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Ausblick – Schlaglichter auf den weiteren Taxierungs- und Kanonisierungsdiskurs

Im Dokument Paratextuelle Politik und Praxis (Seite 119-124)

Johannes Görbert

4. Ausblick – Schlaglichter auf den weiteren Taxierungs- und Kanonisierungsdiskurs

Dafür, dass Flemings Strategie der selbstbewussten Eigenwerbung erfolgreich auf-gegangen ist, sprechen zahlreiche Bezugnahmen auf ihn, welche Autoren seit dem 17. Jahrhundert vorgebracht haben. Fleming kann, nachträglich betrachtet, insofern doch zu Opitz aufschließen, als dass beide Namen schon bei Zeitgenossen und bis in die Gegenwartsliteratur hinein häufig in einem Atemzug genannt werden, sicher auch bedingt durch die Nähe der beiden Todeszeitpunkte.52 Dabei setzt sich das Sukzessions- und Konkurrenzverhältnis, das Fleming in seiner Grabschrift selbst ansprach, in der überwältigenden Mehrheit der Beiträge fort: Mal wird der eine, mal der andere Dichter seinem Konterpart vorgezogen.53 Noch in der Literatur der

50 Kaminski: Dichtung als Nachlaß (2012), 8f.

51 Kaminski: Dichtung als Nachlaß (2012), 9.

52 Krahé: Persönlicher Ausdruck in der literarischen Konvention (1987), 481f., stellt heraus, dass Fleming schon in den Literaturgeschichten des 17. Jahrhunderts „neben Martin Opitz als repräsentative Gestalt der neuen deutschen Dichtung“ auftaucht; ein Rang, der nach Krahé

„erstaunen mag, da man ihn [Fleming, J.G.] eher als Außenseiter ohne Nachfolger anzusehen gewohnt ist.“

53 Vgl. für den gesamten Absatz Krahé: Paul Flemings literarischer Nachruhm (1989) sowie den ebenfalls rezeptionsgeschichtlich ausgerichteten Beitrag von Mannack: Opitz und seine kritischen Verehrer (2002); letzterer im bereits angeführten Band von Borgstedt und Schmitz, 272–279.

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ästhetischen Moderne wird diese Diskussion geführt, etwa bei Arno Holz. Holz trägt in das Glossar zu seinem barockisierenden Gedichtband Dafnis Opitz als „unser aller Meister“ ein, während Fleming als „von all unsren Teutschen der Hertzrüh-rendste“ firmiert.54 Hier wirkt ein Urteil weiter, das sich an vielen Stellen in der Rezeption wiederholt: Wo Opitz den Intellekt berührt, durch formale Meisterschaft besticht, erregt Fleming mittels seiner jugendlich überschwänglich anmutenden dichterischen Erscheinung das Gefühl späterer Leser.55 Auf diese Weise haben schon Aufklärer wie Gottsched und Romantiker wie Eichendorff die Rangfolge von Opitz und Fleming jeweils unterschiedlich gewichtet. Gottsched bevorzugt in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst mit Nachdruck Opitz und seine „Regeln des guten Geschmackes“, während er Fleming, bei allem Lob, eine „Verliebtheit in Kleinigkeiten“ und „Uberrest[e] des übeln Geschmackes“ ankreidet.56 Ganz anders Eichendorff. Seine Bewertung lautet: „Flemming hat zuerst das von Opitz künstlich und mühsam gestimmte Instrument [der deutschen Dichtsprache] wirk-lich tönend gemacht, und schied singend wie ein sterbender Schwan mit seinem schönen Todeslied vom Leben.“57 Auch noch in Günter Grass’ Erzählung Das Tref-fen in Telgte von 1979 sind Opitz und Fleming kontinuierlich als Referenzautoren präsent. Zwar können sie an dem fiktiven Treffen von barocken Dichtungsgrößen, das Grass ins Jahr 1647 situiert, aus naheliegenden Gründen nicht mehr teilneh-men; dennoch kreisen die Gespräche der Lebenden bei Grass immer wieder um die beiden Verstorbenen. „Es werde ihnen Opitz fehlen und Fleming“, darüber sinniert Simon Dach schon zu Beginn von Grass’ Text.58 Auch in der Folge wird in der Erzählung immer wieder darüber diskutiert, wie verbindlich und wichtig die Vorlagen von Opitz und Fleming für die nachfolgende Literatur gewesen seien.59

Grass schreibt damit als vorerst Letzter die Kette eines Kanonisierungsdiskurses fort, der bis hin zu zeitgeschichtlichen Autoren andauert.

Alles in allem lässt sich aus den hier diskutierten barocken Paratexten zweier-lei schlussfolgern. Erstens belegen die Epitaphe und Epicedien aus den Händen von Kuhlmann, Hoffmannswaldau, Fleming und Scherffenstein einen Prozess

54 Holz: Des Schäfers Dafnis Freß-, Sauff- und Venuslieder (1963), 156 und 150.

55 Vgl. dazu ganz ähnliche Urteile aus der germanistischen Forschung: „Paul Fleming [ist] unter den Dichtern, […] die wir noch lesen, einer der frischesten […]. Es gibt da so etwas wie einen Geist der Jugendlichkeit, der Unbekümmertheit und des männlichen Selbstbewußtseins, der sich durch die Jahrhunderte […] behauptet, gegen das schulmeisterlich Gelehrte und virtuos Manieristische.“ Kemp: Das europäische Sonett. Bd. 2 (2002), 15.

56 Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1730), 209 und 113.

57 Eichendorff: Geschichte der Poetischen Literatur Deutschlands (21861), 199.

58 Grass: Das Treffen in Telgte (31997), 19.

59 Vgl. etwa Grass: Das Treffen in Telgte (31997), 26, 28, 42, 63, 93, 155 passim.

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der Selbstvergewisserung und Selbstbestärkung einer sich im 17. Jahrhundert erst allmählich herausbildenden, humanistisch-gelehrten Literaturpraxis in deutscher Sprache. Zu diesem Zweck scharen sich die Dichter um die alles überragende Figur des Reformers Opitz, deren Vorbildhaftigkeit auch ihre eigene Dichtung konsolidieren helfen soll. Zweitens finden sich jedoch schon zu diesem Zeitpunkt Belege für interne Konkurrenzkämpfe, die hier am Beispiel von Paul Flemings Grabschrift auf sich selbst nachvollzogen wurden. Obwohl Fleming in Sachen lite-rarischer Erfolg zu Lebzeiten keinesfalls mit Opitz mithalten konnte, beansprucht er in seinem Auto-Epitaph, das den Zugang zu seinem Gesamtwerk maßgeblich mitprägt, eine alleinige Spitzenstellung („Kein Landsmann sang mir gleich“). Für die nachfolgende Rezeption erweist sich dies als ein kluger Schachzug: Fleming firmiert fortan immer wieder in Nachbarschaft von Opitz als einer der Vorreiter der deutschen Barockliteratur. Seine Grabschrift funktioniert somit nach wie vor ausgezeichnet als Eigenwerbung, als zweckdienliches Ausscheren aus einer Reihe von Bescheidenheitsklauseln, welche Paratexte ihren Verfassern eigentlich nach den Spielregeln ihrer Konvention, Politik und Praxis auferlegen.

Literatur

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Bogner, Ralf Georg: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarischen Memorialkultur von der Reformation bis zum Vormärz. Tübingen: Niemeyer 2006.

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Opitz, Martin: Weltliche Poemata. 1644. Zweiter Teil, hg. v. Erich Trunz. Tübingen:

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Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Unter Mitarbeit v. Natalie Binczek. Berlin:

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Wiegand, Hermann: Epitaph/Epicedium. In: Weimar, Klaus (Hg.): Reallexikon der Deut-schen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin [u. a.]: de Gruyter 1997, S. 455–457 u. S. 475–476.

Willems, Gottfried: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 1: Humanismus und Barock.

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Wir. Prekäre Erscheinungsweisen kollektiver Autoren

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