• Keine Ergebnisse gefunden

Wetteifern mit dem Vorbild, für die Ewigkeit – die Grabschrift von Fleming

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 112-119)

Johannes Görbert

3. Wetteifern mit dem Vorbild, für die Ewigkeit – die Grabschrift von Fleming

Dass die deutsche Barockliteratur nicht bei dieser epigonalen Position stehengeblie-ben ist, zeigt schon die nur ein Jahr später verfasste Grabschrift auf sich selbst eines der (aus heutiger Sicht) prominentesten Verehrer von Opitz: von Paul Fleming.

Da auch dieser Text nicht auf dem eigentlichen Grab des Autors in der Hambur-ger Katharinenkirche erscheint, kann hier ebenfalls von der „poetische[n] Adap-tion eines Gebrauchstextes“34 bzw. -genres gesprochen werden. Dennoch unter-scheidet sich Flemings Grabschrift nicht nur durch seinen auktorialen Status von den allographen Paratexten auf Opitz. Da das Gedicht als letzter Text in der von

32 Ebd., 19.

33 Ebd., 20.

34 Kühlmann: Sterben als heroischer Akt (1982), 168. Ob Flemings Grab tatsächlich jemals eine Inschrift besaß, gilt als unsicher, vgl. Kaminski: Dichtung als Nachlaß (2012), 13.

111

Adam Olearius veranstalteten ersten postumen Werkausgabe Flemings erscheint, könnte es auch mit gutem Recht als Teil des ‚Haupttexts‘ und nicht als ‚Beiwerk‘

betrachtet werden.35 Trotzdem sprechen, sobald das Konzept der ‚Werkarchitektur‘

und Genettes Metapher der seuil ins Feld geführt werden, gleichfalls Argumente für eine Klassifizierung als Peri- bzw. Paratext. Indem die Grabschrift am Schluss des Werks, sozusagen an dessen Ausgangsportal, zu stehen kommt, markiert es durchaus eine ‚Schwelle‘ und derart eine Grenzposition zwischen dem ‚eigentlichen‘

Text und dem Bereich des Paratexts. Auch hinsichtlich des Todesthemas ergibt sich, um hier kurz vorzugreifen, eine Schwellensituation, die Fleming im ersten Terzett mit dem „willigen Abtritt“ des sterbenden, sich selbst inszenierenden Dichters von der ‚Bühne‘ des Lebens verdeutlicht. Ähnlich wie die Lobgedichte auf Opitz erfüllt außerdem, wie zu zeigen sein wird, mutatis mutandis Flemings Grabschrift auf sich selbst gleichermaßen jene Funktionen, die Thomas Wegmann anhand von Paratexten des späten 18. Jahrhunderts nachgewiesen hat. So fällt dem Textmaterial der Epitaphe und Epicedien als Aufgabe zu, „die Autoren literarischer Werke im literarischen Feld und seiner Aufmerksamkeitsökonomie zu positionieren, sie mit ihren Werken zu einer auratischen Einheit zu verbinden und dabei von anderen Autoren und Werken abzugrenzen und ihnen einen distinkten Nimbus zu verlei-hen, der nicht ohne Einfluss auf ihre Rezeption geblieben ist“.36

Da Fleming, analog zu seinem Epicedium auf Opitz, auch für sein eigenes Epi-taph auf die relativ kurze Form des Sonetts zurückgreift, kann auch dieses Gedicht vollständig zitiert werden.

Herrn Pauli Flemingi der Med. Doctoris Grabschrifft / so er ihm selbst gemacht in Hamburg /

den xxiix. Tag deß Mertzens m. dc. xl. auff seinem Todtbette / drey Tage vor sei-nem seel: Absterben.

35 Mit dieser Platzierung bestätigt die Anlage der postumen Edition von Flemings Gedichten jedoch den Status von Paratexten als „hermeneutisch privilegierte und wirkmächtige Grö-ßen“. Sie, so Stanitzek: Texte, Paratexte (2004), 8, „steuern Aufmerksamkeit, Lektüre und Kommunikation in einer Weise, dass die entsprechenden Texte über sie allererst ihre jeweilige Kontur, ihre gewissermaßen handhabbare Identität gewinnen.“ Dies gilt für das Verhältnis von Flemings Grabschrift zu seinem Gesamtwerk in besonderem Maße: Ist es doch in vielen Fällen der maßgebliche, wenn nicht in manchen Fällen gar der einzige Text, der die Rezeption dieses Autors bestimmt.

36 Wegmann: Zur Funktion von Paratexten (2012), 249.

112 Johannes Görbert

ICh war an Kunst und Gut / und Stande groß und reich.

Deß Glueckes lieber Sohn. Von Eltern guter Ehren.

Frey; Meine. Kunte mich aus meinen Mitteln nehren.

Mein Schall floh ueberweit. Kein Landsmann sang mir gleich.

Von reisen hochgepreist; fuer keiner Muehe bleich.

Jung / wachsam unbesorgt. Man wird mich nennen hoeren / Biß das die letzte Glut diß alles wird verstoeren.

Diß / Deutsche Klarien /diß ganze danck’ ich Euch.

Verzeiht mirs / bin ichs werth / Gott / Vater / Liebste / Freunde.

Ich sag’ Euch gute Nacht / und trette willig ab.

Sonst alles ist gethan / biß an das schwarze Grab.

Was frey dem Tode steht / das thu er seinem Feinde.

Was bin ich viel besorgt den Othem auffzugeben?

An mir ist minder nichts, das lebet / als mein Leben.37

Nach Lektüre des Titels und der Retrospektive auf das eigene Leben im ersten Teil scheint es zunächst, als wollte Fleming sich in seiner Grabschrift ganz nach den Regeln richten, wie sie etwa in Omeis’ Poetik festgehalten sind. In der Über-schrift ist sein voller Name in latinisierter Form genannt, ebenso der kurz vor sei-nem Tod im niederländischen Leiden erlangte akademische Grad eines Doktors der Medizin. Dazu wird das Sterbebett in Hamburg als der Ort, der 28. März als Datum des Schreibens und der 31. März als (angeblicher) Todestag verzeichnet.38 Auch in den beiden Quartetten bedient Fleming augenscheinlich die von Omeis benannten Konventionen, speziell diejenigen für den lobenden Teil von Sterbens- und Todeslyrik. Das „Stamm-Wappen“ seiner Familie erwähnt er zwar nicht, dafür aber den günstigen Status seiner „Eltern“ genauso wie er ausführlich auf die ihm

„eigenen Gemütes- Leibes- und Glückes-Gaben“ nebst „Tugenden“, „Thaten“ und

„Verdiensten“ eingeht. „Groß“ und „reich“ sei er gewesen, dazu „glücklich“, „frei“,

„hochgepreist“, „keiner Mühe bleich“, „jung“, „wachsam“ und „unbesorgt.“39

37 Fleming: Geist- und Weltliche Poëmata (1660), 670.

38 Ob der Titel der Grabschrift von Fleming selbst, von seinem Freund Caspar Hertranft, der ihn begleitete, oder von einem Dritten stammt, lässt sich auf Basis der Quellenlage nicht ab-schließend entscheiden. Gegen eine nachträgliche Einfügung lässt sich mit Rickes: „Man wird mich nennen hören“ (2009), 180, „vor allem der Umstand [einwenden], dass die Datierung des Todestages nicht zutrifft. Ein nachträglicher Kommentar“ zur Grabschrift von Fleming,

„hätte in Kenntnis seines Todestages sicherlich das richtige Datum verwendet.“

39 Battafarano: Glanz des Barock (1994), 427 spricht angesichts dieser Adjektive von einer „sorg-fältig durchdachten Wahl von positiv semantisch konnotierten Wörtern“ durch Fleming.

113

Erst mit Blick darauf, dass Fleming diese Zeilen nicht über einen anderen, son-dern über sich selbst schreibt, wird deutlich, dass er die Konventionen des Genres zugleich eklatant überschreitet: Geht es ihm doch nicht um Bescheidenheit, son-dern um die demonstrative Ausstellung des eigenen dichterischen Selbstbewusst-seins. Das ist ungewöhnlich, hat doch Georg Braungart für Auto-Epitaphe genau das gegenteilige Standardverfahren nachgewiesen: „Jemand, der sich selbst eine Grabschrift setzt, wird sich selbst weder besonders tadeln noch überschwenglich loben […]. Solch eine Grabschrift hat eher das Wesen eines letzten Wortes, eines Vermächtnisses, einer letzten und bleibenden Visitenkarte, die Selbstlob vermeidet oder zurückweist.“40 Einen analogen Bescheidenheitsgestus hat Gérard Genette auch für einen anderen Paratext, nämlich für den des Vorworts herausgestellt. Es gilt, so Genette, das Thema, das Sujet, den Text „aufzuwerten, ohne den Leser durch eine allzu unbescheidene oder auch nur offenkundige Aufwertung des Autors zu verstimmen.“ Dies „bedingt einen gewissen, wenn auch schmerzlichen, aber gemeinhin rentablen Verzicht auf Eigenliebe.“ Unter den zahlreichen von ihm untersuchten Paratexten, so Genette weiter, sei er auf keinen einzigen gestoßen, der „dieses Motiv entfaltete: ‚Bewundert meinen Stil‘ oder jenes: ‚Bewundert, wie geschickt mein Aufbau ist.‘ Ganz allgemein ist das Wort Talent tabu“ (alle Zitate aus PT, 192; Hervorheb. im Original). Das verhält sich im Fall von Flemings Grabschrift ganz offensichtlich anders. Obwohl der Begriff ‚Talent‘ explizit nicht fällt, geht es implizit doch in den Quartetten des Gedichts weniger um ein kon-kret geschaffenes, fassbares lyrisches Werk als um die künstlerische Disposition des Autors, der sich selbst nicht nur als materiell unabhängig, sondern auch als mit enormen Geistesgaben ausgestattet beschreibt. Selbst das im Titel nicht ganz korrekt angegebene Todesdatum – Fleming starb nicht am 31. März, sondern am 2. April 1640 – wird in der Forschung inzwischen als eigenmächtige Setzung des Autors interpretiert.41 Fleming behält sich somit noch im Dahinscheiden, also nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, vor, ein selbstgewisses Urteil über seinen eigenen Sterbetag fällen zu können.

Wichtig bleibt außerdem festzuhalten, dass sich Flemings Selbstbewusstsein auch und besonders auf eine herausragende Position im literarischen Leben seiner Gegen-wart und Zukunft erstreckt. „Mein Schall floh überweit. Kein Landsmann“, also auch nicht Opitz, so Fleming, „sang mir gleich“ – das ist das genaue Gegenteil des

„Ich, der ich mich den gringsten achtt“, das in Scherffensteins Gedicht erscheint.42 Auch mit der Satzkonstruktion „Man wird mich nennen hören / Biß das die letzte

40 Braungart: Barocke Grabschriften (1997), 450.

41 Vgl. Kaminski: Dichtung als Nachlaß (2012), 6.

42 Scherffenstein: Poetische Thraenen (1640), 19.

114 Johannes Görbert

Glut dieß alles wird verstören“, setzt sich Fleming dezidiert in ein Verhältnis der imitatio und aemulatio zu seinem Vorbild Opitz und zu einem Klassiker der anti-ken Dichtung. „ICh hab’ ein Werck vollbracht dem Ertz nicht zu vergleichen“, so übersetzt Opitz aus der Ode Exegi monumentum von Horaz, „Dem die Pyra-mides an Hoehe muessen weichen / […] Ich kan nicht gar vergehn. man wird mich ruehmen hoeren / So lange man zu Rom den Jupiter wird ehren.“43 Diesen Unvergänglichkeitstopos nimmt Fleming nun auch unmittelbar für sein eigenes literarisches Werk in Anspruch. Zugleich dehnt er dessen Reichweite deutlich aus.

Wo Horaz nicht ahnen konnte, das die Verehrung des Jupiter in Rom doch ver-gänglicher war als noch von ihm angenommen, geht Fleming lieber auf Nummer sicher. Seine Dichtung, so die Grabschrift, habe Bestand bis zum jüngsten Tag, bis zu jenem apokalyptischen Ereignis, mit dem Alles und Jedes an sein Ende kommt.

Somit versieht er seine Dichtung mit dem maximal vorstellbaren Haltbarkeitsda-tum, das weit über das hinausgeht, was einst Horaz und seinem Übersetzer Opitz als Zeitpunkt für das Fortdauern ihrer Werke vorschwebte.

In diesem letzten Aspekt ist zugleich auch der Trostanteil von Flemings Grab-schrift enthalten. „An mir ist minder nichts / das lebet / als mein leben“, so lautet die bedeutungsvolle Schlusspointe seines Sonetts.44 Mit diesem acumen, dieser figura etymologica meint Fleming nichts Anderes, als dass der Tod nur seiner kör-perlichen und damit unwesentlicheren Form seiner Existenz etwas anhaben könne.

Das eigentlich Entscheidende, seine literarische Meisterschaft, sein geistiges Leben, bleibe durch sein Sterben unangetastet und lebe in seinen Texten weiter.45 Auch hier bricht Fleming erneut mit den Konventionen des Genres, wie sie etwa in der Poetik des Omeis theoretisch aufgeführt und bei Scherffenstein praktisch ausgeführt werden. Christliche oder auch antike Jenseitsvorstellungen fehlen in seiner Grab-schrift zudem völlig: kein Eden, kein Helikon und kein Elysium tauchen in seiner Schilderung auf. Auch auf eine Gegenüberstellung eines irdischen Jammertals der

43 Opitz: Weltliche Poemata (1975), 64.

44 Das Gedicht folgt deutlich einer für Sonette typischen Zweiteilung bzw. Zäsur zwischen Quartetten und Terzetten: Während Fleming im ersten Teil eine in der Vergangenheitsform gehaltene Bilanz des Lebens zieht, behandelt er im zweiten Teil die Situation des Sterbens in der Gegenwartsform. Schindler: A Note on Paul Fleming’s „Grabschrift“ (1978), 235/236 hat dies dazu veranlasst, von einer „dual persona“ im Auto-Epitaph zu sprechen. Schindler imagi-niert Fleming zum einen als „poet-artist at work in his ‚studio‘“, zum anderen als „theater […]

player taking leave from his audience and stepping from a metaphorical stage of life.“ Erst die Schlusszeile, so Schindler, führe beide Text-Ichs wieder zusammen: „The two have become one“, 236.

45 Vgl. ähnlich u. a. Schindler: A Note on Paul Fleming’s „Grabschrift“ (1978), 236. Diese In-terpretation setzt allerdings als Prämisse voraus, dass das Dichten, in den Quartetten explizit angesprochen, auch in den Terzetten implizit Thema bleibt.

115

Sterblichen mit einem Himmel der Seligen verzichtet Fleming. Er konzentriert sich voll und ganz auf die Stärken seiner Kunst sowie auf seinen nahezu anmaßenden, jugendlichen Ehrgeiz, längstmöglich nachzuwirken und ihm selbst darüber sein Nachleben zu sichern.46

Dass die Klage als dritter, eigentlich konstitutiver Bestandteil von Grabschriften bei Fleming ausbleibt, hat mit seiner maßgeblichen Prägung durch den humanis-tischen Neostoizismus zu tun.47 Selbst bei dem unmittelbar bevorstehenden Tod, so Fleming im Einklang mit neostoizistischen Vorstellungen, hätten die Affekte zu schweigen.48 Es gilt, vernünftig, gefasst zu sein, mit sich selbst ins Reine zu kom-men, ruhig zu werden, oder, wie Fleming sagt, ganz „unbesorgt“ zu sein. Wiederum ist das ein großer Kontrast zum Gedicht von Scherffenstein, der bereits nach der Nachricht des Todes eines Anderen in seiner rollenhaften Inszenierung ganz außer sich gerät und jegliche Selbstbeherrschung verliert. Bei Fleming hingegen bleibt die Contenance formvollendet gewahrt: mit einem letzten Dank an die Inspiration der Musen, mit einer taktvollen Verabschiedung von allen wesentlichen Personen und mit dem beruhigenden Hinweis darauf, dass alle Geschäfte abgeschlossen und in Ordnung gebracht sind – all das Grund genug für ihn, um vollkommen zufrieden und „willig“ ins Grab „abzutreten“. All das ist bemerkenswert für die Beurteilung des eigenen bevorstehenden Todes, erst recht in Flemings Alter eines jungen Erwachsenen von gerade einmal dreißig Jahren.

46 Damit soll keineswegs behauptet sein, dass Fleming kein durch und durch religiöser Au-tor gewesen wäre, wie es zahlreiche seiner Gedichte bezeugen. Sein Auto-Epitaph jedoch ist, wie auch Herzog: Kunst als „Widertod“ (1985), 39f. herausstellt, eher durch eine „an-tik heroisch[e]“ als die aus dem Christentum bekannte Konzeption von Ewigkeit geprägt.

„Fleming glaubt an seinen Erlöser“, urteilt Herzog; das halte ihn jedoch nicht davon ab, in seiner Grabschrift, am prägnantesten in der Schlusszeile, im Wesentlichen eine andere als die christliche Form von Dauer zu protegieren: „Denn sie spricht […] von einem anderen Leben nach dem Tode. Sie meint das Nachleben des Künstlers im Ruhm […] ‚Des Todes Tod‘ ist so nicht mehr Christus, sondern die Kunst.“

47 Vgl. hierzu ausführlicher die Interpretation von Schmidt: Paul Flemings stoische Grabschrift (2004).

48 Schuster: Dichterruhm und Ewigkeit (2014), 32, kritisiert neostoizistische Lektüren von Fle-mings Grabschrift; er liest das Sonett im Gegensatz dazu ganz als „Demonstration von Ster-bebereitschaft in lutherischer Tradition.“ Schusters Polemik übergeht, dass die Produktivität neostoizistischer Positionen in der Literatur des Barock nicht zuletzt in deren beträchtlicher

„Konvergenz mit der christlichen Lehre“ begründet liegt: „Da war doch vieles, womit ein überzeugter Christ etwas anfangen konnte“, siehe Willems: Geschichte der deutschen Litera-tur (2012), 363f. Analog wie Neostoizismus und Christentum müssen ferner Demut vor Gott und Selbstbewusstsein gegenüber den barocken Dichterkollegen bei Fleming nicht unbedingt zueinander im Widerspruch stehen, sondern können beide gleichermaßen in seiner Lyrik vorgebracht werden.

116 Johannes Görbert

Flemings „Verzeiht mirs / bin ichs werth“, mit dem er den Abschied an „Gott / Vater / Liebste / Freunde“ im ersten Terzett einleitet, steht hierbei keineswegs im Widerspruch zu dem mit seiner Grabschrift vertretenen souveränen, leidenschafts-losen dichterischen Selbstvertrauen. Stattdessen lässt sich diese Passage im Rahmen von Genettes Paratexttheorie durchaus als „Blitzableiter“ im Sinne der rhetorischen Technik einer „excusatio propter infirmatem“ verstehen (PT, 201). Denn angesichts von Flemings verwegenem Abweichen von den Konventionen eines Epitaphs liegt es nahe, möglichen Einwänden von vornherein mittels einer solchen eigens einge-bauten ‚Sicherung‘ im letzten selbstgeschriebenen Gedicht zu begegnen. Genette kommentiert generell zu einer derartigen rhetorischen Praxis:

Angesichts der mitunter maßlos übertriebenen Bedeutung seines Themas [im Fall von Fleming die Summe der eigenen Vita, J.G.] bringt der Redner seine Unfähig-keit vor, es mit dem nötigen Talent abzuhandeln, und zählt anscheinend darauf, das Publikum werde schon um das rechte Maß wissen. Das aber war vor allem die sicherste Weise, Kritik vorzubeugen, das heißt diese zu entschärfen und sogar zu unterbinden, indem ihr der Redner zuvorkam. (PT, 201)

Es handelt sich, so Genette, um eine „auf paradoxe Weise valorisierende Funktion“

(PT, 201), die auch Fleming virtuos für sich zu nutzen weiß. Mit diesem Vers bzw.

mit dieser rhetorischen Technik nimmt der Barockautor potentiellen Kritikern sogleich den Wind aus den Segeln – und zwar dezidiert ohne das zuvor vorge-brachte Eigenlob auszuhebeln, ja ohne es auch nur im Geringsten in Frage zu stellen.

Für die hier verfolgten Erkenntnisinteressen ist entscheidend, dass Flemings Eigenlob, anders als das Fremdlob auf Opitz, nicht zwingend mit dem zeitgenös-sischen Status seines literarischen Œuvres harmoniert. Wo der durchschlagende Erfolg von Opitz’ Lyriktheorie und -praxis bereits zu Lebzeiten begann und ganze Dichtungsschulen in seiner Nachfolge begründete, kann Ähnliches für Fleming kaum in Anschlag gebracht werden. Seit 1635, dem Jahr des Aufbruchs zu seiner Reise nach Persien, hatte Fleming quasi nichts mehr veröffentlicht, die Hälfte sei-nes literarischen Werks lag noch in der Schublade. Das, was er bis dahin publiziert hatte, bestand hauptsächlich aus Einzeldrucken in höchstwahrscheinlich niedriger Auflage, seiner medizinischen Dissertation und einer Fülle von Gelegenheitsge-dichten. Anstelle einer Führungsposition ist somit eher von einer Außenseiterrolle Flemings im literarischen Feld seiner Zeit auszugehen.49 Nicola Kaminski schluss-folgert dementsprechend:

49 Vgl. dazu die ähnliche Argumentation etwa bei Pohl: Paul Fleming (1993), bes. 43 und 75.

117

Ein Werk […] das auch den Kasualpoemen einen die Gelegenheit übersteigenden Rahmen geboten hätte, ein Werk, auf das der unvergängliche Nachruhm eines Dichters namens Paul Fleming zu gründen wäre, existiert im Jahr 1640 nicht.

[…] Die Grabschrifft bringt so, indem sie das Werk des Dichters Paul Fleming im Modus der petitio principii evoziert, dieses Werk überhaupt erst hervor und wird darin, über die kunstvolle Sonettfaktur hinaus, poetisch produktiv. […] So wie die Grabschrift als Gattung im eigentlichen Gebrauchszusammenhang deiktisch auf das Grab verweist […], verweist Flemings Grabschrifft deiktisch auf das Werk, aus dem das Ich des Poeten sich konstituiert, als läge es der Öffentlichkeit bereits vor.50

Kaminski spricht von einem „Nachruhm in statu nascendi“, also von einem geschick-ten finalen Manöver des Barockdichters, mit dem Fleming unmittelbar vor seinem Tod entscheidende Weichen stellt für seine Rezeption durch Mit- und Nachwelt.51

4. Ausblick – Schlaglichter auf den weiteren Taxierungs- und

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 112-119)