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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

11. Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Ahawah in Kiryat Bialik (ab 1934)

11.3 Die Heimerziehung im Verhältnis zur innerfamiliären Erziehung

Aus dem Berliner Ahawah-Kinderheim, das wenigstens ansatzweise familienähnliche Züge aufwies, wurde - wie bereits erwähnt - in Palästina zunächst ein Jugendheim, dessen Hauptaufgabe es war, die Jugendlichen handwerklich oder landwirtschaftlich für ein Leben als Chaluzim tauglich zu machen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verän-derte sich die Aufgabenstellung wieder und die Ahawah in Kiryat Bialik kehrte wieder zu ihrer ursprünglichen Form eines Kinderheims zurück. Abgeschlossen war dieser Prozess spätestens 1958. In einem offenen Brief an den Freundeskreis der Ahawah ist zu lesen:

"Mit dieser Wandlung ist das Gesicht des Heimes ein völlig anderes geworden. An-stelle der großen Erziehungsgruppen von 30 - 50 Zöglingen, die in den Heimen und den Kibbuzim, die den Erziehungszielen, die der Alijat Hanoar dienen, üblich sind, mussten die denkbar kleinsten Erziehungsgruppen geschaffen werden. Zimmerge-meinschaften von sechs bis acht Kindern, eine Art Familiengruppen, die ein hohes Maß an individueller Betreuung ermöglichen. Gleichzeitig mit dieser Veränderung war es geboten, die Gesamtzahl der Zöglinge, die bis dahin 180 - 230 betragen hatte, auf etwa 160 zu vermindern."504

Schon drei Jahre vorher beschreibt die Kinderärztin der Ahawah in einem Vortrag familienähnliche Ansätze. Interessant ist dabei, dass nicht nur die Rollen der Eltern und Kinder nachgeahmt, sondern angehende Kinderpflegerinnen als Verbindungs-glied eingeführt wurden:

"Wir bemühen uns um zwei Dinge, um unseren Kindern über den großen Verlust des Elternhauses hinwegzuhelfen: Dem Heimleben eine möglichst häusliche Atmosphäre zu geben und dem Kinde die Liebe zu den Eltern zu erhalten - was auch immer ge-schehen mag. Um diese häusliche Atmosphäre zu schaffen und dem Kinde eine möglichst individuelle Betreuung zukommen zu lassen teilen wir die jüngeren Kinder in möglichst kleine Gruppeneinheiten. Das Zimmer, das vier bis acht Kinder umfasst, ist eine solche Einheit. Eine Schülerin des Pflegerinnen-Kurses betreut jeweils ein solches Zimmer - selbstverständlich unter der Aufsicht der Erzieherin der Gesamt-gruppe. Sie hilft den Kindern beim Aufstehen, bei den Mahlzeiten, bei den Schular-beiten und vor allem in der kritischsten Stunde des Tages: vor dem Schlafengehen, in dem Augenblick, in dem sich das Kind am meisten nach seinem Zuhause sehnt.

Diese jungen Mädchen sind wie ältere Schwestern zu unseren Kindern."505

Am Anfang dieses Briefausschnittes klingt ein weiterer Aspekt an: die Liebe der Kin-der zu ihren biologischen Eltern. Wie bereits im ersten Teil Kin-der vorliegenden Arbeit ausgeführt wurde, muss der Begriff Familienorientierung differenziert werden in sei-ne beiden Bedeutungsrichtungen. Eisei-nerseits ist diese Orientierung hin zur

503 Hanni ULLMANN in einem Telefongespräch am 7.6.2001.

504 EMRICH, Isa, Vorsitzende des Freundeskreises der Ahawah, und Hanni ULLMANN in einem offenen Brief an den Freundeskreis der Ahawah. Kfar Bialik 1958. S. 1. NPR.

505 Dr. BACHERACH-KROMBACH in einem Vortrag über die Ahawah in Kiryat Bialik. 1955. S. 6.

sprungsfamilie gemeint: Diese zeigt sich im Bestreben, entweder Kontakt aufrecht-zuerhalten und Eltern und Geschwister an verschiedenen Punkten ins Heimleben miteinzubeziehen oder darin, dass aus pädagogischen Gründen eine konsequente Trennung herbeigeführt wird.

Andererseits kann die Idee der Familienorientierung eine andere Bedeutung erhal-ten, wenn sie sich auf konzeptionelle Fragen bezieht und den familienähnlichen Auf-bau des Heims meint.

Wie schon ansatzweise in Berlin, so wird in Kiryat Gat - soweit möglich - verstärkt seit den 70er Jahren konzeptionell auf eine "häusliche Atmosphäre" hingearbeitet.

Der offensichtliche Wandel, der bereits seit dem Anfang der 50er Jahre zu beobach-ten ist und von einer Großgruppenerziehung hin zu einer familienähnlichen Pädago-gik tendiert, ist bedingt durch die abnehmenden Kinderzahlen, aber auch durch den wachsenden Einfluss Hanni Ullmanns, die vor allem nach ihrer Studienzeit in der Schweiz darauf großen Wert legte.

"Die Kinder leben in Gruppen zusammen in einzelnen Häusern. ... Die größte Gruppe sind unsere 13 bis 15jährigen Jungen, das sind 20 Personen, alle anderen sind 12 bis 14 Kinder in der Gruppe.

Diese Aufteilung bedeutet für uns einen großen Fortschritt. Wir haben mit 30 bis 40 Kindern in der Gruppe angefangen. ...

Wir möchten die Kinder so wenig wie möglich zusammenhäufen und ihnen zumuten, lange stillsitzen zu müssen. Wir wollen sie möglichst entspannen, wie eine kleine Familie halten. ... Wir halten es für wichtig, dass in jeder Gruppe auch Männer sind, denn die Kinder sollen das Vorbild von Vater und Mutter haben."506

Die Liebe zum Kind zeigt sich in der intensiven Betreuung. Das System, dass viele angehende Kinderpflegerinnen beschäftigt werden, lässt zu, dass jedes Zimmer, al-so je zwei bis vier Kinder zusammen eine Bezugsperal-son haben. Indem das Kind Vertrauen und Zuwendung erfährt, sich in eine Gemeinschaft eingebettet weiß und gleichzeitig seine Selbständigkeit und sein Verantwortungsbewusstseins gefördert werden, erwirbt es Voraussetzungen, die für das Leben als Erwachsene außerhalb des Heims notwendig sind.

Die Liebe des Kindes zu den Eltern soll erhalten und gefördert werden durch ein weitgehendes Besuchsrecht, durch Gespräche oder Kurse, welche die Eltern auf eine Rückführung des Kindes in die Familie vorbereiten sollen und durch gemeinsa-me positive Erfahrungen, wie zum Beispiel das Feiern von Festen.

"Und wie helfen wir dem Kinde, seine Liebe zu den Eltern und seine Achtung vor ih-nen zu bewahren? ... Auch hier stehen wir oft vor außerordentlichen Schwierigkeiten.

Wir haben Kinder, die im Säuglingsalter in Heimen untergebracht worden waren und den Kontakt mit der Mutter völlig verloren haben. Hier ist es unsere Aufgabe, erst einmal gegenseitiges Vertrauen und Liebe von neuem herzustellen. ... Wir laden die-se Frauen zu uns ein und lehren sie, wie auch sie gute Mütter für ihre Kinder die-sein können. Denn nach unserem Prinzip sollen die Kinder ihre Eltern lieben und ehren - welchen Weg auch immer sie gegangen sein mögen. Die Angehörigen unserer Kin-der können zu jeKin-der Zeit - außer während Kin-der Schulstunden - das Heim besuchen; oft laden wir einsame Mütter und Väter zu unseren Festen ein, damit sie gemeinsam mit ihren Kindern bei uns feiern können."507

506 Hanni ULLMANN in einem Vortrag über die Ahawah in Kiryat Bialik. Jerusalem 1965. S. 6.

507 Dr. BACHERACH-KROMBACH in einem Vortrag über die Ahawah in Kiryat Bialik. 1955. S. 6.

Zehn Jahre später findet sich in einem Vortrag Hanni Ullmanns eine weitere Passa-ge zu diesem Thema. Die Intensivität der Elternkontakte scheint zu dieser Zeit ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Das Heim wagte es sogar wieder, trotz der schlechten Erfahrungen aus Berlin, die Eltern mit ihren Kindern zusammen wohnen zu lassen:

"Eine weitere wichtige Aufgabe ist der Kontakt zu den Eltern. Besuche sind jederzeit erlaubt. Früh, mittags abends und nicht nur das, die Eltern dürfen hier auch wohnen und schlafen wenn sie kein eigenes Zuhause haben. Kommen neue Kinder, die sich schwer von ihren Eltern trennen, ..., dann verlangen wir, dass die Eltern wenigstens einige Tage bei den Kindern bleiben. Oft haben wir große Schwierigkeiten mit den El-tern. Aber wenn wir auf Schreien und Essenausgießen ruhig reagieren und sie immer wieder als Eltern des Kindes behandeln, egal was sie taten, dann gewinnen wir all-mählich sie zu Freunden. Sie nehmen dann nicht nur ihre eigenen, sondern auch Heimkinder auf."508

11.4 Zusammenfassung

Wie schon in Berlin, aber noch ausgeprägter bewegt sich die Pädagogik der Ahawah in Kiryat Bialik im Spannungsfeld zwischen den Idealen der von der Jugendbewe-gung beeinflussten Reformpädagogik mit ihrer Erziehung zur Gemeinschaftsfähigkeit und ihrer Orientierung hin zum Leben in der Großgruppe und auf der anderen Seite dem persönlichen Einfluss Beate Bergers, die - obwohl auch vom Sozialismus ge-prägt - in Berlin erste Grundlagen für eine familienähnliche Erziehung gelegt hat.

Ein zweiter Spannungsbogen reicht von der im Sozialismus gründenden Ablehnung von Religion zur der in der Ahawah praktizierten Religiosität, für die vor allem der Name Moses Calvary steht.

Leo Kipnis beschreibt die Ahawah als einzigartig "in dem Sinne, dass sie eine religi-öse Tendenz hatte"509.

Wie schon in Berlin ist auch in Kiryat Bialik der oberste Grundsatz in der pädagogi-schen Konzeption die Liebe zum Kind. Hanni Ullmann schrieb 1959 in einer Fest-schrift zum 25jährigen Bestehen der Ahawah in Kiryat Bialik:

"Wir stellen mit Befriedigung fest, dass das Institut von bescheidenen Anfängen sich fest und sicher basiert hat und heute, wie damals, seine hauptsächliche Aufgabe dar-in sieht, denjenigen, die dar-in sedar-inen Mauern Schutz suchen, Liebe zu geben."

Dass die Ahawah bei den meisten BesucherInnen noch später eindrücklich in der Erinnerung blieb ist aber nicht nur ausschließlich auf die zu der Zeit moderne päda-gogische Haltung des Heims zurückzuführen. Hanni Ullmann selbst trug durch ihre Persönlichkeit einiges dazu bei. Ein Journalist der "Welt" schrieb 1950, also noch bevor sie offiziell eine leitende Funktion hatte:

"Einen starken Eindruck macht die Schwester, die mich führt. Sie ist in Posen gebo-ren, 1918 als Kind nach Berlin, 1926 als Schwester in jenes Heim in der Auguststra-ße gekommen. Seitdem hat sie alles mitgemacht: die Berliner Arbeit, den Aufbruch

508 Hanni ULLMANN in einem Vortrag über die Ahawah in Kiryat Bialik. Jerusalem 1965. S. 8.

509 Leo KIPNIS in einem Gespräch am 30.8.1997 in Haifa.

nach Palästina, den schwierigen Aufbau in gänzlich neuer Umgebung, die Umstel-lung auf die neuen Aufgaben, die mit dem Auftauchen und schließlichen Überwiegen der orientalischen Kinder sich auftaten. Sie vereint im eigentümlicher Weise Härte und Weichheit, ist energisch und gütig, trotz der schweren Aufgabe und der Schwere der einzelnen Schicksale, die ihr anvertraut sind, zuversichtlich und irgendwie sogar heiter und fröhlich. Sie wird unter den vielen Menschen, denen ich in Israel begegnet bin, immer einen besonderen Platz behalten."510

Ein Jahr nachdem Hanni Ullmann die Leitung der Ahawah übernommen hatte fasste die Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Margret Turnowsky-Pinner ihre berufliche Tätigkeit und ihre Einstellung, vor allem auch ihre Sichtweise zur Frage des Verhält-nisses zwischen Heim und Elternhaus, folgendermaßen zusammen:

"Dass das Problem der Heim- oder Familienerziehung heute in der 'Ahava' in den Vordergrund tritt, mag daran liegen, dass Frau Ullmann nach fast dreißigjähriger Mit-arbeit in der Ahava, ..., vor einem Jahr die Nachfolge übernahm und dass sie selbst Mutter von drei Kindern ist. Es mag sich auch dadurch erklären, dass wir alle seit der Popularisierung der Tiefenpsychologie wacher in der Familie leben. ...

Es ist das Problem der frühen Abtrennung des Kindes von seinen Eltern, das die Ge-danken aller Verantwortlichen in dem großen Kinderheim "Ahava" am tiefsten be-schäftigt. Hanni Ullmann, die Leiterin, weiß, dass ein Heim mit 165 Kindern - und un-ter ihnen etwa 100 im Alun-ter von sechs bis zehn Jahren - kein Ersatz für die natürliche Lebens- und Liebesbeziehung der Familie sein kann, in der sich das Kind zur Persön-lichkeit und zum sozialen Wesen entwickelt. Sie sieht die Verstümmelung der Psyche bei den unglücklichsten und unlenksamsten Kindern, die vom ersten Tag an in Hei-men aufwuchsen, und wenn sie auch für sie alles tut, um auch sie auf den rechten Weg zu führen, so ist es darum, weil sie entgegen der Zweifel der Psychologen an das 'Dennoch' glaubt. 'Wenn ich nicht glaubte, wie könnte ich ein Erzieher sein?', antwortete sie mir sehr ernst."511

11.5 Hanni Ullmanns Beurteilung der Ahawah und die Konsequenzen