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Christoph Jürgensen

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 164-184)

1.

Joseph Görres hat sich keineswegs als Autor im starken Sinn verstanden. So zeigte er sich etwa verwundert, dass Voss’ Invektiven im sogenannten Sonettenkrieg,1 der Heidelberg für eine kurze Zeit zum Kampfplatz zwischen Romantikern und Anti-Romantikern gemacht hatte, ausgerechnet gegen ihn gerichtet waren – sei er doch „kein Dichter“.2 Und man mag Görres in diesem Selbstbild zustimmen, auch wenn er zwar dichtete, aber eben nur sporadisch. Aber was war er dann?

Mit mehr oder minder jeder Idee seiner Zeit hat sich Görres beschäftigt, und dies in allen möglichen Textsorten und allen möglichen Handlungsrollen, die die Gelehrtenrepublik bot: mit Kunst und Literatur, Philosophie und Religion, Mathematik und Technik, in je nach Werkphase und beruflicher Stellung gra-duell unterschiedlichem Mischungsverhältnis. Entsprechend schwer fiel es schon seinen Zeitgenossen, den schreibenden Proteus zu fassen, weshalb ihn Jean Paul mit einer viel zitierten Formel „einen Mann, der aus Männern besteht“3 genannt hat. Und entsprechend schwierig ist ebenfalls, nun mit Blick auf das Thema des vorliegenden Bandes formuliert, im Fall von Görres zu bestimmen, was überhaupt Text und was Paratext ist. Vielleicht geht es so: Versteht man Autorschaft allgemein als Konfiguration, die je erst aus dem Zusammenspiel von Texten, Paratexten und weiteren Kontexten hervorgebracht wird und dabei immer wieder aktualisiert wer-den muss, und versteht man all diese Begriffe entsprechend nicht essentialistisch, sondern bestimmt sie relational, dann ist Görres ein typischer Fall für ein Autor-schaftsmodell im Zeichen der Befreiungskriege. Das Konzept der Paratextualität

1 Ausführliche Darstellungen des ‚Sonettkrieges‘ finden sich etwa bei Welti: Geschichte des Sonettes (1884), 197–219 oder Schlütter: Sonett (1979), 15–19.

2 So Görres brieflich an Charles de Villers, 01.08.1808. In: Isler: Briefe an Charles de Villers (1883), 79.

3 Jean Paul an Görres, 16.08.1822. In: Binder: Freundesbriefe (1874), 23.

wird hier autorschaftszentriert verstanden, d. h.: Mit Genette gehe ich davon aus, dass das Primat des Autorstandpunktes „das implizite Credo und die spontane Ideologie des Paratextes ist“ (PT, 389).4 Genauer: Für gut zwei Jahre wird Görres durch die veränderten Rahmenbedingungen des Diskurses nicht nur ‚einfach‘ vom Gelehrten zum Autor mit einem zeittypischen Werk, sondern sogar geradezu zum Idealtypus eines Autors, von dem nun eine Abwendung von der Autonomieästhe-tik und eine Hinwendung zur HeteronomieästheAutonomieästhe-tik verlangt wird, vorbildhaft für

‚klassische Autoren‘ wie Achim von Arnim, Clemens Brentano oder Joseph von Eichendorff – um nur drei zu nennen, die in dieser Zeit ebenfalls einen heterono-mieästhetischen turn vollziehen. Denn im Selbstverständnis des ‚Gestaltwechslers‘

Görres (um ein wenig freundlich gemeintes Wort von Voss zu zitieren5) lässt sich durchaus ein archimedischer Punkt bestimmen, und zwar die Entschiedenheit, mit der er die zeitgenössische Leitdifferenz von ‚Wort und Tat‘ in das für ihn passende Verhältnis setzt – ja bei vielleicht keinem Schriftsteller der Zeit ist der ‚sense of

ones place‘6 derart ausgeprägt wie bei Görres. Um diesen ‚archimedischen Punkt‘

herum angeordnet sind Konstanten in seinem Wollen, Wesen und Werk, die ihn zum Feder-Krieger gegen Napoleon prädestinieren: ein vehementer Patriotismus, eine unbedingte Bereitschaft zur öffentlichen Einmischung, die kaum je verhal-tene Tendenz zur Kontroverse. Ausschließlicher hat kein Schreibender der Zeit seine Feder im Kampf gegen Napoleon geführt als Görres mit seinem Rheinischen Merkur – und alle Werk- und Lebensphasen vor Gründung dieser Zeitung wirken im Rückblick wie Vorbereitungen auf denjenigen Moment, in dem seine selbstge-setzte Bestimmung als ‚Zeit-Schriftsteller‘ zur vollen Entfaltung kommen konnte.

Wollte man diese Phasen rekonstruieren, dann müsste man u. a. zeigen, wie er sich 1797 in seiner an Kant angelehnten Schrift Der allgemeine Friede als ‚phi-losophischer Politiker‘ in Szene setzt. Man müsste erzählen, wie Görres an vor-derster Front dabei ist, als die Koblenzer Cisrhenanier in erfundenen Uniformen

4 Zumindest ist nach Genette der Standpunkt des Autors ein Moment der Interpretation, das wahrgenommen werden sollte, wenn auch nur, um ihm fundiert widersprechen zu können:

„Was man nicht ignorieren kann, soll man besser kennen, das heißt natürlich: wiedererken-nen und erkenwiedererken-nen, daß man es kennt.“ (PT, 390) Zu Genettes Konzeption und seinen in-tentionalistischen Konsequenzen siehe Jürgensen: „Der Rahmen arbeitet“ (2007); zu Stellung und Funktionalität des Paratextes im Zuge der Hervorbringung von Autorschaft siehe grund-sätzlich Jürgensen/Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken (2011).

5 Voß: Antisymbolik (1826), 257. Voß ist es mit dieser Charakterisierung darum zu tun, Gör-res’ Wechsel vom „Schwärmer für jakobinische Pöbelherrschaft“ zum „Schwärmer für hilde-brandische Priestergewalt“ zu inkriminieren. Die gesamte „Lebensgeschichte“ wolle er aller-dings nicht liefern, da er (wendet er eine Formulierung von Görres gegen diesen selbst) „mit ihr das Würdige der öffentlichen Presse nicht misbrauchen und besudeln will.“ (Ebd., 257f.).

6 Goffman: Symbols of Class Status (1951), 297.

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eine (ziemlich kurzlebige) Republik ausrufen.7 Vor allem aber wäre darzustellen, wie Görres sich erstmalig als eigenständige politische Instanz in Stellung bringt, indem er das Rothe Blatt herausgibt, eine mehr oder minder komplett von ihm selbst verfasste Zeitung, deren programmatisches Vorwort an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt:

Der Pfaffheit werden wir die Larve abziehen, Heuchler und Hypokriten ver-folgen, gesunde Ideen in Umlauf zu setzen suchen, und so viel an uns ist, dem Republikanis’m einen vollständigen Sieg über seine lichtscheuen Gegner erkämp-fen helerkämp-fen.8

Angetrieben wird dieser Kampf von der Überzeugung, dass ‚Publizität‘ das wirk-samste Mittel für moralische Aufrüstung der Bevölkerung einerseits und sozu-sagen die Entwaffnung der „Blutsauger, Selbstsüchtler und Schleppenträger des Despotism“9 andererseits ist – und von der offensiv artikulierten Überzeugung, dass Görres selbst diesen Kampf als „Zeit-Schriftsteller“10 führen muss. Alles in allem liest sich das Rothe Blatt damit ex post wie eine Vorschule zum Rheinischen Mer-kur, hier wird eingeübt, was unter geänderten politischen Verhältnissen zur Reife gelangen sollte. Die Geschichte des Rothen Blattes muss an anderer Stelle noch geschrieben werden, hier muss der Hinweis reichen, dass die politische Situation und namentlich die Zensur schnell wieder zur Einstellung des Blattes führten. Zu zeigen wäre dann, wie für den engagierten Publizisten in Sicht auf das Konzept der Einheit von Wort und Tat nun eine lange Latenz-Phase begann, die ihn an verschiedenen Orten und in verschiedenen Rollen sah, als Mythenforscher und Naturphilosophen, Religionswissenschaftler und Literarhistoriker – mit Hölder-lins Formel aus der Ode An die Deutschen geurteilt, er ist nun „Thatenarm und gedankenvoll“.11 Und schließlich erblickte eine solche Rekonstruktion Görres dabei, wie er für Friedrich Perthes Vaterländisches Museum grundlegende Reflexionen über den Fall Teutschland und die Bedingungen seiner Wiedergeburt anstellt und dabei vor allem wieder einmal die Bedeutung der öffentlichen Meinung für die ‚Wiederge-burt‘ der Nation proklamiert:

7 Siehe hierzu Fink-Lang: Joseph Görres (2013), 42–45.

8 Görres: Vorwort. Politische Schriften der Frühzeit (1928), 74.

9 Görres: Vorwort. Politische Schriften der Frühzeit (1928), 74.

10 Görres: Vorwort. Politische Schriften der Frühzeit (1928), 74.

11 Hölderlin: An die Deutschen. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe Bd. 1 (1992), 265.

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Jeder, der in dieser Zeit nicht bedeutungslos gelebt und ein festes, sicheres Urteil sich erworben [...], hat den Beruf, zu sprechen in allen Angelegenheiten, die mit dem gemeinen Wesen zusammenhängen. Es ist nicht möglich, daß dem, der mit Mäßigung, aber ohne Scheu diesen Beruf ausübt, ein Leid widerfahre, wenn die ganze Nation und das Recht sich für ihn erklärt. [...] Darum zage Keiner, es gilt ein bedeutendes Gut: gelänge der der Nation, die bisher lautlos stumm geblieben, solche Sprache zu gewinnen, alles Unglück dieser Zeit wäre nur Vorbereitung zu ihrer Wiedergeburt gewesen.12

Kurz gesagt: Das Vaterländische Museum musste auf öffentlichen Druck schnell wieder eingestellt werden, Görres aber hatte sich sozusagen selbst angekündigt;

denn die Gelegenheit, der stummen Nation eine Stimme zu geben, sollte ja bald darauf kommen.

2.

Der geschichtsträchtige 17. März 1813, an dem die Kriegserklärung Preußens an Frankreich erfolgte, ging am französisch besetzten Koblenz noch folgenlos vorüber, erst der folgende Jahreswechsel bringt das Ende der zwei Jahrzehnte andauernden Besetzungszeit und ändert die Bedingungen für publizistische Agitation kardinal:

Der Zeitpunkt ist gekommen, ab dem Görres seiner hohen Meinung von einer engagierten Publizistik im Allgemeinen und seiner Berufung zum Publizisten im Besonderen gemäß agieren kann, und er ergreift diese Gelegenheit sofort und entschieden. Bereits gut drei Wochen nach dem Machtwechsel, am 23. Januar 1814, erscheint die erste Ausgabe des Rheinischen Merkur. Noch einmal in Sicht auf das Thema dieses Bandes gesagt: Aus dem Medium ‚Zeitung‘, das Görres bis dahin als eines unter vielen bedient hatte, das also eher Beiwerk als Hauptwerk war, wurde nun das zentrale Medium, d. h. es wurde gewissermaßen vom Paratext (oder genauer: vom Epitext) zum Haupttext umgewidmet – wodurch zugleich strukturlogisch alle anderen textlichen Äußerungen sowie der gesamte Lebensstil (den Genette als faktischen Paratext bezeichnen würde)13 zum Epitext der Zeitung werden. Anschaulich zeigt sich hier, dass es Autorschaft nicht gibt, sondern sie

12 Orion [Görres]: Reflexionen über den Fall Teutschlands und die Bedingungen seiner Wieder-geburt. In: Görres: Politische Schriften (1928), 131f.

13 Siehe hierzu PT, 14f.

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sich je manifestieren muss (um Tomaševskij zu beleihen14) im Zusammenspiel der jeweiligen literarischen Konzeption mit der zugehörigen literarischen Konzeption des jeweiligen Dichterlebens, d. h. in der Konfiguration von Texten, Paratexten und Kontexten – und dass dementsprechend das Verhältnis zwischen Texten und

‚ihren‘ Paratexten nicht stabil, sondern dynamisch ist, eines kann je nach Wandel des Modells von Autorschaft ebenso gut plötzlich das andere sein.

Aber von dieser allgemeinen Überlegung dazu, dass Autorschaft das Ergebnis einer „Erzeugungsstrategie“15 ist, zurück zu Görres und seinen spezifischen (und reichlich dynamischen) autorschaftlichen Verwandlungen: Nur folgerichtig muss erscheinen, dass die Ausrichtung der Zeitung nach der ‚Vorschule‘ des Rothen Blat-tes nicht erst mühsam und über mehrere Ausgaben justiert werden muss, sondern Programm und Adressierung gewissermaßen von Beginn an ‚da‘ sind. Görres kann dem Rheinischen Merkur also ein programmatisches Vorwort vorausschicken, das zumindest bis zum Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 seine Gültigkeit behalten wird:

Das teutsche Volk, durch Dünkel, Habsucht, Neid und Unverstand schon tau-sendfältig in sich selbst entzweit, durch Trägheit und Erschlaffung aufgelöset und darum einem übermütigen Feinde von der Vorsicht preisgegeben, der alle Gewalttätigkeiten seiner Revolution zu ihm hinübertrug; dies Volk, gedemütigt, gedrückt, unter die Füße getreten, verspottet und verhöhnt, entwaffnet oder gegen sich selbst zum Streite angehetzt, hat wie ein gebundener Riese sich erhoben, und alle Ketten sind wie eine böse Verblendung von ihm abgefallen, und die ihn plag-ten, sind vergangen wie üble Träume mit dem Lichte des Morgens.16

Angesichts dieser historischen Wendung möchte „die neue Redaktion“ (sprich:

Görres selbst) ihr Blatt „zu mehr als einer gewöhnlichen Zeitung“ erheben.

„[N]ach Ihrem Wunsche, und wenn die Mitbürger ihren Beistand nicht versagen, soll sie eine Stimme der Völkerschaften diesseits des Rheins werden.“17 Aber frei-lich will der Rheinische Merkur nicht einfach nur Stimme sein, vielmehr will er bzw. Görres zur Mobilmachung gegen Napoleon beitragen: „Dazu vorzüglich sind diese bestimmt, die Bewohner dieses Landes über jene Verhältnisse aufzuklären, damit sie ihre Zeit deutlich begreifen lernen und dann nach bestem Wissen ihre

14 Tomaševskij: Literatur und Biographie (2003), 49–61.

15 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen (2004).

16 [Görres]: [Vorwort], In: Rheinischer Merkur Nr. 1, 23.01.1814. (Hier wie im Folgenden ohne Seitenzahl angegeben, weil die Zeitschrift nicht paginiert ist).

17 [Görres]: [Vorwort], In: Rheinischer Merkur Nr. 1, 23.01.1814

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Partei ergreifen können.“18 Und sowohl argumentationslogisch als auch wirkungs-pragmatisch sinnvoll ist es von diesem Ziel aus, nicht nur die Leser und potenti-ellen Kämpfer der Rheinländer anzusprechen, sondern letztlich alle ‚Deutschen‘

zu adressieren und dergestalt auf die einst verlorene und nun wiederzuerlangende Einheit hinzuwirken:

Aber auch dem jenseitigen Teutschland möchten diese Blätter gerne etwas wer-den. Denn [...] jetzt, wo mit dem Erwachen des Nationalgeistes der Körper sich wieder in allen seinen Gliedern fühlt und ein reges Interesse auch die fernsten Völkerschaften teutscher Zunge und teutschen Herzens in einem gemeinsamen Gefühle zusammenfaßt, können wir hoffen, daß auch von dieser Seite die Ver-hältnisse alter Landsmannschaft von neuem sich knüpfen werden, und daß man uns in derselben Gesinnung entgegenkomme, in der wir dem Bunde nahen.19

Dieser Programmatik entsprechend setzt Görres in den folgenden zwei Jahren das gesamte Kapital, das er bis dahin angesammelt hat, für seine Ziele ein, sei es kulturelles, soziales oder symbolisches. Mit gutem Gewissen in Sicht auf die pat-riotische Pflicht zum Kampf gegen Napoleon kann er daher im Februar 1814 an Wilhelm Grimm schreiben: „Der schlagenden Arme sind so viele, daß man wohl mit Ehren die seinen schreiben lassen kann“,20 und mehr noch, den Breslauer Pro-fessor Heinrich Steffens kritisierte er sogar für seinen Einsatz als Kriegsfreiwilliger, wie sich dessen Lebenserinnerungen entnehmen lässt:

Ich war überrascht, als er mich tadelte, daß ich den Krieg mitmachte. ‚Der Gelehrte‘, meinte er, ‚wäre verpflichtet, sich für sein geistiges Werk zu erhalten.‘ Mir aber ward unsre Verschiedenheit eben durch diese Ansicht klar. Die Feder war seine Waffe, weniger die meinige [...].21

18 [Görres]: [Vorwort], In: Rheinischer Merkur Nr. 1, 23.01.1814 19 [Görres]: [Vorwort], In: Rheinischer Merkur Nr. 1, 23.01.1814 20 Görres an Grimm, 17.02.1814. In: Binder: Freundesbriefe (1874).

21 Steffens: Was ich erlebte (1843), 364. Ein anonymer Schreiber will gegen dieses Selbstbild als Federkrieger wissen, dass Görres zumindest an Waffenübungen teilgenommen hat: „Der Redacteur des Rheinischen Mercurs, Herr Doctor Görres in Coblenz, feuert nicht nur durch seine kräftige deutsch-patriotische Sprache und Schrift die Bewohner der Rhein-Provinzen zum Kampf für die gute Sache an, sondern geht ihnen auch selbst mit dem besten Beispiele voran, indem er fast täglich an den Waffen-Uebungen Theil nimmt und einer der thätigsten unter den bewaffneten Bidermännern der Bürger-Miliz ist.“ (Schreiben vom Nieder-Rhein vom 03.05.1815. In: Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Cor-168 Christoph Jürgensen

Auf die Zeitgenossen wirkte er dabei einerseits gleichsam wie eine Ein-Feder-Privat-Armee, andererseits konnte er aber auf ein weitverzweigtes Netz an Bezie-hungen zurückgreifen, nicht nur im literarischen, sondern auch im politischen Feld. Einen deutlichen Hinweis auf die Kontakte zur politischen Klasse bietet dabei gleich der erste Satz des eben schon angeführten Vorworts: „Die gegenwärtigen Blätter, deren Erscheinung auf kurze Zeit unterbrochen war, sollen auf Anregung der höheren Behörden von neuem fortgesetzt werden.“22 Ein offizielles politisches Blatt war der Rheinische Merkur folglich zwar nicht, wie sie etwa von Kotzebue oder Ernst Moritz Arndt im Auftrag des Russischen Zaren herausgegeben wurden. Aber es wurde doch immerhin ‚angeregt‘ aus dem politischen Feld, womit hier konkret Justus Gruner gemeint ist, zum Kreis der preußischen Militärreformer um Hein-rich FriedHein-rich Karl vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg gehörig, seit Ende 1813 Mitglied des Zentralverwaltungsrates und ab Februar 1814 dann als Gouverneur im Generalgouvernement Mittelrhein tätig. Dieser Gruner also machte Görres den Vorschlag, das ebenfalls halboffizielle, aber reichlich unpolitische Nach-richtenblatt Mercure de Rhin mit neuer Ausrichtung herauszugeben – ein Organ, das für Görres „nichts als der elende Nachhall elender Pariser Blätter“23 darstellte und aus seiner Sicht entsprechend einen Programmwechsel gut gebrauchen konnte.

Freundschaftlichen Verkehr pflegte Görres überdies mit Neidhardt von Gneisenau, und mit Stein arbeitete er für den Rheinischen Merkur phasenweise eng zusammen – nicht so eng zwar wie Arndt, als dessen Impresario Stein geradezu fungierte, aber

doch so, dass es den Charakter seiner Zeitung prägte.

Diese Kooperation mit exponierten Protagonisten des politischen Feldes verdankt es Görres mithin zu einem großen Teil, dass der Rheinische Merkur vergleichsweise schnell und sicher mit Nachrichten ‚aus dem Feld‘ versorgt wird, dass er amtliche Kriegsberichte abdrucken und den Stand der Kampfhandlungen zeitlich außerge-wöhnlich nah an den Ereignissen rekapitulieren kann, wobei die Informationen aus preußischen Behörden zunehmend ergänzt werden durch die Nachrichten bezahlter Korrespondenten in Brüssel, Rom, Wien, Paris, den Niederlanden und der Schweiz. Um nur ein Beispiel für die Form der Kooperation zu geben, die der Rheinische Merkur mit den Militärinstanzen eingeht: So druckt er am 5. März 1814 die Aufforderung an die Männer und Jünglinge des Mittel-Rheins zum freiwilligen Kampfe für das alte gemeinsame deutsche Vaterland ab, ergänzt um eine Bestimmung

respondenten, Nr. 73., 09.05.1815, 6). Ansonsten sind solche Übungen der Forschung zu Görres aber nicht bekannt.

22 [Görres]: [Vorwort], In: Rheinischer Merkur (1928) Nr. 1, 23.01.1814.

23 Ebd. Zum Mercure de Rhin siehe Heuvel: A German Life in the Age of Revolution (2001), 181f.

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„Jesaias, Dante und manchmal Shakespeare“: Joseph Görres und der Rheinische Merkur

für die Schaar der Freiwilligen von Rhein, der Mosel und Saar, beides von Justus Gruner unterzeichnet. Doch Görres belässt es nicht bei einem unkommentierten Abdruck, sondern unterstützt die Aufforderung nachdrücklich: „Jünglinge dieses Landes hört auf diese Rede, die ein wohlmeinender Mann aus voller bewegter Seele euch ins Herz gesprochen!“24

Die faktuale antinapoleonische Rede wird immer wieder flankiert von literari-schen Texten, die den selben politiliterari-schen Impetus erkennen lassen und dabei doku-mentieren, dass Görres auch das im literarischen Feld erworbene soziale Kapital einzusetzen weiß, ja kaum eine Verbindung bleibt ungenutzt: So kann er Gedichte von Max von Schenkendorf, Clemens Brentano oder Wilhelm Blomberg abdrucken (und ergänzt diese aktuellen Texte beispielsweise um Heinrich von Kleists Kriegs-lied für die teutschen Jäger), bringt Auszüge aus Briefen von Paul Wigand, Artikel von Arnim, Creuzer und Wilhelm und Jakob Grimm, und auch Arndt, der überall dabei ist, wo es gegen Napoleon geht, trägt wiederholt zum Rheinischen Merkur bei.

Den Kern der Zeitung bildeten aber weder diese gelegentlichen literarischen Einsprengsel noch die konstitutiven politischen Nachrichten und amtlichen Ver-lautbarungen, ebenso wenig wie sie dafür gedacht war, vorrangig ein Forum für andere Beiträger zu bieten. Denn zum einen ist Görres wieder in derjenigen Weise Hauptautor seiner Zeitung, wie er es schon als Herausgeber des Rothen Blattes ein-geübt hatte. Präzise lässt sich das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Artikeln aus der Görres’schen Feder und Beiträgen von (literatur)politischen Verbündeten nicht angeben, da sie mehrheitlich anonym oder lediglich unter Angabe von Initialen veröffentlicht wurden. Diese Anonymität also macht es in einigen Fällen grund-sätzlich schwierig, die Verfasserschaft zweifelsfrei zu klären, und noch schwerer wird diese Klärung dadurch, dass der Rheinische Merkur gewissermaßen mit einer Stimme spricht – oder anders gewendet, diese ‚Einstimmigkeit‘ ist auch der Grund dafür, dass die Frage nach der Zuordnung von einzelnen Artikeln unerheblich ist.

Denn nahe „an Görres’ Arbeitstisch befanden sich Papierkorb, Kleistertopf und Schere. Die vielen Einsendungen wurden ganz nach dem Gutdünken des ver-antwortlichen Redakteurs zu einem großen Guß zusammengeschweißt.“25 Selbst arrivierte Figuren des öffentlichen Lebens wie Jakob Grimm mussten hinnehmen, dass Görres ihre Beiträge „durcheinander warf und zersetzte“,26 damit sie sich ins Einheitsbild der Zeitung einfügten, und in anderen Fällen war ein solches Durch-einanderwerfen nicht einmal nötig, weil die Verfasser in vorauseilendem Gehorsam

24 Rheinischer Merkur, Nr. 22, 05.03.1814.

25 Siehe hierzu die Einführung in die Textwiedergabe und in die Verzeichnisse von Münster, in:

Rheinischer Merkur (1928), 1. Bd., 17.

26 Zit. nach Münster: Einführung (1928), 17.

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den Görres’schen Ton imitierten. In diesem Sinne gestand Paul Wigand, dass „Geist und Ton [ihn] so angesprochen habe, daß er in gleichem Geist wie der Heraus-geber geschrieben, ja sogar dessen Form und Stil sich angeeignet habe“.27 Damit präsentiert der Rheinische Merkur in seiner Gesamtheit ein intrikates Verhältnis

den Görres’schen Ton imitierten. In diesem Sinne gestand Paul Wigand, dass „Geist und Ton [ihn] so angesprochen habe, daß er in gleichem Geist wie der Heraus-geber geschrieben, ja sogar dessen Form und Stil sich angeeignet habe“.27 Damit präsentiert der Rheinische Merkur in seiner Gesamtheit ein intrikates Verhältnis

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