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Epitaphe und Epicedien als ‚Schwellen‘ – zu Autoren, zur Gesellschaft 1

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 102-105)

Johannes Görbert

1. Epitaphe und Epicedien als ‚Schwellen‘ – zu Autoren, zur Gesellschaft 1

Die Frühe Neuzeit kann im Anschluss an Frieder von Ammon und Herfried Vögel als

„die erste eigentliche Epoche des Paratexts“ gelten, in der dessen „kommunikative[s]

Potential […] zum ersten Mal voll entfaltet und ausgeschöpft wird.“2 Dass Paratex-ten in diesem vormodernen Rahmen eine beträchtliche Bedeutsamkeit zukommt, zeigen Ammon/Vögel u. a. an der „weite[n] Verbreitung der später verschwundenen Paratextsorte des ‚Ehrengedichts‘“, das für die jeweiligen Autoren und ihre Texte warb.3 Zum Paratext wird diese Art von Lyrik vor allem, indem ihre Konventionen in der Regel einen relationalen Bezug nicht nur auf einen Einzeltext, sondern auf ein literarisches Gesamtwerk vorsehen:4 entweder auktorial auf das eigene Œuvre oder allograph auf das eines anderen, wobei das Fremdlob in Gedichtform meist auch ein indirektes Eigenlob miteinschließt. Auch die Platzierung dieses lyrischen Paratexts kann unterschiedlich ausfallen: Sie kann sowohl epitextuell einen „bereits konstituierten Text als Werk“ lobend herausstellen als auch peritextuell „den Text als solchen“ erst „konstituier[en]“.5 Bei allen Unterschieden in Bezogenheit und Ort des Ehrengedichts ähneln sich die werkpolitischen Strategien jedoch auffällig:

1 Ich danke Andreas Beck (Ruhr-Universität Bochum) sehr herzlich für zahlreiche hilfreiche Hinweise zu diesem Artikel.

2 Ammon/Vögel: Einleitung. Pluralisierung des Paratextes (2008), XV; Hervorheb. im Original.

3 Ammon/Vögel: Einleitung. Pluralisierung des Paratextes (2008), XII/XIII.

4 Vgl. übergreifend zu dieser konstitutiven Eigenschaft von Paratexten die Beiträge von Nadja Reinhard und Martin Gerstenbräun-Krug in diesem Band.

5 Dembeck: Texte rahmen (2007), 13.

Stets geht es den lyrischen Paratexten darum, den gewürdigten Texten eine mög-lichst günstige Aufnahme beim literarischen Publikum zu sichern, für Erfolg bei den Zeitgenossen, für Dauer bei den Nachgeborenen zu sorgen und langwirksame Kanonisierungsprozesse anzustoßen. Eng damit verbunden lassen sich am Beispiel des paratextuellen Ehrengedichts der Frühen Neuzeit auktoriale Inszenierungsprak-tiken nachvollziehen, die gleichermaßen den gewürdigten wie den würdigenden Dichter literaturhistorisch wie -soziologisch einzuordnen helfen. So veranschauli-chen die Ehrengedichte Bündnis- und Schulbildungskonstellationen ebenso wie sie Verfahren der Distinktion und Konkurrenz verdeutlichen, mit denen die Autoren sich selbst bzw. ein schriftstellerisches Gegenüber jeweils durch ihr Schreiben zu profilieren verstehen.

In der deutschen Literatur des Barock ereignen sich derartige paratextuelle Ver-fahren einer ‚lobpreisenden‘ Inszenierung, Positionierung und Kanonisierung von Werk und Autorschaft ganz maßgeblich mithilfe von Texten, die als ‚Gelegenheits-dichtung‘ bedeutsame gesellschaftliche Anlässe flankieren. Neben Ereignissen wie beispielsweise Geburten, Hochzeiten, Krönungen und Weihungen ziehen dabei auch Geschehen rund um Tod und Sterben die gesteigerte Aufmerksamkeit von literarischen Autoren auf sich.6 Zu den populärsten Genres dieser Gelegenheitslyrik zählen dementsprechend Epitaphe (Grabschriften) und Epicedien (Grabgedichte), welche die Autoren des Barock aus der antiken und mittelalterlichen Tradition übernehmen und zu einer regelrechten ‚Modeerscheinung‘ im literarischen Leben des 17. Jahrhunderts avancieren lassen.7 Dass hierbei die Qualität des Themas und seiner Ausführung keineswegs immer mit der Quantität der Grablyrik Schritt hält, hat schon zeitgenössische Autoren wie Friedrich Rudolph Ludwig von Canitz zu satirischen Kommentaren auf die Hochkonjunktur der Sterbens- und Todesdich-tung veranlasst. Canitz schreibt:

6 Vgl. einführend zur Literatur des Barock Meid: Barock-Themen (2015), Niefanger: Barock (2000) und Willems: Geschichte der deutschen Literatur (2012).

7 Die Begriffe „Epitaph“ („Grabschrift“) und „Epicedium“ („Trauer- und Trostgedicht“) wer-den im Folgenwer-den im Sinne der Explikationen im Reallexikon der deutschen Literaturwissen-schaft verwendet. Vgl. Wiegand: Epitaph/ Epicedium (1997), 455 und 475. Abgrenzungskri-terien ergeben sich vor allem daraus, dass Epitaphe in aller Regel kürzer ausfallen als Epicedien und sich vollständig auf das Lob des Verstorbenen konzentrieren. Detailliertere Begriffsdis-kussionen und Typologien zur Epitaph- und Epicedienliteratur bieten Braungart: Barocke Grabschriften (1997), Krummacher: Das barocke Epicedium (1974) und Segebrecht: Steh, Leser, still! (1978). Für eine „Kulturgeschichte der Grabschrift“ vgl. Guthke: Sprechende Stei-ne (2006).

102 Johannes Görbert

Geht wo ein Schul-Regent in einem Flecken ab /

Mein GOtt! wie rasen nicht die Tichter um sein Grab; […]

Die Erde wird bewegt, im Himmel Lerm gemacht.

Minerva, wenn sie gleich in ihrem Hertzen lacht, Auch Phöbus und sein Chor, die müssen wider Willen, sich traurig, ohne Trost, in Flor und Boy verhüllen.

Mehr Götter sieht man offt auf solchem Zettel stehn, Als Bürger in der That mit zu der Leiche gehn.8

Nachfolgend stehen Texte zu und von zwei Autoren im Zentrum, bei denen der von Canitz belächelte poetische, rhetorische und mythologische Höchstaufwand der Gelegenheitsdichter keineswegs im Missverhältnis zur Bedeutsamkeit der Verstorbe-nen steht. Gemeint sind zunächst Epitaphe und Epicedien auf den Literaturreformer Martin Opitz, den bereits bewundernde Zeitgenossen als ‚Vater und Wiederher-steller der Dichtkunst‘ im Deutschen gekennzeichnet haben. Opitz starb 1639 im Alter von 41 Jahren in Danzig an der Pest; sobald sich die Nachricht von seinem Tod verbreitet hatte, verfassten seine Schriftstellerkollegen zahlreiche Würdigungen seiner literarischen Verdienste in Prosa- und Versform.9 Im Anschluss widmet sich der Beitrag dem nicht minder einschlägigen Auto-Epitaph von Paul Fleming, der im Folgejahr in Hamburg mit 30 Jahren einer Lungenentzündung erlag.10

Ihre wesentlichen methodischen Impulse bezieht die hier vorgelegte Lektüre dieser barocken Epitaphe und Epicedien, wie schon eingangs kurz umrissen, aus den Theorien des Paratextes von Gérard Genette und des literarischen Feldes von Pierre Bourdieu.11 Im Anschluss an Genettes Studien verstehen die nachfolgenden Lektüren die untersuchten Gedichte jeweils metaphorisch als ‚Schwellen‘, ‚Vesti-büle‘ oder ‚Antichambres‘, welchen es als Aufgabe obliegt, Wege zur eigentlichen Architektonik und ‚Politik‘ von Werk und Autorschaft bei Opitz und Fleming zu weisen (vgl. PT, 10).12 In diesem Sinne lässt sich die Lyrik aus Anlass des Todes der beiden Barockautoren, um die bei Genette angeführte Formulierung von Philippe

8 Canitz: Gedichte (1982), 264.

9 Vgl. die reichhaltigen Materialien in Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse (2009), bes.

1615–1952. Zugänge zur Opitz-Forschung eröffnet etwa der von Borgstedt und Schmitz hg.

Sammelband „Nachahmungspoetik und Lebenswelt“ (2002).

10 Eine bibliographische Übersicht der zahlreichen Forschungsliteratur zu Flemings Grabschrift findet sich in Schuster: Dichterruhm und Ewigkeit (2014), 8.

11 Vgl. als maßgebliche Monographien PT sowie Bourdieu: Die Regeln der Kunst (2001).

12 Vgl. zur Ergiebigkeit des Paratextbegriffs auch für die Betrachtung der „Epochengrenze“ zwi-schen Barock und Aufklärung auch: Niefanger: Sfumato (1995).

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„Es ligt in diser Grufft Apollo selbst versenket“

Lejeune aufzugreifen, als „Anhängsel des gedruckten Texts“ (ebd.) in den Blick neh-men, die ganz maßgeblich lektüresteuernde Funktionen übernimmt. Erkenntnis-interessen richten sich dementsprechend darauf, welche Aspekte des eigentlichen

‚Hauptwerks‘ diese ‚Nebentexte‘ akzentuieren, welches ‚Autorbild‘ sie konstruie-ren sowie in welche Richtung die vorliegende Gelegenheitsdichtung die weitere Rezeption des eigenen und fremden literarischen Schaffens zu steuern beabsichtigt.

Durch den Gestus der biographischen und autobiographischen Gesamtbilanz, der das Material prägt, ist jeweils von einem besonderen Nachdruck auszugehen, mit dem der Status der Verblichenen in den hier behandelten Texten möglichst vor-teilhaft ausgehandelt, befestigt und für die Mit- und Nachwelt geltend gemacht werden soll. Damit sind entscheidende Stichwörter für die zugleich Bourdieusche Herangehensweise bereits genannt. Genauso, wie die vorliegenden Epitaphe und Epicedien als seuils zu den beiden barocken Œuvres und ihren Autoren führen, erlauben sie darüber hinaus Aufschlüsse zur kultursoziologischen Verortung von Opitz und Fleming in einem sich im 17. Jahrhundert erst ganz allmählich heraus-kristallisierenden literarischen Feld. Selbstredend ist hierbei (anders als etwa bei Bourdieus ‚klassischen‘ Modellstudien zur französischen Literatur des 19. Jahr-hunderts) von einer heteronomeren literatursoziologischen Konstellation auszuge-hen, in der die Autoren im Dienst von dominierenden politischen und religiösen Diskursen agieren. Dennoch lässt sich auch anhand des hier im Fokus stehenden paratextuellen Textkorpus nachvollziehen, wie Autoren des Barock erstens gegen-über weltlichen und geistlichen Autoritäten ein gewachsenes Selbstvertrauen einer Literatur in deutscher Sprache demonstrieren sowie zweitens innerhalb dieses erst graduellen Konstitutionsprozesses eines genuin literarischen Feldes zueinander in Wettstreit um symbolisches Kapitel treten.

2. Lyrik zum Tod von Opitz – Selbstfeier einer Literatur unter

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