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Maria Piok / Thomas Wegmann

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 92-102)

Nachdem die deutschsprachige Paratextforschung wesentliche Anregungen durch den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette erfahren hat, auch wenn dessen 1989 auf Deutsch erschienene Studie Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches keineswegs unwidersprochen blieb, versteht sich der folgende Beitrag als kleines und kursorisches Forschungsreferat, das exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Frage nachgeht, wie in der frankophonen Literaturwissen-schaft Genettes Überlegungen aufgegriffen, rezipiert und diskutiert wurden. Die Materialgrundlage bildet eine beschränkte Zahl von Aufsätzen, die sich grundle-gend und theoretisch mit Paratextualität und ihrer Begrifflichkeit auseinanderset-zen, während solche, die lediglich eine anwendungsbezogene Analyse konkreter (Para-)Texte anstreben, ohne das Modell der Paratextualität selbst zu reflektieren, von uns nicht in Betracht gezogen wurden. Eine Reihe von (mitunter durchaus interessanten) Arbeiten bleibt dadurch unberücksichtigt, weil sich ihr Hauptaugen-merk auf paratextuelle Aspekte im Zusammenhang mit einem bestimmten Autor richtet und sie aufgrund des engen Fokus für eine themenübergreifende Paratext-forschung nur bedingt relevant sind. Dies gilt insbesondere für Beiträge, in denen der Begriff Paratext nur als Bezeichnung für das in der literaturwissenschaftlichen Analyse herangezogene Material ohne kritische Reflexion des dahinterstehenden Konzepts verwendet wird. Babacar Faye etwa, um ein Beispiel zu nennen, zitiert in seinem Aufsatz über frankophone afrikanische Schriftsteller Interviews, in denen sich diese zu den Schwierigkeiten wie zum kreativen Potential von Plurikulturali-tät und Mehrsprachigkeit in der afro-französischen Literatur äußern; demgemäß ist schon im Titel vom Paratext die Rede (Imginaire linguistique dans le paratexte et déconstruction/reconstruction des „normes“ dans le texte hétérolingue, „Das lingu-istisch Imaginäre im Paratext und Dekonstruktion/Rekonstruktion der ,Normen‘

im heterosprachlichen Text“),1 im Text wird der Begriff aber nur sehr knapp in

1 Alle Übersetzungen von Maria Piok. Titel werden im Fließtext auch im Original angeführt;

bei übersetzten Zitaten wird der französische Text in den Fußnoten wiedergegeben. Für wert-volle Hinweise danken wir Nicola Vicquéry und Ludovic Milot.

Klammern als ,Diskurs um den literarischen Text‘2 definiert; Faye führt also weder Genette noch dessen Termini etwa zur Unterscheidung von werkinternem und werkexternem Paratext an.

Dagegen scheint sich für das von uns berücksichtigte Material das Urteil, das Andrea Del Lungo in seinem 2009 erschienenen Aufsatz „Seuils“, vingt ans après.

Quelques pistes pour l’étude du paratexte après Genette („Seuils, zwanzig Jahre später.

Einige Leitlinien für die Studie des Paratexts nach Genette“) über die Paratextfor-schung fällt, vielfach zu bestätigen:

Zwei Jahrzehnte sind bereits seit dem Erscheinen von Gérard Genettes Seuils vergangen, einer Arbeit, die eine unumgängliche Referenz im Bereich der Litera-turwissenschaft darstellt […]. Das Buch von Genette, beinahe regelmäßig – oder zwangsläufig – zitiert, sobald sich irgendein Literaturwissenschaftler mit der Analyse eines Titels, eines Vorworts oder eines anderen paratextuellen Elements beschäftigt, scheint mir jedoch wenig ‚diskutiert‘ worden zu sein […]. Wie lässt sich dieses literaturwissenschaftliche ,Schweigen‘ erklären? Handelt es sich hier um die Auswirkung einer Zeit, in der man, insbesondere im Bereich der The-orie, einen gewissen Verfall der Debatte beobachtet? Oder ist es die Folge einer bewährten Furcht des Literaturwissenschaftlers vor einem Grundlagenwerk, das mitunter auf Vollständigkeit abzuzielen scheint?3

Del Lungo bemüht sich dann selbst, Genettes Analysemodell zu skizzieren und zu problematisieren, wobei er im Speziellen das Prinzip der Schwelle hervorhebt, mit dem die Vorstellung von fixen (Text-)Grenzen aufgehoben und das vom Formalis-mus inspirierte Konzept der Trennung4 durch jenes des Übergangs5 ersetzt wird. In Bezug auf die Schwierigkeiten, die sich bei der Auseinandersetzung mit Paratexten

2 „discours autour du texte littéraire“; Faye: Imaginaire linguistique dans le paratexte et décon-struction/reconstruction des ‚normes‘ dans le texte hétérolingue (2010), 152.

3 „Deux décennies se sont déjà écoulées depuis la parution de Seuils, de Gérard Genette, ouvra-ge qui constitue une référence incontournable dans le domaine critique […]. Presque réguli-èrement – ou obligatoirement – cité dès que n’importe quel critique aborde l‘étude d’un titre, d’une préface ou d’un autre élément du paratexte, le livre de Genette me paraît cependant avoir été peu ,discuté‘ […]. Comment expliquer cet ,silence‘ critique ? S’agirait-il de l’effet d’une époque où l’on observe une certaine déliquescence du débat, notamment dans le do-maine théorique ? ou serait-ce l’effet d’une crainte éprouvée par le critique devant un ouv-rage fondateur, qui semble parfois viser à l’exhaustivité ?“ Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 98.

4 „séparation“; Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 99.

5 „transition“; Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 99.

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ergeben, unterstreicht Del Lungo das räumlich und zeitlich variable Verhältnis von Text und Paratext (also das Verschwimmen der Grenzen zwischen beiden, die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Anordnung von Paratext und Text und die variablen Entstehungszeiten des Paratexts im Zusammenhang mit der Genese des literarischen Werks) sowie den vorübergehenden Status, der sowohl die Theoreti-sierung als auch die exakte Bestimmung der Funktion und der Wechselwirkung von Paratext und Text, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedlichen lite-rarischen Genres, erschwert.6 Kritisch hinterfragt wird von Del Lungo vor allem Genettes pragmatische Herangehensweise an den Paratext, der im Zuge dessen als intentionale und persuasive Botschaft, also viel eher als ein Effekt denn als Objekt betrachtet wird. Genette, so Del Lungo leicht kritisch und etwas vereinfachend, untersuche den Paratext in erster Linie als autonomen Gegenstand, um dessen pragmatische Effekte innerhalb des Kommunikationssystems genauer zu analy-sieren.7 Erweiterte man aber das Genette’sche Analyseschema, das räumliche und zeitliche Aspekte, aber auch Fragen nach Gestaltungsmerkmalen, nach der Bezie-hung von Sender und Empfänger und der Funktion fokussiere,8 um eine herme-neutische Sichtweise, könnten sich neue Perspektiven eröffnen. Del Lungo schlägt deshalb vor, nicht nur die pragmatische Funktion des Paratexts, also die Steuerung der Leserschaft, sondern auch Verfahren der Sinnerzeugung zu beachten:9 Durch eine hermeneutische, also auf die Textbedeutung ausgerichtete Perspektive ließe sich das Spiel der (Para-)Texte mit Wahrheit und Täuschung, Realität und Fiktion besser fassen;10 vor allem aber könnte das Verhältnis von Para- und literarischem Text neu bestimmt werden, wenn beispielsweise metaliterarische Hinweise eines Vorworts als „hermeneutischer Schlüssel“11 zur Lektüre und Interpretation des lite-rarischen Texts genutzt würden. Weil Del Lungo in der Analyse des Zusammen-spiels von Paratext und Text ein Hauptanliegen der Forschung sieht, empfiehlt er, sich auf Paratexte zu konzentrieren, die nicht zu weit vom Werk entfernt sind, also nach Möglichkeit die Grenzen des Buches nicht überschreiten, mit anderen Worten sich letztlich, auch, um einen zu breit gefassten Begriff und Gegenstand zu vermeiden, auf Peritexte zu beschränken.12 Dabei sollte der Paratext weniger als Kommentar gedacht als in Hinblick auf seine konnotativen und semantischen

6 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 102ff.

7 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 101.

8 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 100.

9 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 104.

10 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 104ff.

11 „clé herméneutique“; Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 109.

12 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 110.

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Bedeutungen untersucht werden, auf die sich eine Interpretation des literarischen Werks stützen kann.13

Auch in anderen Beiträgen wird – allerdings ohne den Genette’schen Ansatz in Frage zu stellen – vor allem das Verhältnis von Texten zueinander in den Vorder-grund gerückt: Es wird versucht, die Wechselbeziehung von Paratext und fiktiona-lem Werk zu ermitteln und zu erklären, wie sich die Lektüre durch die Kenntnis des zugehörigen Paratexts verändert. Dabei finden sowohl zum Text gehörende Elemente wie Titel oder in den literarischen Text eingefügte metatextuelle Frag-mente, Peritexte in der Form von Vor- und Nachworten oder den Texten beige-fügten Autorbiographien als auch Epitexte, die nicht materiell mit einem Basistext verbunden sind, Berücksichtigung. Auffallend ist, dass man hierfür, ganz anders als Andrea Del Lungo, bisweilen auf einen relativ offenen Paratextbegriff zurück-greift: Ingacio Iñarrea Las Heras (Texte, paratexte et lexique espagnol dans le „Voyage d’Espagne“ (1736) de Guillaume Manier – „Text, Paratext und spanischer Wortschatz in Voyage d’Espagne (1736) von Guillaume Manier“) etwa stellt über das Paratext-modell einen Zusammenhang zwischen zwei unabhängig voneinander publizier-ten Texpublizier-ten her, dem Reisebericht Voyage d’Espagne („Spanienreise“) aus dem Jahre 1736 und einem als Rapport d’une partie de la langue espagnole („Bericht über einen Teil der spanischen Sprache“) betitelten Glossar spanischer Wörter. Beide Texte wurden von Guillaume Manier nach einer Pilgerfahrt durch Spanien verfasst; ihre Verbindung beruht aber nicht nur auf dem gemeinsamen Kontext der Entstehung,

sondern zeigt sich vor allem darin, dass die semantischen Felder, die das Glossar abdeckt, auf die im Reisebericht geschilderten Erfahrungen bezogen sind.14 Für den hypothetischen Leser – dessen Bedeutung Iñarrea Las Heras besonders hervorhebt15 – dürfte sowohl der Bericht als auch das Glossar bei einem Spanienbesuch eine

wertvolle Hilfe sein; gleichzeitig bereichert und erleichtert das Glossar die Lektüre der Reiseschilderungen. Iñarrea Las Heras geht sogar so weit zu sagen, dass ein vollständiges und korrektes Verständnis des Texts erst bei gleichzeitiger Kenntnis des Glossars gegeben sei – in diesem Sinne fungiert das Wörterverzeichnis nicht nur als Beiwerk, sondern als wichtiger paratextueller Bestandteil des Reiseberichts, der für Iñarrea Las Heras die narrative Basis darstellt.16

Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Anne Cayuela: Auch sie verweist darauf, dass Paratexte einen besseren Zugang zum literarischen Werk ermöglichen können.

In dem von ihr analysierten Textkorpus wird dieses Argument bisweilen sogar von

13 Del Lungo: Seuils, vingt ans après (2009), 111.

14 Iñarrea Las Heras: Texte, paratexte et lexique espagnol dans le Voyage d’Espagne (2013), 358ff.

15 Iñarrea Las Heras: Texte, paratexte et lexique espagnol dans le Voyage d’Espagne (2013), 355.

16 Iñarrea Las Heras: Texte, paratexte et lexique espagnol dans le Voyage d’Espagne (2013), 367.

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den Verfassern der Paratexte selbst als eine Art Rechtfertigung für ihr Schreiben angeführt, indem sie erklären, dass ihre Ausführungen für die Lektüre des lite-rarischen Texts unabdingbare Informationen enthalten:17 Man beachte z. B. den Paratexttitel Discurso breve sobre la vida […] necesario para entendimiento de sus obras,18 also „Kurzer, für das Verständnis der Werke notwendiger Diskurs über das Leben [des Autors]“. Cayuela untersucht biographische Fragmente in allographen spanischen Paratexten des 16. und 17. Jahrhunderts (Fragments de biographie dans le paratexte (XVIe–XVIIe siècles): vies „trouées“ et „morceaux“ choisis, „Biographische Fragmente im Paratext (16.–17. Jahrhundert): ,gelöchterte‘ Leben und ausgewählte ,Stücke‘“), wobei sie besonderes Augenmerk auf – zumeist mit „Leben des Autors“19 überschriebene und den literarischen Werken beigefügte – Autorenporträts legt, die nicht vom Autor selbst stammen. Durch diese Konzentration auf Biographien geht es bei Cayuela jedoch weniger um das Verhältnis von Texten zueinander als um die Verbindung von Werk und Autor, die über den Paratext hergestellt wird:

Paratexte erläutern ihr zufolge das Umfeld und die Umstände der Publikation eines Werks näher, stellen also eine Relation zwischen der Biographie des Texts und der

des Autors her;20 außerdem werden Ereignisse im Leben des Autors in Beziehung zu seinem literarischen Schaffen gesetzt, wobei das Verhältnis von Wahrheit und Fiktion, insbesondere dann, wenn der literarische Text autobiographische Züge aufweist – neu bestimmt wird, etwa wenn der Autor des Paratexts in der biogra-phischen Skizze darauf verweist, dass im fiktionalen Text geschilderte Ereignisse auf wahren Begebenheiten im Leben des Literaten beruhen.21 Der Paratext wird in diesem Zusammenhang als zentrales Medium zur Inszenierung von Autorschaft aufgefasst: Laut Cayuela zeige sich dabei häufig die Tendenz, das außergewöhn-liche Talent des Schriftstellers herauszustreichen, nicht selten, um seinem Reich-tum an Fähigkeiten die eigene materielle Armut, finanzielle Abhängigkeit und die Schwierigkeiten, das alltägliche Leben zu meistern, gegenüberzustellen. Gerade Biographen, die in einem besonderen Nahverhältnis zum Autor stehen, neigten nach Ansicht der Autorin dazu, biographische Elemente dazu einzusetzen, um ein mythologisiertes Bild des Künstlers zu konstruieren.22

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Aufsatz von Maricela Strungariu zu paratextuellen Elementen in den autobiographischen Schriften von

17 Cayuela: Fragments de biographie dans le paratexte (2012), 27.

18 Pedro de Cáceres, Biographie zu Gregorio Silvestre, zit. nach Cayuela: Fragments de biogra-phie dans le paratexte (2012), 27.

19 „Vie du poète“; Cayuela: Fragments de biographie dans le paratexte (2012), 22.

20 Cayuela: Fragments de biographie dans le paratexte (2012), 24.

21 Cayuela: Fragments de biographie dans le paratexte (2012), 23.

22 Cayuela: Fragments de biographie dans le paratexte (2012), 32f.

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Michel Leiris (La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobiographiques leirisiens – „Die Tragweite der paratextuellen Elemente in den autobiographischen Schriften von Leiris“), in dem sie ebenfalls das komplexe Wechselspiel von Wahr-heit und Fiktion und das Auflösen der Grenzen zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Schreiben thematisiert, wobei sie vor allem Leiris’ Hang zum literari-schen (Versteck-)Spiel betont.23 Strungariu analysiert sowohl Titel, Zwischentitel und Widmungen als auch Vorworte, den Kapiteln vorangestellte Inschriften und als Autorenkommentare fungierende, metatextuelle Fragmente in den Texten, also Peritexte im Genette’schen Sinn, die sie vor allem als Interpretationshinweise deu-tet. Anders als in konventionellen autobiographischen Schriften entsprechen diese paratextuellen Elemente bei Leiris nicht dem traditionellen Muster der Autobio-graphie, d. h. sie verweisen nicht auf Genre und Status des Werks, sondern auf dessen Inhalt:24 Durch das Fehlen von generischen Angaben wird die Zugehörig-keit des Texts zur Gattung der Autobiographie verschleiert; an ihre Stelle treten Anspielungen auf inhaltliche Aspekte, mit denen dem Leser Deutungsmuster für die Lektüre angeboten werden. Der literarische Text wird dabei in ein verzweigtes Netz von inner- und außerliterarischen Bezügen eingebettet, etwa im Hinblick auf historische, soziale und kulturelle Kontexte, eigene und fremde Texte sowie literarische Traditionen, persönliche Erfahrungen des Autors, seine literarischen Vorlieben, Verfahren, Schaffensprozesse etc. Der Paratext eröffnet somit neue Sinn-zusammenhänge bei der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text, wobei gerade Techniken der Verhüllung (etwa der Verzicht auf direkte Erklärungen und das Spiel mit Metaphern und Symbolen) assoziative Mechanismen im Leser aus-lösen – Strungariu spricht hier mit Rückgriff auf Genette von der Funktion der Verführung25 des Paratexts. Dem Verhältnis von Autor und Leser wird im – stark am pragmatisch-dialogisch ausgerichteten Konzept Genettes orientierten – Beitrag Strungarius prinzipiell ein hoher Stellenwert beigemessen: Sie spricht von einem über den Paratext hergestellten „Lektürevertrag“26 und „Pakt mit dem Leser“,27 mit dem der Autor in den Dialog tritt. Da dieser sich direkt an eine virtuelle Leserschaft

23 Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobiographiques leirisiens (2007), 77ff.

24 Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobiographiques leirisiens (2007), 77.

25 „fonction de séduction“; Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits auto-biographiques leirisiens (2007), 78.

26 „contract de lecture“; Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobio-graphiques leirisiens (2007), 103.

27 „pacte avec le lecteur“; Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobio-graphiques leirisiens (2007), 76.

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wendet, fließt auch deren Perspektive in den Paratext mit ein: Bezieht sich bei-spielweise ein Paratext (etwa ein Vorwort für eine zweite Auflage) auf einen bereits veröffentlichten Text, wird – neben der Stimme des autobiographischen Erzählers und des Autors, der zum Leser und Kritiker seiner eigenen Texte wird – auch die Stimme der realen Leser, also z. B. jener, die sich zu einer früheren Textausgabe geäußert haben, hörbar, indem der Autor auf deren Kommentare reagiert. Dadurch entsteht ein vielstimmiger Text, der die Komplexität der literarischen Kommuni-kation widerspiegelt.28

Der Paratext als eine Auseinandersetzung mit dem Publikum und Antwort auf Kritikerreaktionen rückt schließlich vor allem in jenen Beiträgen in den Vordergrund, die sich näher mit Dramatikern befassen: Benoît Barut analysiert die paratextuel-len Strategien der Verteidigung bei Victor Hugo und Boris Vian (Les dramaturges et leurs critiques. Poétiques paratextuelles de la riposte chez Victor Hugo et Boris Vian – „Die Dramatiker und ihre Kritiker. Paratextuelle Poetiken des Gegenschlags bei Victor Hugo und Boris Vian“), wobei unterschiedliche Verfahrensweisen gegen-übergestellt werden, etwa Hugos Einsatz von Bibliographien und Urkunden als Beleg für die Authentizität seiner Geschichten, oder Vians Methode, Rezensionen als allographen Paratext anzufügen, um ihre Wiederholungsstruktur offenzulegen.

Gemeinsam ist beiden Autoren, dass sie sich mit ihren Paratexten an ein Lese- abseits vom Theaterpublikum wenden – ein Aspekt, den Julia Gros de Gasquet in ihrem Beitrag zu den auktorialen Paratexten im Theater des 20. Jahrhunderts (Publier/résister: le rôle des paratextes d’auteurs dans le théâtre de la seconde moitié du XXe siècle – „Veröffentlichen/sich wehren: Die Rolle von auktorialen Paratexten im Theater der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“) besonders hervorhebt. Gros de Gasquet interpretiert Paratexte von Valère Novarina, Jean Genet, Bernard-Marie Koltès und Michel Vinaver als Ausdruck eines komplexen Beziehungsgeflechts, in dem Autor, Regisseur, Theaterkritiker und Zuschauer interagieren; die Kommen-tare der Autoren sieht sie dabei nicht allein als Widerstand gegen Regisseure oder Rezensenten, sondern vielmehr als eine an den intellektuellen Leser gerichtete, reflexive Auseinandersetzung mit Theatralität.29

In dem sehr komprimierten, manchmal nähere Erläuterungen vermissen las-senden Aufsatz Le paratexte spectaculaire : un opérateur négligé („Der theatrale Paratext: ein vernachlässigtes Instrument“) bemüht sich André Helbo ebenfalls, Theatertexte in einen soziokulturellen Kommunikationszusammenhang

einzubet-ten, indem er den Genette’schen Fragen nach dem Wo, Wann, Wie, Warum und

28 Strungariu: La portée des éléments paratextuels dans les écrits autobiographiques leirisiens (2007), 92, 101.

29 Gros de Gasquet: Publier/résister (2010), 144.

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Zwischen Fakt und Fiktion – zu einigen Aspekten der frankophonen Paratextforschung

den beteiligten Akteuren nachgeht.30 Seiner Ansicht nach dürfte die bislang von der Forschung vernachlässigte Untersuchung der Textualität und Transtextualität von Bühnenstücken neue Erkenntnisse bringen, wobei möglichst viele Formen des Paratexts, von auktorialen Anweisungen an den Regisseur bis hin zu Eintritts-karten und Programmheften, aber auch Bedingungen des Theaterlebens wie der Status des Publikums, Eintrittspreise, Kleidervorschriften, etc. berücksichtigt wer-den müssten. Um der Komplexität des theatralen Felds gerecht zu werwer-den, erhebt Helbo die Forderung nach einem neuen Analyseinstrumentarium, mit dem die Vielschichtigkeit der Kommunikationsprozesse, die mit der theatralen Inszenierung von Texten einhergehen, erfasst werden könnten.31

Wenngleich sich die hier berücksichtigten Beiträge mit völlig unterschiedlichen Autoren beschäftigen und jeweils andere Schwerpunkte setzen, kristallisieren sich doch einige grundlegende Ansätze in der frankophonen Paratextforschung heraus:

Einerseits wird der Paratext in Beziehung zum literarischen Werk gesetzt, dessen Auslegung er erleichtert und mitbestimmt, andererseits wird über den Paratext eine Verbindung zum literarischen Feld, insbesondere im Hinblick auf seine Ins-tanzen und Akteure (also Autor, Leser, Verleger, Kritiker etc.) hergestellt. Ihre aktive Rolle als Dialogpartner erhält besondere Beachtung, wobei vor allem das Spiel des Autors mit seinem (hypothetischen) Leser, den er zu beeinflussen und zu steuern, aber immer wieder auch zu irritieren versucht, in den Mittelpunkt rückt.

Das komplexe Spannungsverhältnis von Wahrheit und Fiktion wird dabei in fast allen Aufsätzen als einer der wichtigsten Aspekte der Paratextforschung angesehen.

Darin korrespondiert sie auffällig mit jenen künstlerischen Bewegungen, die der amerikanische Autor David Shields in seinem Buch Reality Hunger. Ein Manifest als symptomatisch für eine fortgeschrittene Mediengesellschaft deklariert und als deren Kennzeichen er unter anderem das Verwischen der Unterscheidung von Fik-tion und Nicht-FikFik-tion ausgemacht hat. Shields lotet nicht nur Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, zwischen Reportage und Erfindung, Originalität und

Darin korrespondiert sie auffällig mit jenen künstlerischen Bewegungen, die der amerikanische Autor David Shields in seinem Buch Reality Hunger. Ein Manifest als symptomatisch für eine fortgeschrittene Mediengesellschaft deklariert und als deren Kennzeichen er unter anderem das Verwischen der Unterscheidung von Fik-tion und Nicht-FikFik-tion ausgemacht hat. Shields lotet nicht nur Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, zwischen Reportage und Erfindung, Originalität und

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