• Keine Ergebnisse gefunden

Fehlende Grenzen

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 39-42)

David-Christopher Assmann

1. Fehlende Grenzen

Mit Bezug auf die Beobachtung „einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verba-ler Produktionen“ (PT, 9), die Texte gewöhnlich umgeben, definiert Genette den Paratext als „jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt“ (PT, 10). Paratexten kommt 38 David-Christopher Assmann

die Funktion zu, Kommunikation mit Texten einzurichten und zu gestalten. Sie machen Texte sozial anschlussfähig und dienen dazu, ihren Bezugstext, wie Genette schreibt, „präsent zu machen, und damit seine ,Rezeption‘ und seinen Konsum in, zumindest heutzutage, der Gestalt eines Buches zu ermöglichen“ (PT, 9; Hervorheb.

im Original). Auf der Basis dieser allgemeinen funktionalen Bestimmung kann Genette zum einen so heterogene textuelle Einheiten wie Buchumschlag, Vorwort oder Autoreninterview unter der Maßgabe eines Gesichtspunkts zusammenfassen und als funktionale Äquivalente vergleichbar machen sowie zum anderen und mit Bezug auf die Raumdimension sodann grundsätzlich Peri- von Epitexten unter-scheiden. Während Peritexte demnach „im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes“ (PT, 12) anzutreffen sind, befinden sich Epitexte zwar noch immer „im Umfeld des Textes, aber in respektvoller (oder vorsichtiger) Entfer-nung“ (PT, 12). Jene umfassen Titel, Autorname, Kapitel, Klappentext usw., diese Autorengespräche, Podiumsdiskussionen, Briefwechsel usw.

So strukturalistisch trennscharf und im Hinblick auf die Differenz von Peri- und Epitext materiell abgesichert diese Unterscheidungen jedoch auf den ersten Blick auch wirken mögen, in der literaturwissenschaftlichen Rezeption haben sie zu zahlreichen „Abstriche[n] und Vorbehalte[n]“5 geführt. So spricht etwa Burk-hard Moennighoff von einem „sehr weite[n] und an seinen Grenzen nicht in jedem Punkt trennscharfe[n] Konzept“.6 Er sieht mit Blick auf die Einführung der Kategorie des Epitextes das analytische Potential des Paratextbegriffs insgesamt bedroht und schlägt deshalb eine begriffliche ,Eingrenzung‘ auf peritextuelle Ele-mente vor. Diese bilden demnach, so Moennighoff an anderer Stelle, den „Kern des Paratextes“.7 Ganz ähnlich argumentiert Christoph Jürgensen, wenn auch er für ein enges Begriffsverständnis plädiert, drohe doch die „Bedeutung des Begriffs der Paratextualität sich durch ihre übermäßige Ausdehnung zu verlieren und der Begriff in den übergeordneten Terminus der Kontextualität umzuschlagen.“8 Mit anderen Worten: Wo liegt die Grenze zwischen epitextuell relevanten und kon-textuell irrelevanten Elementen?

Es ist aber nicht nur die äußere Grenze zwischen Epitext und Kontext, die Teilen der Literaturwissenschaft Bauchschmerzen bereitet. Stanitzek etwa weist darauf hin, dass auch die innere Grenze, d. h. die Unterscheidung zwischen ,eigentlichem‘ Text und ,sekundierendem‘ Peritext eine hochgradig fragwürdige ist. Am Beispiel der Typographie argumentiert er, „dass der Paratext im und mit dem Text ubiquitär

5 Stanitzek: Buch: Medium und Form (2010), 159.

6 Moennighoff: Paratext (2007), 23.

7 Moennighoff: Paratext (2005), 349.

8 Jürgensen: „Der Rahmen arbeitet“ (2007), 23.

39

Zur Unterscheidung von primären und sekundären literarischen Formen

gegeben ist. Denn Text ist ohne typographische Dimension schlechterdings nicht vorstellbar.“9 Wenn der Peritext aber zumindest in diesem Fall so konstitutiv für den vermeintlich eigentlichen Text ist, wo liegt dann genau die Trennlinie zwi-schen beiden?

Dass der Paratextbegriff auf einem durchaus problematischen, weil letztlich Ambivalenz zulassenden Konzept beruht, dass es schwierig macht, paratextuelle Elemente „systematisch abzugrenzen“,10 stellt sich nun nicht erst auf der Basis der literaturwissenschaftlichen Diskussion von Genettes Studie ein. Die „erhebliche Beunruhigung“,11 die der Begriff auszulösen vermag, findet sich vielmehr bereits bei Genette selbst explizit angelegt. Dieser schreibt nämlich gleich zu Beginn mit Blick auf den spezifischen Charakter von Paratexten:

Dabei handelt es sich weniger um eine Schranke oder eine undurchlässige Grenze als um eine Schwelle oder – wie es Borges anläßlich eines Vorwortes ausgedrückt hat – um ein „Vestibül“, das jedem die Möglichkeit zum Eintreten oder Umkeh-ren bietet; um eine „unbestimmte Zone“ zwischen innen und außen, die selbst wieder keine feste Grenze nach innen (zum Text) und nach außen (dem Diskurs der Welt über den Text) aufweist […]. (PT, 10; Hervorheb. im Original)

Die Trennschärfe der Unterscheidungen zwischen Text, Paratext und Kontext, wie man sie gut strukturalistisch vielleicht erwarten würde, wird bereits an dieser Stelle begrifflich unterlaufen. Die paratextuelle Demarkationslinie ist nach Genette keine eindeutige Grenze, sondern eine „Schwelle“, die keine Stabilität kennt, „durchlässig“

ist und damit letztlich weder wirklich außerhalb noch innerhalb dessen liegt, was sie auf den ersten Blick bloß rahmt. Paratextuelle Elemente befinden sich auf der Grenzmarke von Text und Öffentlichkeit und stecken einen mehr oder weniger unbestimmten Raum zwischen dem als ,eigentlich‘ ausgewiesenen Referenztext und dem Nicht-Text ab, der eindeutige Zuordnungen (zum Text, zum Nicht-Text) zwar stets provoziert, gleichzeitig aber immer auch unterläuft.

Genau diesen Punkt betonen neuere Studien, wenn sie auf den grundsätzlich ambivalenten Status paratextueller Elemente hinweisen. Sie verstehen den Schwel-lencharakter nicht als begriffliche Unschärfe und damit als systematisch-typologisch zu lösendes Problem, sondern als analytische Stärke des Konzepts. Der Paratext eröffnet demnach eine liminale Zone, die, so Rolf Parr, auf der „Gleichzeitigkeit

9 Stanitzek: Buch: Medium und Form (2010), 162.

10 Koch: Paratext (2011), 244.

11 Stanitzek: Buch: Medium und Form (2010), 162.

40 David-Christopher Assmann

von Grenzziehung und ihrer Aufhebung“12 basiert. Und so zeigen beispielsweise Arbeiten von Uwe Wirth und Till Dembeck, wie im vermeintlich oder tatsäch-lich bloß peritextuellen Vorraum des Vorworts um 1800 nicht nur die Grenzen zwischen Fiktion und Realität immer wieder unterlaufen, sondern etwa auch Fra-gen der Autor- und Herausgeberschaft entwickelt und verhandelt werden.13 In dieser Hinsicht ist der durchaus unbestimmte, wenn nicht paradoxale Status also keineswegs theoretisch-konzeptionell zu überwinden und auf „,handgreifliche[ ]‘

Randphänomene“14 zu verkürzen. Er ist vielmehr geradezu „konstitutiv“15 für Para-texte und somit analytisch ernst zu nehmen.

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 39-42)