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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

15. Neve Hanna - das erste Kinderheim in Israel mit familienähnlichem Aufbau (gegründet 1974)

15.2 Zielgruppenbeschreibung und pädagogische Konzeption

15.2.5 Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen

Hanni Ullmann selber wurde im Lauf ihres Lebens oft genug mit der Thematik des Zusammenlebens verschiedener Nationalitäten und Kulturen konfrontiert. In ihrer Kindheit als Deutsche in Posen, als Jüdin in Deutschland, als Jeckin in Palästina und als Israelin in der Schweiz. Briefe an Jashuvi aus ihrer Studienzeit streifen kurz ihre Gefühle eigener Betroffenheit:

" Die Studenten der Uni sind aus aller Welt. ... Und oft in der Vorlesung von Profes-sor Moor oder Lutz sind wir alle so in Atem gehalten, dass alle Unterschiede der Rasse, des Alters fallen. Das sind Augenblicke, wo ich mich hier ganz zuhause und wohl fühle.

Im Seminar sind es fast alle Schweizer, ein paar Deutsche. Da ist es nicht so einfach, ich bin die einzige Jüdin. Und das ist ein Begriff, der nicht nach meinem Geschmack ist. Ich bin aus Israel und bin, Gott sei Dank, keine geduldete Schweizer Jüdin. Die Professoren wissen, was Israel ist, aber nicht die Schüler."643

"Die Schweizer sind sehr höflich, sehr aufmerksam, aber sehr distanziert. Und sei es tragisch oder komisch, ich bin viel mehr auf die Deutschen angewiesen. Das ist nicht leicht; die Deutschen haben mir gegenüber weniger Hemmungen als ich ihnen ge-genüber. Ich werde diese Hemmung schon überwinden lernen."644

Eine weitere Notwendigkeit, sich mit dem Zusammentreffen von Menschen ver-schiedener Herkunft auseinander zusetzen, zeigt sich in der Arbeit Neve Hannas.

Die Entstehungsgeschichte des Heimes zeigt, dass hier die deutsche mit der israeli-schen Kultur verschmolzen ist. Die Jeckin Hanni Ullmann, obwohl sie sich ganz mit ihrer jetzigen israelischen Staatsbürgerschaft identifiziert, bringt unübersehbar soge-nannte "deutsche" beziehungsweise westeuropäische Qualitäten wie Ordnung,

642 Renate UCKO in einem "Bericht aus dem Kinder- und Jugendheim 'Neve Hanna' in Kiryat Gat". September 1978. S. 3.

643 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 22.3.1953. S. 4.

644 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 22.5.1953.

berkeit und Disziplin ein. Ihre Sprachkenntnisse, die es ihr leicht machen, Kontakte zu Deutschland und in die Schweiz zu pflegen, ermöglichen Neve Hanna einen re-gen Austausch mit Menschen aus diesen Ländern. Zugleich arbeiten in Neve Hanna überwiegend Jüdinnen und Juden, die in Israel geboren sind oder schon lange im Land leben.

Die nähere Umgebung Neve Hannas, die Ortschaft Kiryat Gat, ist eine Einwanderer-stadt. In den letzten Jahrzehnten vergrößerte sich diese Stadt in einer atemberau-benden Geschwindigkeit vor allem durch den Zuzug von Olim Chadaschim aus der GUS und Äthiopien. Damit nahm auch die Zahl der potentiellen, aus den verschie-densten Flüchtlingsfamilien stammenden Heimkinder zu.

Betrachtet man Neve Hanna in noch größerem Zusammenhang, als ein Teil des Landes Israel, so rückt die gerade in der Gegenwart wieder aktuell gewordene Prob-lematik zwischen Arabern und Juden in den Vordergrund. In diesem Kontext ist die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Kulturen auch für Neve Hanna ein zent-rales, oft angstbesetztes, Thema. So berichtet Hanni Ullmann einmal über die hor-renden Ausgaben für die Bewachung des Heims, das direkt an der Verbindungsstra-ße zwischen Gaza und Hebron liegt:

"Wir sind alle besorgt über die schwere Situation, in die wir hineingeraten sind. Noch viel schlimmer und bitterer ist aber unsere eigene Zerrissenheit und doch hoffe ich, dass wir die Kraft haben werden, durchzuhalten, bis wir einen Weg finden werden, der sowohl Palästinensern wie auch uns Israelis die Möglichkeit zu einem friedlichen Zusammenleben geben wird."645

Die kulturelle Unterschiede werfen aber nicht nur politische, sondern auch pädagogi-sche Probleme auf:

"Wir beschäftigen uns zur Zeit sehr mit der Frage der pubertierenden Kinder. Die Hauptschwierigkeiten liegen bei den Mädchen. Die heranwachsenden Jungen wollen ernsthaft lernen, wollen die Schule beenden und die, die nicht das Abitur erreichen können, wollen noch vor dem Militär einen Beruf erlernen.

Die orientalischen Mädchen sind mit 14, 15 Jahren allerdings schon Frauen, würden am liebsten heiraten und Kinder bekommen."646

Trotz allen Schwierigkeiten bezieht Hanni Ullmann eindeutig Stellung für die Völker-verständigung und sieht in der entsprechenden Erziehung von Kindern und Jugendli-chen für sich eine Möglichkeit, dazu beizutragen:

"Es ist bestimmt nicht leicht, aus einem solchen Völkergemisch, wie wir es hier ha-ben, ein Volk zu formen. Es ist mir klar, dass unser Weiterbestehen davon abhängt, ob wir es fertig bringen, zu einem Volk zusammenzuschmelzen, aber das erfordert die Bereitschaft jedes Einzelnen. Mit der Erziehung zu dieser Gemeinschaft muss man schon in jüngstem Alter anfangen."647

"Jetzt gerade ist das Interesse wieder erwacht. (Wir hatten es immer vor) Hausmütter und Erzieher für Heime unserer Art auszubilden und zwar in Neve Hanna. Sie wissen ja sicher, dass ich unbedingt dafür bin, nicht nur jüdisch-israelische Anwärter

645 Hanni ULLMANN in einem Brief an Karl Heinrich RENGSTORF, Münster. 16.12.1981.

646 Hanni ULLMANN in einem Brief an Georges BLOCH, Zürich. 2.12.1974.

647 Hanni ULLMANN in einem Brief an Georges BLOCH, Zürich. 2.12.1974.

nehmen, sondern auch arabische. Die meisten Leute halten mich für verrückt, jedoch glaube ich fest daran, dass der Frieden nur kommen kann, wenn unsere beiden Völ-ker gemeinsam lernen und arbeiten. Auch unser Erziehungsministerium ist daran in-teressiert, dass beide Völker vertreten sind."648

"Ich bin 100% gegen Vergeltungsmaßregeln. Das führt nur wieder zu neuem Hass und Unglück. Es wäre genug Platz in unserem Lande, dass beide Völker friedlich zu-sammenleben könnten. ...

Ich lebe jetzt über 50 Jahre in diesem Lande, liebe von ganzem Herzen mein Land und will auch niemand von hier vertreiben. Wir bemühen uns auch sehr, in diesem Sinne die Kinder von Neve Hanna zu erziehen, was nicht einfach ist, denn die Kinder sind ja nur ein Tropfen auf einen sehr heißen Stein."649

Dass ihr Streben nach Frieden und Versöhnung ein generelles ist und sich nicht nur auf die Situation in Palästina und Israel bezieht, zeigt eine Reaktion auf einen Vor-trag von Eduard Spranger, Tübingen, zum Thema "Wissen und Wesen politischer Ideologien", den sie in Zürich gehört hatte:

"Mit welchem Mut dieser alte Mann (wahrscheinlich um seines Alters, seiner Würde willen ist es ihm erlaubt) Europa und Amerika anruft, sich klar zu werden, vor was sie stehen, wenn sie nicht zu einer wahren Einheit kommen, wenn die Menschheit um-sonst um ihre Freiheit gekämpft hat. Der Abend hat mir viel gegeben."650

Das Engagement für Verständigung und Frieden bleibt aber nicht nur auf die Person Hanni Ullmanns beschränkt, sondern ist eine der wichtigsten Aufgaben des ganzen Heims:

"Chanan651 ist übrigens zur Zeit in Ägypten für acht Tage. Er ist in einer Arbeitsgrup-pe für den Frieden in der Uni Beer Sheva gewählt worden. Er ist schon ein Jahr in dieser AG 'Lehrer und Erzieher für Juden und Araber'. Das Ganze ist eine Stiftung von Deutschen auf den Namen Martin Buber."652

Im Heim selber leben ausschließlich jüdische Kinder - sei es aus historischen Grün-den oder aus Angst vor Grün-den Großfamilien, die hinter Grün-den arabischen Kindern stehen und eventuell Probleme bereiten könnten. Trotzdem ist Neve Hanna eines der weni-gen Heime, die ihr Konzept explizit auf Völkerverständigung ausgerichtet haben.

Nach den Terroranschlägen in New York am 11.9.2001 kommt diesen Bemühungen um Frieden der Völker untereinander eine noch dringlichere Bedeutung zu als be-reits vorher.

Aktuell findet der Begegnungsprozess auf vier Ebenen statt:

1. In der Abstammung der Heimkinder selbst.

2. In Form von Briefpatenschaften zwischen Neve-Hanna-Kindern und Menschen aus dem Ausland.

648 Hanni ULLMANN in einem Brief an Hannes KRAEMER, Freiburg. 13.7.1989.

649 Hanni ULLMANN in einem Brief an Familie KROWATSCHEK, Homberg. 8.5.1980.

650 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 7.6.1953.

651 Der schweizer Jude Chanan GUGGENHEIM leitete zusammen mit seiner Frau Batia in der Zeit von 1974 bis 1981 als erster Direktor Neve Hanna.

652 Hanni ULLMANN in einem Brief an Hilde DUNKER, Hamburg. 26.5.1980.

"Frau Renate Ucko hat es übernommen, als freiwillige Mitarbeiterin die Verbindung zu den Pateneltern, Patenfreunden zu übernehmen. Sie schreibt und übersetzt mit den Kindern die Briefe und die kleinen Päckchen, die die Kinder geschickt bekom-men."653

3. Durch die Beschäftigung von Volontären654 aus Europa und Amerika.

Auch wenn die ausländischen Volontäre für die Neve-Hanna-Kinder zur Selbstver-ständlichkeit geworden sind, erinnert doch jede neue Volontärsgeneration mit ihren anfänglichen Sprachschwierigkeiten daran, dass sie nicht in Israel zuhause ist.

Durch sie lernen die Kinder Geduld zu haben mit Menschen, die sich erst einmal in einer neuen Umgebung zurechtfinden müssen. Im besten Fall findet auch ein direk-ter Austausch statt, beispielsweise in thematischen Abenden zum jeweiligen Her-kunftsland, in Gesprächen über die Sitten und Gebräuche oder später durch Brief-kontakte. Zusätzlich übt die Pädagogik Neve Hannas indirekt in einer Wechselwir-kung Einfluss auf deutsche Kinder aus, da viele der zurückkehrenden Volontäre er-zieherische Berufe ergreifen und als Multiplikatoren ihre Auslandserfahrungen in ihre Arbeit mit einbringen werden.

4. In der Begegnung mit arabischen (Beduinen-) Kindern.

15.2.5.1 Der Kontakt zu Beduinenkindern aus Rahat

Der regelmäßige Austausch mit Kindern einer Beduinenschule aus Rahat im Negev ist die Ebene, auf welcher die Neve-Hanna-Kinder am bewusstesten mit Menschen einer anderen Völkergruppe in Berührung kommen.

Zu Beginn der 90er Jahre schrieb Hanni Ullmann:

"Zu unserer großen Freude wird morgen endlich eines unserer schon so lange geplanten Projekte Wirklichkeit. Wir haben Kontakt aufgenommen zum Leiter einer Beduinenschule in der Siedlung Rahat im Negev. Wir werden einmal die Woche hinfahren und sechs Kinder zu uns holen, damit sie zusammen mit sechs Neve-Hanna-Kindern einen von Dudu655 erteilten Keramikkurs

mitmachen. Wir hoffen, dass diese Zusammenarbeit zu etwas gegenseitigem Verständnis führen wird. Allerdings nur ein Tropfen im Meer."656

"Es ist uns endlich gelungen, Kontakt mit einer Beduinensiedlung im Negev aufzu-nehmen. Die Kinder kommen einmal in der Woche zu uns und nehmen zusammen mit unseren Kindern an einem Keramikkurs teil. Und unsere Kinder fahren zu ihnen, um auch dort sich zusammen mit den Beduinenkindern sich zu beschäftigen und sie kennenzulernen. Es war nicht leicht, die Kinder und die Erwachsenen auf dieses

653 Hanni ULLMANN in einem Brief an Friedemann OETTINGER, Wiesbaden. 5.3.1980.

654 Dass die Beschäftigung von Volontären aber nicht nur dem idealistischen Zweck der Völkerverständigung dient, zeigt sich in einem Brief Hanni ULLMANNS aus Zürich an Jashuvi vom 8.6.1953: "Die Frage der Praktikantinnen scheint mir brennend. Auf dem Gebiete sehe ich hier in der Schweiz viele Möglichkeiten. Ich will mich im Ferienmonat intensiv damit beschäftigen. Es ist bestimmt ein positiver Weg, unsere Personalkosten zu verringern."

655 David WEGER.

656 Hanni ULLMANN in einem Brief an Hannes KRAEMER, ohne Angaben.

sammensein vorzubereiten, aber wir hoffen, dass es zu gegenseitigem Verständnis führen wird."657

Etwa jeweils zehn Kinder treffen sich regelmäßig zum Singen, Tanzen, Theaterspie-len und Werken. Dabei soll das gemeinsame Tun im Vordergrund stehen und die politische Diskussion zunächst außer acht gelassen werden. Erst wenn auf mensch-licher Ebene die Kontakte und das Vertrauen fest und tragfähig ist, kann begonnen werden, sich über die Probleme des Zusammenlebens auszutauschen.

Von Anfang bis Mitte Oktober 1993 konnte durch eine großzügige Spende von Hel-mut Gollwitzer mit sechs Beduinen- und sieben Neve-Hanna-Kindern eine Deutsch-landrundreise durchgeführt werden. In kleinerem Maßstab finden gemeinsame Rei-sen und Ausflüge zum Beispiel in das Ferienhaus Neve Hannas nach Rosh Pina in der Nähe des See Genezareths statt.

Parallel zu den Kontakten nach Rahat beginnen Verbindungen zu einem Jungen-heim in Beit Jala zu wachsen. Dieses Vorhaben ist noch schwieriger zu realisieren als der Austausch mit Rahat, da es im Bewusstsein der israelischen Bevölkerung einen Unterschied zwischen den recht loyalen Beduinen und den immer wieder mili-tant auftretenden Palästinensern aus den "besetzten Gebieten", zu denen Beit Jala zählt, gibt. Beide Seiten, besonders aber die Mitarbeiter/innen aus Beit Jala, müssen von ihren rechtsgerichteten Landsleuten Kritik und Anfeindungen hinnehmen. Wäh-rend sich diese Beziehungen - aus welchen Gründen auch immer - in der Vergan-genheit ziemlich mühsam gestalteten, ist nun vor dem Hintergrund des andauernden Beschusses auf Beit Jala geplant, dass im Frühjahr 2002 eine Gruppe des Jungen-heims zur Erholung nach Neve Hanna fahren wird.