Bedeutung. Man kann beobachten, wie andere, nämlich die Kritiker, das literarische Feld beobachten und bewerten.

Die Dichterskalen eignen sich unter anderem für den im späten 18. Jahrhun-dert virulenten Vergleich zwischen ‚Alten‘ und ‚Neuen‘. Die Pointe von Schubarts Liste ist insgesamt eine literarhistoriographische.13 Die Neueren von Gleim bis Schiller erzielen deutlich höhere Werte als die Älteren Bodmer, Hagedorn, Gellert, Rabener. Die Dichterskala legitimiert also die zeitgenössische Literatur oder man könnte auch sagen: Gegenwartsliteratur. Die Bestsellerliste hingegen ist absolut, also unabhängig von den Titeln oder Autoren, die früher einmal auf ihr vermerkt waren, gegenwartsorientiert. Sie deckt einen wesentlich kürzeren Zeitraum ab (eine Woche, manchmal einen Monat, zum Jahreswechsel ein ganzes Jahr) als die kritische Dichterskala, die ein ganzes Jahrhundert umfasst.

In der Dichterskala werden Autoren bewertet, nicht ihre Werke wie in der Best-sellerliste. Die Skalen werden von einzelnen Personen, die dadurch als Kritiker hervortreten, erstellt. Das unterscheidet sie ebenfalls von Bestsellerlisten, die sta-tistisch erstellt werden, und auf denen einzelne Werke, nicht die Autorinnen und Autoren gelistet werden. Hier zeigt sich also eine Einbuße an personengebundener Autorität, sowohl derjenigen, die die Listen erstellen, als auch der Gelisteten. Auto-ren werden im Vergleich zur Dichterskala in der Bestsellerliste durch ihre Werke ersetzt, der Kritiker durch die Leser.

12 Im Sinne von Luhmanns Kulturbegriff als Operation des Vergleichs im Modus der Beobach-tung zweiter Ordnung; vgl. Luhmann: Kultur als historischer Begriff (1999).

13 Vgl. Spoerhase: Das Maß der Potsdamer Garde (2014), 124.

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Paratext Bestsellerliste. Zur relationalen Dynamik von Popularität und Autorisierung

Dichterskala Bestsellerliste

Relationale Bewertung Relationale Bewertung Literarhistoriographisch Gegenwartsbezogen Bewertung von Autoren Bewertung von Werken Von Kritikern erstellt Statistische Erhebung Popularität als eine von neun

Kategorien Popularität als alleiniges Kriterium Tabelle 1: Dichterskala und Bestsellerliste im Vergleich.

Die Listen verlieren ihren Stellenwert, überhaupt ihren Sinn mit der Individuali-sierung des Künstlers, seiner autonomieästhetischen Aufwertung zum Genie. Weil sich die Selbstbeschreibungssemantik der Autorschaft grundlegend verändert, sind numerische Bewertungen nicht mehr angebracht. Genialität, Originalität, Authenti-zität, also alle Elemente des autonomieästhetischen Autorschaftskonzepts, entziehen sich einer numerischen Klassifikation und sind überhaupt unvergleichlich.14 „Der poetische Genius lässt sich nicht numerisch erfassen“,15 konstatiert Spoerhase. Aus der individuellen Selbstbegründung der Autorschaft im Sinne der Autonomieäs-thetik folgt auf der anderen Seite ein Verlust auktorialer Autorität, weil Autorität nämlich ein heteronomieästhetisches Konzept darstellt. Während moderne, auto-nome Autorschaft Inbegriff von Voraussetzungslosigkeit und Selbstbestimmung ist, beruht Autorität auf vergangener Bewährung. Zwischen der Autoritätsetymo-logie der Autorschaftssemantik und der modernen Selbstbegründung subjektiver Autorschaft besteht eine bis heute anhaltende Spannung von Autonomie und Heteronomie.16 In der Folge ist Autorschaft nicht als Ausdruck von Autorität zu verstehen, sondern als Autorisierungsstrategie, weil die Autorität selbst erst durch Autorschaft hervorgebracht werden muss. Das heißt, es gibt keine vorgängige, keine übergeordnete inspirierende oder von außen legitimierende Instanz der Autorisie-rung. Stattdessen müssen Autorinnen und Autoren andere, in ihrer Autorschaft gegründete Autorisierungsstrategien entwickeln.

Zwischen Schubarts Dichterskala und der ersten Bestsellerliste müssen noch etwa 100 Jahre vergehen. Im Gegensatz zu den Dichterskalen sind die Bestsellerlisten

14 Zur Transformation der Autorschaftssemantik im 18. Jahrhundert vgl. Schaffrick: In der Ge-sellschaft des Autors (2014), 40–45.

15 Spoerhase: Das Maß der Potsdamer Garde (2014), 123.

16 Vgl. Schaffrick: In der Gesellschaft des Autors (2014), 13–17.

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eher ein Phänomen des Buchmarkts, der Vermarktung und der Presse als der lite-raturkritischen Bewertung, die sich Ende des 18. Jahrhunderts jedoch darüber einig ist, dass das Messen, Ausmessen und Vermessen der ästhetischen Qualität künstle-rischer Autorität und der Künstlerindividualität abträglich sind. Die Entwicklung des Buchmarkts, vor allem der enorme quantitative Zuwachs an Buchpublikationen, aber auch an Lesern macht außerdem eine andere Art und Weise der Orientierung erforderlich, die durch statistische Verfahren ermöglicht ist.

Was den Autoren durch die autonomieästhetische Selbstbegründung an (ästhetischer) Autorität verloren geht, so möchte ich diese Überlegungen zu einer These zusammenfassen, wird mittels des Paratextes Bestsellerliste durch (quantifizierte) Popularität kompen-siert. Da die autonomieästhetische Autorschaftssemantik mit dem quantitativen literaturkritischen Verfahren der Dichterskalen inkompatibel ist, wird diese Praxis nicht fortgesetzt und gut 100 Jahre später durch die Bestsellerliste ersetzt. Die Best-sellerliste erzeugt auf Basis von Zählverfahren numerische Evidenz für Popularität, die wiederum als paratextuelle Autorisierungsstrategie dienen kann.

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