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Schillers Horen: klassischer Epitext

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 148-164)

Volker C. Dörr

Aussagen des Typs „Ohne x hätte es y nicht gegeben“ sind genau besehen meist einigermaßen sinnfrei. Jedenfalls sind sie fern davon, wissenschaftlich valide zu sein, denn ohne die Möglichkeit erschöpfenden Reisens in Paralleluniversen lassen sie sich kaum falsifizieren. Und der etwas kleinmütige Zusatz „jedenfalls nicht in dieser Form“ macht die Sache nicht besser; denn ein solcherart erweiterter Satz kann meist deswegen nicht falsifiziert werden, weil er tautologisch ist: gehört doch das hypothetisch negierte x meist selbst zum Umfang des y, dann wäre also ohne x das y ein y ohne x und damit nicht das identische y, das es ohne x dann eben nicht gegeben hätte. Quod erat demonstrandum.

Und dennoch: Der Satz „Ohne Schillers Zeitschrift Die Horen hätte es die Wei-marer Klassik nicht gegeben – jedenfalls nicht in dieser Form“ ist zwar offenkundig tautologisch, weil eine Weimarer Klassik ohne die Horen nicht die uns so vertraute Klassik gewesen wäre; aber seinen Sinn auszuloten, d. h. also zu zeigen, was genau die Horen zur Klassik beigetragen, wie sie deren Konstitution entscheidend befördert haben, ist womöglich doch ein sinnhaftes Unterfangen. Genau dies soll jedenfalls im Folgenden – freilich nur ansatzweise – (erneut) unternommen werden: für den Anfang, besonders für die Seiten III–X und 1–6 des ersten Stücks der Zeitschrift.

Schon im Oktober 1792, während Schiller gerade an einer Revitalisierung seiner nicht eben florierenden Zeitschrift Thalia unter dem Titel Neue Thalia arbeitet, ver-sucht er, deren Verleger Georg Joachim Göschen für seine „alte[ ] Idee“ zu gewinnen,

„ein großes vierzehntägiges Journal an dem dreißig oder vierzig der beßten Schrift-steller Deutschlands arbeiteten, herauszugeben“.1 Und auch wenn er dem Verleger ausführlich großen und langfristigen Profit verspricht: Göschen ließ sich für das Projekt nicht gewinnen, und dass er sich zu dem Vorschlag schlicht gar nicht erst äußerte, trieb den gekränkten Schiller geradezu in die Arme von Johann Friedrich

1 Schiller an Göschen, 14.10.1792, Schiller: Nationalausgabe (1943ff.), Bd. 26, 159.

Cotta,2 der gut zwei Jahre später der Verleger der Horen wurde. Da träumte Schiller schon von nichts Geringerem als einem „Weltjournal“.3

An einem hatte sich in der Zwischenzeit nichts geändert: an dem Plan, nicht nur inhaltliche Qualität, sondern auch den Transfer symbolischen Kapitals auf das Konto der Zeitschrift dadurch sicherzustellen, dass die „beßten“ (und wohl auch:

namhaftesten) Schriftsteller für die Mitarbeit gewonnen wurden. Die Liste der Empfänger der Einladung zur Mitarbeit an den Horen, die Schiller gemeinsam mit Johann Gottlieb Fichte, Wilhelm von Humboldt und Karl Ludwig von Woltmann verfasst hatte und im Frühsommer 1794 versandte, liest sich wie ein Who’s Who der Literatur und des geistigen Lebens im Deutschland der 1790er Jahre: Johann Gottlieb Fichte, Christian Garve, Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Wolf-gang von Goethe, Johann Gottfried Herder, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Heinrich Jacobi, Immanuel Kant, …, August Wilhelm Schlegel und viele andere erhielten die Einladung. Bis zum Erscheinen der ersten Stücke der Horen forderte Schiller etwa 40 Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit auf; 24 davon nahmen die Einladung an.4 Kant etwa hingegen, bei dessen Gewinnungsversuch Fichte vermittelt hatte, bat zunächst um Geduld, lieferte aber nie etwas für die Horen.5

Schillers Einladungs-Text reagiert indirekt auf die notorische Partikularität, ja Disparatheit, die Deutschland im 18. Jahrhundert nicht nur im Politischen, sondern auch im Kulturellen prägt (wohl nicht zufällig ist „Duodez-Staat“ ja eine Meta-pher aus dem Bildbereich des Buchwesens) – mit der Idee, dass die Vereinigung der partikularen Publika der einzelnen beteiligten Schriftsteller ein (homogenes) Publikum zu schaffen vermöge:

Treten nun die vorzüglichsten Schriftsteller der Nation in eine literarische Asso-ziation zusammen, so vereinigen sie eben dadurch das vorher geteilt gewesene Publikum, und das Werk, an welchem alle Anteil nehmen, wird die ganze lesende Welt zu seinem Publikum haben.6

Dazu will die geplante Zeitschrift „sich über alles verbreiten, was mit Geschmack und philosophischem Geiste behandelt werden kann, und also sowohl philosophischen

2 Vgl. Fischer: Schiller und sein Verleger (2006), 505f.

3 Schiller an Fr. W. von Hoven, 22.11.1794, Schiller: Nationalausgabe (1943ff.), Bd. 27, 91.

4 Die vollständige Liste, eingeteilt in Generationen, bei Schulz: Schillers Horen (1960), 20f.;

vgl. zur Geschichte der Horen auch Otto: Auseinandersetzung um Schillers Horen (1989).

5 Vgl. Otto: Auseinandersetzung um Schillers Horen (1989), 392f.

6 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 104.

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Untersuchungen als historischen und poetischen Darstellungen offenstehen“.7 Und gezielt wird – das ist einerseits gegenüber den Zeitschriften der Frühaufklärung relativ neu, andererseits aber ganz auf der Höhe der Zeit der späteren Aufklärung und ihres Zugs zur Popularisierung, der hier ja noch durch ökonomische Erwä-gungen verstärkt wird – sowohl auf das akademische wie das interessierte nicht-akademische Publikum, genauer: auf die Schnittmenge8 der Interessenssphären beider Gruppen: „Alles, was entweder bloß den gelehrten Leser interessieren oder was bloß den nichtgelehrten befriedigen kann, wird davon ausgeschlossen sein“;

und als sei das ein geradezu trivialer Schluss daraus, schließt der Text direkt an:

„vorzüglich aber und unbedingt wird sie sich alles verbieten, was sich auf Staatsre-ligion und politische Verfassung bezieht“.9

Allerdings steht doch zu vermuten, dass „Staatsreligion und politische Verfassung“

im Zeitalter der Französischen Revolution besonders viele interessierte (gelehrte wie nicht-gelehrte) Leser angezogen hätten. Ökonomisch sei es, so Schiller, also durchaus „gewagt“, es sei aber zugleich „verdienstlich“,

[z]u einer Zeit, wo das nahe Geräusch des Kriegs das Vaterland ängstiget, wo der Kampf politischer Meinungen und Interessen diesen Krieg beinahe in jedem Zir-kel erneuert und nur allzuoft Musen und Grazien daraus verscheucht, wo weder in den Gesprächen noch in den Schriften des Tages vor diesem allverfolgenden Dämon der Staatskritik Rettung ist, […] den so sehr zerstreuten Leser zu einer Unterhaltung von ganz entgegengesetzter Art einzuladen.10

Dies reflektiert Schiller andernorts in noch größerer Öffentlichkeit: in der Ankün-digung des Erscheinens der Horen, die er 1794 ins „Intelligenzblatt“ der Allgemei-nen Literaturzeitung einrücken ließ und die von zahlreichen anderen Zeitschriften

7 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 103.

8 Zunächst scheint es ja, im Sinne der Maximierung der Zielgruppe, klüger zu sein, auf die Vereinigungsmenge der beiden Gruppen zu setzen. Aber ziemlich genau das hat Schiller in der Folge gemacht, was dann scheinbar paradoxerweise entscheidend zum Misserfolg des Projekts beigetragen hat (siehe unten).

9 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 103.

10 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 106. – Peter Weber hat allerdings darauf aufmerksam gemacht, dass die politische Enthaltsamkeit durchaus auch ökonomischer (und politischer) Vernunft geschuldet gewesen sein kann: weil sie ein – im Blick auf den zeitgeschichtlichen Kontext: nicht gänzlich unerwartbares – Verbot durch die Zensur verhinderte; auf diese Mög-lichkeit hatte Kant in seiner Antwort an Schiller hingewiesen (vgl. Weber: Schillers Horen (1987); Otto: Auseinandersetzung um Schillers Horen (1989), 393).

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übernommen wurde – darunter auch von den Horen selbst, denn der Text eröff-nete 1795 deren erstes Stück (Seiten III–X).11 Im Ankündigungstext heißt es dann ökonomisch wenig verheißungsvoll weiter:

In der Tat scheinen die Zeitumstände einer Schrift wenig Glück zu versprechen, die sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen und ihren Ruhm darin suchen wird, durch etwas anders zu gefallen, als wodurch jetzt alles gefällt.12

Wenn ökonomisches Kalkül die Strategie der Enthaltsamkeit gegenüber dem wohl interessantesten Thema der Zeit gerade nicht nahelegt, dann muss dahinter etwas anderes, ein höherer als ökonomischer Wert stehen – oder etwas weniger pathe-tisch formuliert: eine leitende Ideologie. Und in der Tat führt die Ankündigung der Horen direkt ins ideologische Zentrum sowohl von Schillers Ästhetik als auch dessen, was sich als Weimarer Klassik gerade konstituiert, genauer: derjenigen Diskursformation, die sich gerade formiert und die dann im 19. Jahrhundert als Deutsche Klassik kanonisiert wird.

Schillers Ankündigungs-Text bietet geradezu seine Ästhetik in nuce; vorbereitet wird damit nicht nur die Rezeption der Horen allgemein, sondern auch konkret seiner eigenen 1793 entstandenen Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, die er 1795 im ersten, zweiten und sechsten Stück des ersten Horen-Jahrgangs pub-lizieren wird und die sein gewichtigster Beitrag zur Zeitschrift bleiben werden. Vor allem die polare Gegenüberstellung eines durch widerstreitende partikulare Inte-ressen gespannten Ist-Zustands mit dem erwünschten Moment der Vereinigung unter dem Banner der Freiheit ruft den Erwartungshorizont für die Ästhetische Erziehung auf, die gerade zur Erfüllung dieses Desiderats antreten wird:

Aber je mehr das beschränkte Interesse der Gegenwart die Gemüter in Spannung setzt, einengt und unterjocht, desto dringender wird das Bedürfnis, durch ein allgemeines und höheres Interesse an dem, was rein menschlich und über allen Einfluß der Zeiten erhaben ist, sie wieder in Freiheit zu setzen und die politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit wieder zu vereinigen.13

11 Vgl. Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 381 (Kommentar).

12 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 106.

13 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 106; Hervorheb. im Original.

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Hier ergibt sich, mit Gérard Genette gesprochen, eine nicht nur intertextuelle14 Beziehung zu einem Text aus der Feder desselben Autors; es handelt sich auch, freilich punktuell, um eine offiziell-auktorial epitextuelle Beziehung15 zwischen der Horen-Ankündigung und Schillers großer ästhetischer Programmschrift, insofern Schiller sich ja offen, wenn auch nur implizit (denn der Titel des Bezugstextes wird nicht genannt), in Form von (später als solchem zugeordneten) „Beiwerk“ zu den Briefen über diese äußert (PT, 10, 16f.).

Dass Schillers Projekt unter dem, wie es weiter heißt, „Ideale veredelter Men-scheit [sic]“ steht,16 versteht sich bei einem Projekt Schillers nahezu von selbst; auch die Einschätzung, dass „alle wahre Verbesserung des gesellschaftlichen Zustandes“

„zuletzt“ vom „Bau besserer Begriffe, reinerer Grundsätze und edlerer Sitten […]

abhängt“, ist Schiller at his best. Was aber heißen soll, dass „dieses einzige Ziel“ von den „Horen“ „[s]owohl spielend als ernsthaft“ verfolgt werden soll,17 wird sich dem Leser wohl erst in der Lektüre der Ästhetischen Briefe und der Rezeption des spezi-fisch Schiller’schen Konzepts des Spiels erschließen (Schlüsselzitat: „[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“18). An dem vollmundigen Anspruch aber, „die Schönheit zur Vermittlerin der Wahrheit zu machen und durch die Wahrheit der Schönheit ein

14 Intertextuell nicht nur im üblichen Sprachgebrauch (also in dem Sinne, der bei Genette

„trans textuell“ heißt), sondern auch im Sinne von Genettes autor- und produktionsorientier-tem Begriffssysproduktionsorientier-tem: handelt es sich doch um offenbar vom Autor bewusst gesetzte ‚Anspielun-gen‘ auf seinen anderen Text (Genette: Palimpseste (1993), 10).

15 Die Verwendung der Prägung „epitextuelle Beziehung“ soll dabei ein implizites (ich weiß) Plädoyer für eine etwas weitere, rezeptionsorientierte und vor allem funktionale Auffassung des relationalen Begriffs ‚Epitext‘ sein: Epitext ist wohl weniger eine Textsorte, als dass etwa prinzipiell Vertreter aller Textsorten in (auktorial-)epitextueller Funktion für Texte desselben Autors gesehen werden können; und für Texte der „Verbündeten“ des Autors (PT, 10) gilt Entsprechendes. Selbstverständlich gibt es Textsorten, die ihre epitextuelle Funktion so expli-zit ausstellen, dass man nichts zu verlieren scheint, wenn man behauptet, es seien Epitexte.

Aber wenn man diese Texte wiederum als Objekte in den Blick nimmt, erweisen auch sie sich wieder als ‚eigentliche‘ Texte. Natürlich ‚ist‘ Die Entstehung des Doktor Faustus (ein Beispiel aus der Tagungsdiskussion) ein Epitext zum in seinem Titel genannten Roman; aber als Text geht jener ja nicht in dieser Funktion auf, sondern hat durchaus ästhetischen (und epistemischen) Eigenwert. Und dass Die Entstehung des Doktor Faustus ohne den Doktor Faustus nicht denk-bar ist, liegt in der (metatextuellen) Natur des Kommentars. Der Name für diejenige Sorte Texte, die ohne andere Texte als ihre Voraussetzung nicht denkbar sind, lautet: Text.

16 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 106.

17 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 22, 107.

18 Schiller: Nationalausgabe, Bd. 20, 359; Hervorheb. im Original.

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daurendes Fundament und eine höhere Würde zu geben“,19 kann eine Zeitschrift wohl nur scheitern, und das ist ja in der Folge auch geschehen.

Konkrete Gründe für dieses ökonomische Scheitern gibt es viele, nicht zuletzt die „Universalität der Themen“, die eben nicht jedem etwas, sondern den meisten Lesern überflüssige Nebensächlichkeiten bot, ist hier zu nennen.20 Und was das

„Lieblingsthema des Tages“, die Französische Revolution, betrifft: Hier lieferte die Zeitschrift zu wenig, um Publikum zu gewinnen – aber zugleich zu viel, um mit tatsächlicher Enthaltsamkeit die Kritik zu überzeugen; denn dass Wasser gepredigt und dann doch reichlich Wein serviert wurde, weil Schillers Ästhetische Briefe und Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten durchaus kein „strenges Still-schweigen“ über das „Lieblingsthema des Tages“ wahren, sondern sich vielmehr sehr wohl auf die Revolution in Frankreich und deren Folgen für Deutschland beziehen (lassen), ist der Kritik nicht verborgen geblieben.21

Ebenfalls nicht verborgen geblieben ist ein Winkelzug Schillers, der genauso auf die Mehrung ökonomischen wie symbolischen Kapitals zielte: Bereits zwei Wochen nach dem ersten Stück der Horen – und damit doch, gemessen an den Produkti-onsgeschwindigkeiten des späten 18. Jahrhunderts verdächtig früh – bringt die in Jena erscheinende Allgemeine Literatur-Zeitung (kurz: ALZ) geradezu eine Lob-hudelei auf die Horen; sie stammt aus der Feder des ALZ-Herausgebers Christian Gottfried Schütz, d. h. eigentlich stammt sie gewissermaßen aus der Überfeder Schillers und dem Portemonnaie Cottas, denn jener hat sie geradezu bestellt und dieser hat Papier- und Druckkosten bezahlt.22 Dies führt dazu, dass Schütz die Ankunft der Horen mit „inniger patriotischer Freude“ begrüßen kann, obwohl sie doch angetreten sind, alle anderen Periodika (und damit auch die ALZ) zu ver-drängen. Was Schütz weiter über einen Großteil der Konkurrenzblätter der Horen, aber auch der ALZ, sagt, wird aber in der Folge auf die Horen zurückfallen: dass sie „von ihren Herausgebern nach keinem wohlbestimmten Plane berechnet sind, und indem sie Allen durch ihr Allerley gefallen wollen, keinem verständigen Leser recht gefallen können“.23 Dass diese nicht eben freundliche Charakterisierung auch auf die Horen anwendbar sein würde – spätestens dann, als Schiller die Zeitschrift innerlich aufgegeben hatte und nur noch mit in seinen Augen Minderwertigem füllte –, war angesichts des ersten Stücks mit den Beiträgen von Schiller, Goethe

19 Ankündigung, Schiller: Nationalausgabe (1943ff.), Bd. 22, 107.

20 Koopmann: Schillers Horen (2007), 227.

21 Vgl. etwa Schwarzbauer: Die Xenien (1993), 62f.

22 Schiller hatte mit Schütz verabredet, dass die Horen in der ALZ regelmäßig positiv besprochen werden sollten: durch Horen-Mitarbeiter selbst, die aber wenigstens im jeweils besprochenen Stück nicht vertreten sein sollten; vgl. Schulz: Schillers Horen (1960), 35f.

23 Zit. nach Misch: Schillers Zeitschriften (1998), 754.

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und Fichte noch nicht zu sehen. Gesehen wurde aber, dass es sich bei Schütz’ Rezen-sion eigentlich um Werbung handelte, dass also der Metatext des Horen-Textes so allograph nicht war, wie er sich gab. Man wird sicher nicht so weit gehen, die Rezension mit Genettes Terminologie als „pseudo-allographen Apokryph“ (PT, 329) zu bezeichnen, denn geschrieben hat Schiller sie nicht – jedenfalls in Teilen nicht.

In anderen Teilen aber paraphrasiert Schütz noch einmal Schillers Ankündigungs-text, und „pseudo-allograph“ sind zumindest diese Passagen des Horen-Metatextes allemal, was ihn dann doch, mindestens in einem etwas weiteren Sinne, geradezu zum Epitext macht.

Mit dem Ärger über die ALZ-‚Rezension‘ aber begann die in der Folge recht heftig werdende Auseinandersetzung um die Horen, die dann im Xenien-Kampf gipfelte,24 als Goethe und Schiller den Streit auf eine andere Ebene (die der lite-rarischen Form des polemischen Distichons) und an einen anderen Ort (Schillers dann neues Zeitschriften-Projekt der Musen-Almanache) verlagerten – mit dem Effekt, dass sich die beiden später als Klassiker Inthronisierten unter ihren Zeitge-nossen vollständig ins Abseits manövrierten.

An Schillers Ankündigung sieht man eines aber ebenfalls deutlich: Die Horen treten an als das – neben Wielands (Teutschem) Merkur25 – schlechthinnige Ver-lautbarungsorgan der Klassik avant la lettre. Notwendige Voraussetzung für deren Konstitution aber sind sie womöglich wegen eines mit ihnen verbundenen bio-graphischen Zufalls. Unter den gut 40 zur Mitarbeit Eingeladenen fand sich auch der zweite der künftigen Dioskuren. Seitdem Schiller im Juli 1787 nach Weimar gegangen und Goethe knapp ein Jahr später, im Juni des Folgejahres aus Italien zurückgekehrt war, lebten beide in Weimar respektive Jena recht eigentlich neben-einander her, wenn nicht anneben-einander vorbei – und das ist auch gar nicht verwun-derlich: Schiller galt Goethe als Repräsentant einer Epoche, die er – auch in Aus-einandersetzungen mit den Forderungen eines Lebens an einem Fürstenhof – für sich selbst als endgültig überwunden ansehen musste; Goethe war für Schiller offenbar zu alt für eine Begegnung auf Augenhöhe und als eine Art väterlicher Freund wiederum nicht interessant.26

24 Vgl. Boas: Schiller und Goethe im Xenienkampf (1851); vgl. zu den Xenien vor allem Schwarzbauer: Die Xenien (1993) sowie auch Reed: Ecclesia militans (1984) und Dörr: Goe-thes und Schillers Xenien (2014).

25 Vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik (2001), 305.

26 Vgl. Schillers Brief an Körner vom 12. September 1788: „[…] ich zweifle, ob wir [sc. Goethe und er, V.D.] einander je sehr nahe rücken werden. Vieles was mir jezt noch interessant ist, was ich noch zu wünschen und zu hoffen habe, hat seine Epoche bei ihm durchlebt, er ist mir, (an Jahren weniger als an Lebenserfahrungen und Selbstentwicklung) so weit voraus, daß wir

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Interessant hingegen war Goethe dann im Juli 1794 als eines der Zugpferde für die Horen – obwohl er zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein Versprechen auf innovative literarische Produktion gewesen ist; vielmehr hatte er sich, produktiv eher stagnierend, von seinem Publikum ziemlich weit entfernt. Wohl deswegen, weil die Horen auch und vor allem für Goethe einen willkommenen neuen Impuls bedeuteten,27 hat er in seinem 1817 entstandenen Text mit dem plakativen Titel Glückliches Ereigniß, der die realiter wohl ziemlich schrittweise vollzogene endgültige beiderseitige Annäherung auf „eine einzige eindrucksvolle Begegnung“ verdichtet,28 betont, wie groß Schillers Interesse an ihm gewesen sei: Schiller habe ihn nicht nur aus „Lebensklugheit“, sondern auch „wegen der Horen, die er herauszugeben im Begriff stand, mehr anzuziehen als abzustoßen gedacht[ ]“.29

Dass Goethe dann an den Horen aber auf nicht eigentlich kongeniale Weise mitgewirkt hat, ist von der Forschung schon mehrfach bemerkt worden. So hat bereits Bernd Bräutigam vor knapp 40 Jahren die entschiedene These vertreten, in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, die im ersten bis vierten Band der Horen, beginnend mit dem allerersten Stück, erschienen sind, werde das Schei-tern von Schillers ästhetischer Erziehung vorgeführt.30 Ulrich Gaier hat dann zehn Jahre später minutiös den intertextuellen Konnex zwischen Goethes Unterhaltungen und Schillers Ästhetischen Briefen nachgezeichnet und jene als „Gegenprogramm“

zu diesen: als Konzept einer nicht ästhetischen, sondern „sozialen Bildung“ gedeu-tet.31 Und auch Thorsten Valk hat vor einigen Jahren gezeigt, dass Goethes Unter-haltungen deutscher Ausgewanderten durchaus als „kritische Replik“ auf Schillers Horen-Ankündigung gedeutet werden können: indem sie in einer Art literarischen Versuchsanordnung, um das Mindeste zu sagen, Goethes deutliche Reserviertheit gegenüber der Schiller’schen pädagogischen Wirkungsästhetik deutlich machen.32

Gaier bemerkt zudem beiläufig, dass schon Goethes erster Beitrag für die Horen, sein Gedicht Erste Epistel, auch als „heiter ironische Infragestellung des

unterwegs nie mehr zusammen kommen werden […].“ (Schiller: Nationalausgabe (1943ff.), Bd. 25, 107.)

27 Vgl. etwa Gaier: Soziale Bildung (1987), 214.

28 Gerhard: Wahrheit und Dichtung (1974), 23.

29 Goethe: Goethes Werke, II. Abt., Bd. 11, 18.

30 Vgl. Bräutigam: Die ästhetische Erziehung (1977).

31 Vgl. Gaier: Soziale Bildung (1987); Zitat: 212. Gaier zufolge zeige dieser Zusammenhang

„nicht die oft beschworene Zweiheit im Einklang, sondern den trennenden Erddiameter der erkenntnistheoretischen, ästhetischen, geschichtsphilosophischen und politischen Positio-nen“. Dem soll hier ein weiterer, etwas anderer Aspekt hinzugefügt werden.

„nicht die oft beschworene Zweiheit im Einklang, sondern den trennenden Erddiameter der erkenntnistheoretischen, ästhetischen, geschichtsphilosophischen und politischen Positio-nen“. Dem soll hier ein weiterer, etwas anderer Aspekt hinzugefügt werden.

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