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Bestsellerlisten und andere Listen: Vergleich und Funktionalisierung

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 80-86)

Matthias Schaffrick

5. Bestsellerlisten und andere Listen: Vergleich und Funktionalisierung

Augsteins Einschätzung der Bestsellerliste führt zu der Frage zurück, was diese Listen als paratextuelle Politik und Praxis auszeichnet? Das Wissen über die Popu-lärkultur ist, wie oben bereits angeklungen ist, in Listen organisiert und geordnet.

Die Liste fungiert als populärepistemologisches Verfahren, das unser Wissen über die populäre Kultur ordnet, hierarchisiert und sortiert. Welches Buch am häufigsten gekauft wurde, entnehmen wir Listen. Es gibt folglich „keine per se populären kulturellen Gegenstände“,30 sie werden erst dazu gemacht. Bestsellerlisten machen Bücher populär.

Das Addieren von Wahlakten und die Präsentation der Ergebnisse in Rang-listen gehört zum Prinzip der populären Kultur, die permanent damit befasst ist,

27 Alle Zitate Leonhardt: Die fünf Bücher des Monats (1957).

28 Augstein: Lieber Spiegel-Leser! (1961).

29 Alle Zitate Augstein: Lieber Spiegel-Leser! (1961).

30 Stäheli: Bestimmungen des Populären (2007), 314.

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Popularität zu ermitteln. Denn populär ist nicht das, was einfach, ursprünglich und volkstümlich ist, sondern – um noch einmal Thomas Heckens Definition anzuführen – das, „was viele beachten. Populäre Kultur zeichnet sich dadurch aus, dass sie dies ständig ermittelt. In Charts, durch Meinungsumfragen und Wahlen wird festgelegt, was populär ist und was nicht“.31 Die Agenten der Populärkultur zählen, addieren und quantifizieren, und die Ergebnisse ihrer Operationen über-führen und präsentieren sie in Listen. Die Elemente dieser populärkulturellen Listen werden nummeriert und in eine Rangfolge gebracht.

Im Literaturbetrieb lassen sich verschiedene Listenformen voneinander unter-scheiden, und zwar danach, ob sie den Erfolg und die Popularität von Büchern nach Verkaufszahlen quantifizieren, oder aber, ob sie Bücher ästhetisch qualifizieren. Für Letzteres stehen beispielhaft die long und short list zum Deutschen Buchpreis. Es handelt sich dabei um nominale, also nicht-hierarchisierte Listen, deren Erstellung auf Jury-Entscheidungen zurückgeht. Sie richten sich nach unausgesprochenen ästhetischen Kriterien und dienen neben ihrer Funktion als Vermarktungsinstru-ment auch als Medium der Kanonbildung sowie der Orientierung in der unüber-schaubaren Vielzahl neu erscheinender Bücher.

Ebenfalls auf einer Jury-Entscheidung beruht die Erstellung einer Bestenliste wie der 1975 von Jürgen Lodemann begründeten SWR Bestenliste:32 „Renommierte Literaturkritiker und Kritikerinnen nennen monatlich in freier Auswahl vier Neu-erscheinungen und geben ihnen Punkte (15,10,6,3)“,33 so wird das Konzept auf der Homepage knapp erläutert. Es soll sich dabei um Neuerscheinungen handeln, denen die Jury „möglichst viele Leserinnen und Leser wünscht“.34 Als Ergebnis kommt eine metrische Liste zustande, das heißt eine hierarchisch geordnete Liste mit quantifizierten Abständen zwischen den Rängen. Es ist also ersichtlich, welches Buch wie viele Punkte erhalten hat. Zudem werden die Empfehlungen kommen-tiert und dadurch begründet. Es handelt sich um professionelle Leseempfehlun-gen, mithin eine vordigitale Alternative zu den heute u. a. bei Amazon gängiLeseempfehlun-gen, algorithmisch generierten Leseempfehlungen.

Die klassische Bestsellerliste liegt gewissermaßen zwischen diesen beiden Typen der Liste, weil es sich bei der Bestsellerliste um eine ordinale, also eine hierarchisch sortierte Liste handelt, die keine Angaben über die erzielten Verkäufe und die

31 Hecken: Populäre Kultur (2006), 85.

32 Vgl. zur Geschichte dieser Bestenliste Lodemann: Die „Bestenliste“ (1981); sowie ders.:

Nichts als Bücher im Kopf? (1995).

33 https://www.swr.de/swr2/literatur/bestenliste/bestenliste-juni-2017/-/id=98456/

did=13777216/nid=98456/h0pz5a/index.html (Zugriff: 20.08.2017)

34 https://www.swr.de/swr2/literatur/bestenliste/ueberuns/jury/die-jury/-/id=4226242/

did=4232296/nid=4226242/l5yva/index.html (Zugriff: 20.08.2017).

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Abstände zwischen den einzelnen Rängen macht. Nicht nur diese Leerstelle meint David Oels, wenn er von den „Unschärfen“ der Bestsellerliste spricht,35 sondern auch die unterschiedlichen, unscharfen Verfahren der Erstellung und Erhebung.36 Die „Autoren der Liste“ schließlich sind keine aus Experten zusammengesetzte Jury, sondern jeder einzelne Käufer, der idealiter auch zum Leser wird. Die Best-sellerliste erscheint mithin als das demokratischere Verfahren.

Zusammengefasst ergibt sich für den Vergleich der drei Listentypen als Bewer-tungspraxis im Literaturbetrieb folgende Ordnung:

long und short list Bestenliste Bestsellerliste

Nominal Metrisch Ordinal

Qualitativ Qualitative Bewertung / Quantitative

Darstel-lung Quantitativ

Jury Jury Publikum

Jährlich Monatlich Wöchentlich (i.d.R.)

Kanonisierung Empfehlung Popularisierung

Tabelle 2: Literaturbetriebslisten.

Daran anschließend lassen sich der Bestsellerliste – auch im Vergleich mit den anderen Literaturbetriebslisten – insgesamt sechs verschiedene kommunikative Funktionen zuschreiben:

35 Oels: Bestseller (2010), 49.

36 Den Bestsellerlisten liegt und lag noch nie eine Auswertung aller Verkäufe der Buchhändler zugrunde, sondern immer nur eine Auswahl. Für die erste Nachkriegs-Bestsellerliste „Seller-Teller“ in der Wochenzeitung Die Zeit genügten gerüchteweise noch eine Handvoll Anrufe des zuständigen Redakteurs bei den örtlichen Hamburger Buchhändlern. Die Spiegelbestsel-lerliste beruhte bis 2001 auf dem subjektiven Empfinden der Buchhändler, die, so Oels, „allzu oft nicht mitteilten, was sie tatsächlich verkauft hatten, sondern gern verkaufen würden“, (Oels: Bestseller (2010), 50). Jedenfalls bilden die Bestsellerlisten nicht ab, was in Deutsch-land in einer Woche an Büchern verkauft wird, selbst wenn seit 2001 die Daten auf elek-tronisch registrierte Verkäufe an Scannerkassen zurückgehen. Zum gegenwärtigen elektroni-schen Erhebungsverfahren und den Vorauswahlkriterien für Bestseller vgl. die Angaben auf der Homepage des Buchreports: http://www.buchreport.de/bestseller/ermittlung_der_best-seller.htm (Zugriff: 23.05.2016).

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Buchmarktfunktion

Trotz ihrer operationalen Unschärfe (David Oels) weist die Liste natürlich pri-mär Verkaufserfolge aus. Aus der Sicht des Buchmarkts dienen Listen als „power-ful marketing tools“37 der Werbung und Vermarktung, der Popularisierung eines Buches. Genette verallgemeinert die Funktion von Epitexten in dieser Hinsicht (vgl. PT, 347), greift damit jedoch zu kurz. In diesen Listen zeichnen sich nämlich nicht nur die ökonomischen Vermarktungsstrategien von Verlagen, Buchhändlern und literarischen Institutionen ab, sondern auch die Unterhaltungs- und Infor-mationsstrukturen des Buchmarkts. Die Liste „can tell us a lot about the social production of best-sellers.“38

Orientierungsfunktion

Ganz offensichtlich erfüllen Bestsellerlisten eine Orientierungsfunktion.39 Auf dem weiten Feld der Literatur mit einer unüberschaubaren Fülle von Neuerschei-nungen geben die Listen Orientierung. Sie reduzieren die Komplexität des litera-rischen Feldes und verwalten die Kontingenzen des Lesens: Wer nicht weiß, was sie oder er lesen soll, liest einen Titel von der Bestsellerliste.

Strukturfunktion

Bemerkenswert ist daran anschließend, dass die Bestsellerliste die Struktur des literarischen Feldes transformiert, indem die Positionen und Positionierungen in die Form Liste gebracht werden. Bestsellerlisten präsentieren das literarische Feld als Liste. Sie reduzieren komplexe Zusammenhänge auf eine epistemologisch leicht nachvollziehbare Ordnung. Dabei zeigt sich die Liste offen für fast alle Titel eines Paradigmas und ermöglicht auf diese Weise das Nebeneinander ansonsten unver-einbarer Titel. Die Bestsellerliste ist ein Ordnungsmodell, das die Kombination sehr heterogener Elemente zulässt. Mit Urs Stäheli formuliert: Der ‚homogene Listenraum‘ schafft die Voraussetzung für ‚heterogene (Ver-)Sammlungen‘.40

37 Miller: The Best-Seller List (2000), 286.

38 Miller: The Best-Seller List (2000), 300.

39 Vgl. Oels: Bestseller (2010), 52.

40 Vgl. Stäheli: Das Soziale als Liste (2012), 88.

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Kanonisierungsfunktion

Zwar weniger als die short lists oder die Preisträgerlisten von Literaturpreisen, fungieren Bestsellerlisten dennoch auch als Kanonisierungsinstanzen, selbst wenn ihnen ökonomische und nicht ästhetische Kriterien zugrunde liegen.41 Als Medium des Kanons wirkt die Liste als Ausschlussmechanismus, die einen Kanon der gerade aktuellen Gegenwartsliteratur festlegt und andere Bücher unberücksichtigt lässt.

Inklusionsfunktion

Umgekehrt ermöglichen Bestsellerlisten auch soziale Inklusionseffekte, inso-fern als man sich mit ihnen am Leseverhalten unbekannter anderer zu orientieren glaubt. „Mit einem Blick ist zu sehen, was den meisten gefällt, so daß jedermann sich anschließen mag“, wie Rudolf Augstein schrieb.42 Im Sinne von Urs Stähelis Begriff des Populären fungieren Bestsellerlisten also als Inklusionsmechanismus des Literatursystems, indem sie die kommunikative Voraussetzung dafür bilden, ein literarisches Publikum zu konstruieren.43 Listen geben Auskunft über die Popula-rität von Buchtiteln und ermöglichen dadurch kommunikative Anschlussfähigkeit.

Popularitätsfunktion

Die Bestsellerliste fungiert schließlich als Maßstab und zugleich als Bedingung von Popularität. In der Populärkultur wird, seitdem der Begriff des Populären zum Teil ästhetischer Selbstverständigung wird, ständig Popularität ermittelt und bewertet.

Den erfassten Popularitätswerten verhelfen Listen zu numerischer Evidenz. Diese Listen bilden nicht nur ein Medium des Vergleichs von Popularität, sondern sie dienen geradezu als Bedingung der Möglichkeit von Popularität, indem sie aus der Vielfalt individueller Entscheidungen für eine Sache die Einheit des Mainstreams

generieren.44 Das, was sie zu messen versprechen, bringen sie selbst erst hervor.

Bei der Quantifizierung von Popularität fällt wiederum auf, dass einerseits die Qualität und die ästhetische Form der gelisteten Angebote unberücksichtigt blei-ben, und dass die Listen andererseits keine Auskunft darüber geblei-ben, welche Mess-verfahren und algorithmischen Operationen der Sortierung und Auswertung der erhobenen Daten zugrunde liegen. Die Erhebungsverfahren und die Zählparameter lassen sich variieren und unterschiedlich gewichten.

41 Als Anregung zu dieser Funktionsbestimmung diente der Titel des kleinen ‚Erlebnisberichts‘

von Schacherreiter: Die Wiedergeburt des Kanons in Gestalt der Ranking-Liste (2008).

42 Augstein: Lieber Spiegel-Leser! (1961).

43 Vgl. Stäheli: Das Populäre in der Systemtheorie (2004).

44 Diese Formulierung verdanke ich Johannes Paßmann.

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Die „Suche nach Gründen“45 für Popularität gehört ebenso zu den Prinzipien der populären Kultur wie ihre Quantifizierung. Warum wird ein Buch zum Bestseller und wie muss das Werk beschaffen sein? Wenn Listen aber eins nicht geben, dann Auskunft darüber, warum welches Element an ebenjener Stelle der Liste steht, an der es steht. Listen sind keine Narrative, und sie begründen und rechtfertigen ihre Reihenfolge nicht explizit, sie geben keine Antwort auf die Frage danach, was zum Bestseller wird oder nicht.46 Das bleibt unter anderem der literarischen Fiktion vorbehalten, wie in Klaus Modicks Bestseller (2006).

Letztlich kann nicht alles zum Bestseller werden. Aus einer produktorientierten Perspektive zeichnen sich Bestseller nach Werner Faulstich durch „Aktualität“ und

„Zeitzugewandtheit“ sowie ein mittleres Komplexitätsniveau aus.47 David Oels schreibt: Ein „eingängiger Stil, eine spannungserzeugende Konzeption, ein aktu-elles, womöglich kontroverses Thema, ein populärer Autorname und ausgeklügelte Werbemaßnahmen“ seien notwendige Bedingungen eines Bestsellers, jedoch nicht hinreichend. Es müssen „kaum kalkulierbare Multiplikatoren-Effekte“ hinzukom-men, damit ein Buch tatsächlich zum Bestseller wird.48 Rudolf Walter Leonhardt spricht in der Zeit vom „timing“ als entscheidendem Kriterium.49

Hinzu kommt, dass Erfolge auf der Liste Autorität voraussetzen beziehungs-weise schaffen. Ich schlage also vor, die obige Auflistung um den Faktor Autorität zu ergänzen, der vor allem mit Blick auf den paratextuellen Status der Bestseller-liste unerlässlich für die Erklärung von Bestseller-Erfolgen ist. Warum sonst sollte ausgerechnet jetzt Siegfried Lenz wieder Platz eins der Bestsellerliste belegen?50 Warum waren Joseph Ratzingers Jesus-Bücher Bestseller-Erfolge? Warum ist

Hel-mut Schmidt immer wieder auf den Ranglisten vertreten gewesen und immer noch vertreten?

45 Hecken: Populäre Kultur (2006), 95.

46 Vgl. dazu Schaffrick: Listen als populäre Paradigmen (2016), 110.

47 Faulstich: Bestseller (2007), 217.

48 Oels: Bestseller (2010), 51.

49 Leonhardt: Die fünf Bücher des Monats (1957).

50 „Jetzt“ meint den Tag, an dem der diesem Aufsatz zugrunde liegende Vortrag auf der Tagung

„Paratextuelle Politik und praxis. Dynamiken der Genese von Werk und Autorschaft“ in Inns-bruck gehalten wurde, also den 17.03.2016.

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