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Zielgruppenbeschreibung und Konzeption .1 Die Kinder der Ahawah in Palästina

II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

11. Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Ahawah in Kiryat Bialik (ab 1934)

11.2 Die Ahawah in Kiryat Bialik .1 Die Entstehungsgeschichte

11.2.3 Zielgruppenbeschreibung und Konzeption .1 Die Kinder der Ahawah in Palästina

Während eines Interviews mit zwei ehemaligen Mitarbeiterinnen und einem ehemali-gen, heute 75jährigen Heimkind der Ahawah in Kiryat Bialik spannte sich die Atmo-sphäre plötzlich deutlich an, als es um die unterschiedliche Herkunft der Kinder in Berlin beziehungsweise in Kiryat Bialik ging. Die Erzählenden waren sehr bemüht, sich von den "normalen" Heimkindern zu distanzieren:

"In Berlin war die Ahawah ein Kinderheim, das nach dem ersten Weltkrieg für Sozial-fälle gesorgt hat. ... . Hier (in Kiryat Bialik) hat die Ahawah Jugendalijahkinder aufge-nommen, die bestimmt keine sozialen Fälle waren, sondern aus gutbürgerlichen Fa-milien und Verhältnissen kamen, die aber durch Hitler plötzlich in diese Situation ge-bracht worden waren. Es gab einige wenige Ausnahmen, die mit den Eltern ins Land gekommen sind. Alle miteinander kamen in dieses Kinder- und Jugendheim. Das hat-te eigentlich nichts mehr mit dem ursprünglichen Kinderheim zu tun. Es gab Jugen-dalijah in Kibbuzim und es gab JugenJugen-dalijah in allen möglichen Formen - und auch in der Ahawah. Der Aufenthalt in der Ahawah hatte nichts mehr damit zu tun, ob man ein Sozialfall war oder nicht."447

Auch eine andere Ehemalige, die mit der Kinder- und Jugendalijah ins Land kam, sagt heute:

"Ich schäme mich, zugeben zu müssen, dass ich in der Ahawah war, denn ich war kein Sozialfall und heute denkt man bei allen, die dort sind, da stimmt etwas nicht in der Familie. Das war damals ganz anders."448

Channa schrieb an ihre Mutter:

"(Ich) möchte ... Dich mal drüber aufklären, dass wir keine sogenannte 'Kinderalijah', wie Du es sagtest sind, sondern ein Teil der Jugendalijah, die, wie Du weißt, an ver-schiedenen Punkten aufgeteilt ist. Die 'Ahawah' ist ein Kinderheim und wir sind der Noar (die Jugend), der dort arbeitet für sich und die Kinder."449

Diese Beispiele zeigen, dass sich die Zielgruppe der Ahawah in den Jahren nach 1934 grundlegend geändert hat. Ursachen, Dauer und Verlauf der Heimunterbrin-gung vor und nach der Machtergreifung Hitlers können nicht miteinander verglichen werden. Lastete den ursprünglichen Heimkindern das Stigma der Asozialität und Verhaltensauffälligkeit an, so legten die Kinder und Jugendlichen, die nach 1933 zum Zwecke der Hachscharah in der Ahawah in Berlin beziehungsweise nach ihrer Ausreise im neuen Heim in Neve Scha'anan oder Kiryat Bialik lebten, Wert auf die Tatsache, dass sie aus gutbürgerlichen Familie stammten und meist eine kulturelle Vorbildung vorwiesen. Ein Artikel aus dem Jahr 1934, der sich anhand des Beispiels des Landschulheims Caputh bei Berlin mit jüdischer Erziehung beschäftigt, be-schreibt die Situation so:

"Heute ist die Lage vieler jüdischer Kinder, die nicht in ihrer Familie erzogen werden, eine etwas andere. Eltern befinden sich in der beruflichen und sozialen Umstellung,

447 RB (anonym) in einem Gespräch am 29.8.1997 im Pisgat Achuza, Haifa.

448 CL (anonym) in einem Gespräch am 27.7.1998 in Bad Wörishofen.

449 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 12.7.1937. S. 41. ANH.

Familien bereiten ihre Auswanderung vor, Kinder sollen in einem Milieu erzogen wer-den, das möglichst jüdisch geschlossen ist. All das sind neue Motive, die dazu Veran-lassung geben, Jugendliche außerhalb der Familie zu erziehen und ihnen daher die Möglichkeit zu verschaffen, im Rahmen einer Jugendgemeinschaft für kürzere oder längere Zeit zu leben."450

Hier steht noch das Erziehungsziel der Identifikation mit dem Judentum und des Le-bens in der Gemeinschaft im Vordergrund. Erst am Übergang der 30er in die 40er Jahre bekamen jüdische Kinderheime, vor allem natürlich diejenigen in Palästina, zusätzlich den Charakter von Auffanglagern.

Die Anfangszeit dieser später angekommenen Kinder war von Hoffen und Trauern geprägt: Von der Hoffnung, bald etwas von Angehörigen zu erfahren und der Trauer, wenn eine Todesnachricht aus ihren Ängsten erschütternde Gewissheit werden ließ.

"Es war (in den 30er und 40er Jahren) allen selbstverständlich, alles zu teilen. Wir haben nie gehungert, aber auf das Bescheidenste in Bezug auf Essen und Kleidung gelebt. Oft haben wir uns gefragt, wie konnten die Kinder, die aus ihren Elternhäu-sern gerissen waren und Jahre nichts mehr von ihnen gehört hatten und ahnten, dass sie wahrscheinlich nie mehr etwas von ihnen hören würden, das Leben in dieser so völlig fremden Umgebung ertragen. Selten, eigentlich überhaupt nicht, weinten die Kinder. Viele, viele Jahre später erzählten mir diese ehemaligen Kinder, ..., wie viel Tränen sie nachts aus Sehnsucht vergossen haben."451

In einigen Fällen stellte sich auch Trauer ein, wenn es dem Vater oder der Mutter zwar gelungen war, ins Land zu kommen, ein erstes Treffen aber zeigte, dass sich Kinder und Eltern wie Fremde gegenüberstanden, dass die durchgestandenen Er-lebnisse so tiefe emotionale Verletzungen hinterlassen hatten, dass die Eltern-Kind-Beziehung geschädigt und kein Familienleben mehr möglich war.

11.2.3.2 Allgemeine konzeptionelle Überlegungen

Für die Pädagogik ergaben sich durch den Neuaufbau in Palästina alsbald grundle-gende Veränderungen: Verfolgten die ErzieherInnen der Ahawah am Anfang noch das Ziel, den Kindern Pioniergeist und Bildung nahezubringen, so ging es mit der Zeit immer mehr darum, geflüchteten, teilweise verwahrlosten Kindern Obdach zu gewähren und dann - im durch die Gegebenheiten sehr beschränkten Umfang - ihre Traumatisierungen aufzufangen. Entsprechend diesen Zielvorgaben musste sich auch die Organisationsform verändern: Solange die Gemeinschaft als der haupt-sächliche Erziehungsfaktor verstanden wurde, lebten die Kinder und Jugendlichen in großen Gruppen zusammen mit vielen Gleichaltrigen und nur verhältnismäßig weni-gen Madrichim (ErzieherInnen). Mit den positiven Erfahrunweni-gen von Familie, welche die Kinder teilweise aus der Zeit vor ihrer Ausreise kannten, hatte diese Form des Zusammenlebens wenig gemeinsam. In den späteren Jahren wuchs die Sensibilität gegenüber den psychischen Verletzungen der traumatisierten Flüchtlingskinder.

Dementsprechend veränderte sich die pädagogische Haltung: Die ErzieherInnen erkannten, dass die Kinder, die gerade erst ihre Familien verloren hatten, am meis-ten die Geborgenheit dieser kleinsmeis-ten sozialen Zellen bedurfmeis-ten. Wenn schon die

450 Jüdische Rundschau Nr. 13. Berlin 13.2.1934. S. 8.

451 Aus einem Vortrag von Hanni ULLMANN: 10 Jahre Neve Hanna. 1984. S. 8.

eigenen Eltern diese Sicherheit nicht mehr geben konnten, so musste sich die Aha-wah als die neue Heimat der Kinder auf diese Bedürfnisse einstellen.

Die psychische Verfassung und Motivation der Kinder und Jugendlichen reichte an-fangs von Heimweh und großen Eingewöhnungsschwierigkeiten, von denen zum Beispiel Renate Ucko und Avital Ben-Chorin, die zur Hachscharah und zur Alijah in der Ahawah waren, berichten,452 bis hin zur - unterschiedlich begründeten - Vorfreu-de auf einen Neubeginn im "Erez Israel". Leo Kipnis, Vorfreu-der von 1937 bis 1939 in Vorfreu-der Ahawah war, erzählt:

"Ich war auch nicht sehr glücklich in meinen Elternhaus. Meine Eltern hatten die typi-sche überschwängliche jüditypi-sche Liebe. Man wurde einfach erdrückt. Ich wollte nur weg damals. Ich war sehr glücklich."453

Für andere stand mehr der politische Druck oder der von den Jugendbünden ausge-hende zionistische Eifer im Vordergrund:

"Die Kinder von Berlin durften in den Jugendbund gehen. Ein paar waren im zionisti-schen Jugendbund Blau-Weiß, der nicht religiös war. Später waren sie vor allem in dessen Nachfolgeorganisation Hechaluz, welche die Pionierarbeit in Palästina leiten sollte. Für die erste Gruppe war es die Hauptsache, nach Palästina gekommen zu sein, in das Land, das sie aufbauen wollten."454

Jedoch machte es diese an sich wünschenswerte Einstellung den ErzieherInnen nicht immer leicht, ihre pädagogischen Vorstellungen zu verwirklichen. Jugendliche, die im Bewusstsein lebten, dass sie hier "nach Hause" gekommen seien und jetzt die Möglichkeit und Pflicht sahen, alles neu aufzubauen, waren überzeugt, dass sie es nicht mehr nötig hätten, sich an überlieferte Formen, an die jüdischen Traditionen überhaupt zu halten.455

11.2.3.3 Die Verwurzelung in der Umgebung

Die Integration in die neue Umgebung brachte oft große Schwierigkeiten mit sich: In einem Alter, in dem Fragen zentral werden nach der eigenen Persönlichkeit und nach Identifikationsmodellen, nach der individuellen Zukunft und dem Platz, den man in der Gesellschaft zu finden bemüht ist, bedeutet das Herausgerissenwerden aus der vertrauten Umgebung und aus sozialen Bezügen, zumal in Verbindung mit exi-stenzieller Verunsicherung und Todesangst für Kinder einen unvorstellbar großen Bruch in ihrer Lebensgeschichte.

Die Probleme, die sich daraus und darüber hinaus ergeben, stellte der Erzieher An-selm Bing bereits 1934 dar. Er bezog sich zwar auf Ben Schemen, seine Ausführun-gen können aber aufgrund der sehr ähnlichen AusgangsvoraussetzunAusführun-gen auch für die Ahawah-Kinder gelten.

452 Aus Gesprächen im Sommer 1998.

453 Leo KIPNIS in einem Gespräch am 30.8.1997 in Haifa.

454 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

455 Vgl. Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

"Jüdische Kinder aus Deutschland kommen nach Erez Israel, in eine festgeformte Gemeinschaft palästinensischer Jugend.

Der plötzliche Riss, der durch den Abbruch bisheriger Lebensbedingungen, durch Verlust von Freundes- und Familienkreis entsteht, wird in den ersten Monaten noch nicht deutlich vom Durchschnittskind empfunden. Das Land, die neue Arbeit, die voll-kommen veränderte Stellung des Kindes zu seiner Umgebung füllen sein Denken ganz aus. Wenn die Sprache, die ihm täglich ans Ohr klingt, allmählich Umriss und Bedeutung gewinnt, wenn Worte, Sätze, Satzfolgen schon - zumindest sinngemäß - verstanden werden, tritt bei den meisten eingewanderten Kindern eine merkwürdige Veränderung in der ganzen Haltung ein. Sie werden ziemlich wortkarg, leicht ver-stimmt, nervös und unruhig, zutiefst aufgewühlt, unzufrieden mit sich und mit al-lem."456

Ferner zeichnete er ein Bild von den "Sabres", d. h. den in Palästina geborenen Kin-dern als Menschen, die es gewohnt sind, früh Verantwortung zu übernehmen, zuzu-packen, dabei aber leicht grob und maßlos zu sein. Bei aller Vorsicht, die bei derarti-gen Verallgemeinerunderarti-gen geboten ist, wird doch die Umstellung deutlich, mit der die Kinder aus Deutschland, die aus meist kulturbewussten klein- oder großbürgerlichen Familien stammten, zu kämpfen hatten.

Träumerische Hoffnungen der Olim (Einwanderer), im "Erez" eine heile Welt und wenigstens annähernd Ersatz für die zurückgelassenen Familienmitglieder und Freunde zu finden, trafen auf das tatkräftige Selbstbewusstsein der vielleicht zu früh erwachsen gewordenen Palästinenserkinder. Enttäuscht darüber fühlten sie sich umso mehr alleingelassen, angefeindet und benachteiligt.

Auf der anderen Seite wurden die im Land geborenen Kinder eifersüchtig, wenn sie beobachten mussten, wie ihre Madrichim, ErzieherInnen und LehrerInnen ihre Auf-merksamkeit intensiv den “Neuen” zuwandten. “Die 'Alten' glauben sich vernachläs-sigt. Die Folge: Protestreaktionen”.457 Oder auch, wie Hanni Ullmann berichtet:

“Natürlich war (...) die große Schwierigkeit, dass sie sich nicht unter die Kibbuz-Kinder mischten. Die Alijat Noar-Kibbuz-Kinder haben ganz getrennt von denen gelebt, ob-wohl sie dieselbe Altersschicht waren.”458

Anselm Bing sah eine Verstärkung dieser Schwierigkeiten auch darin, dass das Ver-halten der anderen in Abhängigkeit zur jeweils eigenen Kultur verschieden bewertet und ebenso unterschiedlich darauf reagiert wird.

"(Den aus Deutschland stammenden Kindern) erscheinen diese Formen krass, weil wir feinste Maßstäbe anzulegen gewohnt sind. Uns bedeuten Schimpfwort und Rip-penstoß: Ehrverletzungen und gänzliche Missachtung der Persönlichkeit. Palästina hat seine Menschen anders geformt. Unkomplizierter, grobkörniger, weniger emp-findsam (...) Schimpfwort und Rippenstoß sind für sie eine Kleinigkeit, eine Bagatel-le.”459

456 BING, Anselm in der Jüdischen Rundschau am 13.4.1934.

457 Ebd.

458 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

459 BING, Anselm in der Jüdischen Rundschau am 13.4.1934.

11.2.3.4 Erziehung zum Zionismus und zum Judentum

Die zahlreichen Schwierigkeiten, die aus den unterschiedlichen Mentalitäten und Vorgeschichten der Jugendlichen entstanden, wirkten sich natürlich auch auf das Leben in der Ahawah aus.

Zu unterscheiden sind dabei mehrere Zeitabschnitte: Das Provisorium der Ahawah in Neve Scha'anan, später die ersten Jahre in Kiryat Bialik, in welchem die Ahawah sich vor allem kriegsbedingt als Aufnahmeheim der Jugendalijah verstand und nach einer Übergangszeit, ab etwa 1955 die Ahawah wieder als "normales" Kinder- und Jugendheim, in welches Kinder aus sozial schwierigen Familienverhältnissen aufge-nommen wurden.

Hanni Ullmann nahm ihre Arbeit in Palästina gerade zu dem Zeitpunkt wieder auf, als der Flüchtlingsstrom begann, sintflutartig über das Land hereinzubrechen. Sie kann also über alle Phasen aus eigener Erfahrung berichten.

Die Verschiedenartigkeit der Umstände im Vergleich zu Berlin hatte zur Folge, dass die Konzeption in den 30er und 40er Jahren in wesentlichen Punkten geändert wer-den musste. Während die Ahawah in Berlin noch - wie auch heute wieder Neve Hanna - den Anspruch hatte, für die Kinder und Jugendlichen ihre Heimat zu sein, war unter dem Einfluss der Jugendalijah das vorrangige Ziel in der Zeit des Auf-bruchs und Neuanfangs in Palästina die Heranbildung möglichst vieler junger Men-schen für die Landwirtschaft und deren Befähigung, am Aufbau von "Erez Israel"

mitzuwirken. In Berlin war der Zionismus noch eine theoretische Idee, das große Ziel, auf das es hinzuarbeiten galt. In Palästina wurde daraus der Alltag, der mitsamt allen unvorhersehbaren Schwierigkeiten Schritt für Schritt bewältigt werden musste.

Für die meisten Jugendlichen war die erste Zeit in Kiryat Bialik unter anderem des-halb schwer, weil von Henrietta Szold und der Jugendalijah eine strenge Einheitser-ziehung vorgeschrieben wurde, die auch ihre Auswirkungen auf die Ahawah hatte.

Die bereits mehrfach zitierte "Channa" schrieb in einem Brief an ihre Mutter:

"Wir gehören der Jugendalijah an und Miss Szold hat jede Ferien für uns abge-schafft. Auch in der Arbeitseinteilung muss sich das Heim den Gesetzen der Jugen-dalijah fügen. Wir werden aber dafür gemeinsame Ausflüge in das Land unterneh-men. Vorläufig merke ich noch nicht, dass ich in P(alästina) bin. Erstens sind die Mä-dels im ersten Jahr gar nicht draußen. Zweitens ist die Landschaft nicht palästinen-sisch. Drittens ist es noch sehr kühl. Manchmal rieselt es. Einmal in vier Wochen dür-fen wir von Freitag Nachmittag bis nach Schabbat wegfahren. Unsere Sachen be-kommen wir gar nicht in die Hände. Nicht einmal die Koffer durften wir alleine auspa-cken."460

Obwohl nach außen hin immer die individuelle Erziehung der Kinder als ein Haupt-merkmal der Ahawah proklamiert wurde hatte das Erreichen eines kollektiven Ziels - in diesem Fall die Schaffung einer "jüdischen Heimstätte" - de facto in den Kriegs- und Nachkriegsjahren einen höheren Stellenwert als die individuelle Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Besonders bei der Auswahl der Berufsausbildung wurde weniger auf die Begabungen des oder der Einzelnen geachtet, vielmehr spielte der

460 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 18.5.1937. S. 6. ANH.

tatsächliche Bedarf der palästinensischen Wirtschaft461 die entscheidende Rolle.

Konkret hieß das, dass in den Jahren ab 1934 jede/r Jugendliche in der Ahawah ei-ne zweijährige land- oder hauswirtschaftliche Ausbildung absolvieren musste, um anschließend in einen der Kibbuzim eingegliedert werden zu können. Die Ausnah-men, die es ab und zu gab, waren so ungewöhnlich, dass sie Leo Kipnis in einem Gespräch besonders herausstellte:

"Ich wollte einen technischen Beruf ergreifen. Irgendwie habe ich das durchgesetzt.

Es gab außer mir noch zwei, die außerhalb der Ahawah lernten bzw. studierten. Einer war als Lehrjunge tätig in einer Fabrik im Mifraz Haifa (Haifa-Bucht). Er lernte Schlosser. Und ein anderer war im Mikwe Israel in der landwirtschaftlichen Schule.

Also, es gab hie und da Fälle, wo die betreffenden Zöglinge außerhalb der Ahawah lernten, entweder halbtägig oder ganztägig."462

In diesem zionistisch begründeten Bestreben, das den schnellen, erfolgreichen Auf-bau der neuen Heimat zum Ziel hatte, wurden die Kinder und Jugendlichen von ihrer Ankunft an dazu angehalten, sich ausschließlich in Iwrith, der wiederbelebten Spra-che Palästinas zu unterhalten.

"In dieser ('Hebräischen) Woche' soll, wie schon der Name sagt, nur hebräisch ge-sprochen werden, und es sollen auch keine anderssprachigen Vorträge stattfinden.

Die 'Ahawah' schließt sich naturgemäß diesem Kampf für die hebräische Sprache an, und es werden die ganze Woche über Veranstaltungen, eventuell auch für die Siedler Kiryat Bialiks eingesetzt werden. Dass in der 'Ahawah' kein deutsches Wort fallen darf braucht man wohl nicht extra zu erwähnen, auch will sie etwas gegen die Siedler unternehmen, von denen 85% deutsch sprechen."463

Trotzdem war die Ahawah keine nur ausschließlich von zionistischen Idealen geleite-te Institution. Wie in Berlin, so versuchgeleite-te man auch in Palästina, den Zionismus, den Sozialismus und das Judentum als Religion zu verbinden. In der Jüdischen Rund-schau wird diese Synthese als das charakteristische Merkmal der Ahawah hervorge-hoben:

"Hier wird jüdisch traditionelle Erziehung mit dem Geist des neuen Palästina sinnvoll vereinigt."464

Eine Jugendliche beobachtete damals:

"Dienstag hatten wir eine kleine Besprechung mit der Oberin. Erstens sprachen wir, wie weit wir religiös sein müssen, beziehungsweise was wir mitmachen müssen.

Zweitens dass wir wegen der sozialen Einstellung des Heimes außer dem späteren Taschengeld kein privates Geld haben dürfen. ...

461 Vgl. den Artikel: Handwerkliche Hachscharah. In: JR Nr. 11. 6.2.1934. S. 5.

462 Leo KIPNIS in einem Gespräch am 30.8.1997 in Haifa. Leo Kipnis war 1937/38 in der Ahawah in Kiryat Bialik.

463 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 26.6.1937. S. 30. ANH.

464 Vgl. den Artikel: 1000 Jugendliche nach Palästina. Die Bedeutung der Jugendalijah.

In: JR Nr. 30/31. 17.4.1936. S. 7. In diesem Artikel werden alle drei, zur "Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendalijah" gehörenden Institutionen in einem Satz charakterisiert: Für Ben Schemen scheint das Hauptmerkmal die Gemeinschaft unter den Kindern und Jugendlichen der verschiedensten Länder gewesen zu sein. Die meisten Jugendlichen (ca. 80%) kamen über die Jüdische Jugendhilfe nach Palästina. Für sie stand die Vorbereitung auf ein Leben in den Siedlungen bzw. Kibbuzim im Vordergrund.

Das Zusammenleben mit der Gruppe ist sonst sehr schön und ohne wirkliche Schwierigkeiten. Wir halten sehr gut zusammen, und es gibt nicht einen einzigen, der sich in der Beziehung nicht gut eingelebt hat. Ich habe auch zum Beispiel auch trotz meiner persönlichen Nachteile für die Gruppenkasse gestimmt, weil ich finde, dass, wenn man schon zusammenlebt, es auch sehr schön ist, alles zusammen zu ha-ben."465

"Gestern am Schabbat fand in der Ahawah ein Treffen religiöser Sozialisten statt. Die Leute kamen am Freitag und übernachteten hier. Es waren 25 Männer und Frauen, der größte Teil gebildete Leute, die jetzt Arbeiter im Kibbuz sind. Außerdem waren noch andere führende Persönlichkeiten da. Evtl. kennst Du einige Namen, wie Ernst Simon (Schriftsteller), Hermann Gerson (Führer der Werkleute), Calvary usw. Ollen-dorfs waren auch da. Es ist das erste Mal, dass die verschiedenen Parteien sich die Hand reichen wollen, um der großen Aufgabe der Aufrechterhaltung der Religion (Or-thodoxie) in Palästina willen. Sie diskutierten den ganzen Freitagabend und Schabbat durch bis zwölf Uhr, kamen natürlich zu keiner Einigung, aber stellten am Schluss Punkte auf über weitere Zusammenarbeit und Erfassung anderer, daran interessier-ter Kreise. Das Problem ist wahnsinnig schwer. Erstens ist der Streit um die innere und äußere Form der Religion schon so schwierig, und nun kommt noch das Problem dazu, wie sich das mit der sozialistischen Lebensweise harmonisch vereinigen kann.

"466

Avital Ben-Chorin definiert die Religiosität der Ahawah in Kiryat Bialik im Rückblick als jüdisch-konservativ: "Dazu wurde man erzogen, das hat den Rahmen gegeben.

Es war ein liberales, aber traditionelles Judentum."467

Es war ein liberales, aber traditionelles Judentum."467