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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

10. Die Auswanderung und Emigration nach Palästina (1929 - 1934 und die folgenden Jahre)

10.3 Die Emigration der Ahawah (ab 1934)

10.3.1 Die ersten Gedanken an eine Auswanderung

Ab dem Jahr 1933 begann sich einiges am Alltag der Ahawah zu verändern. Nach der Machtergreifung Adolf Hitlers am 30.1.1933 brannte Ende Februar wenige

hundert Meter von der Auguststraße entfernt der Reichstag. Kurz darauf wurden als Folge von Neuwahlen und durch das sogenannte "Ermächtigungsgesetz" alle Bin-dungen an die Verfassung und an parlamentarische Kontrollinstanzen außer Kraft gesetzt.

Die gegen die Jüdinnen und Juden gerichtete Maßnahmen widersprachen jeglicher Vorstellung von Menschenwürde und verwehrten ihnen zunehmend die Teilnahme am öffentlichen Leben. Neue Schulerlasse beispielsweise zielten auf direktem oder indirektem Weg (zum Beispiel über die Verweigerung einer Schulgeldermässigung für "nichtarische" Schüler402) darauf ab, jüdische Schülerinnen und Schüler aus staatlichen Schulen zu verbannen.

Ein ehemaliges Ahawah-Kind fand in den Tagebüchern seines Großvaters eine Be-schreibung der zunehmenden Repressionen dieser Zeit.403 Jeweils am Tisha be Aw blickte er zurück auf das vergangene Jahr. In diesen Aufzeichnungen wird unter an-derem die Identitätskrise der Juden aufgrund ihrer gleichzeitigen Zugehörigkeit zum deutschen und zum jüdischen Volk deutlich, welche die Erwachsenen bewusst wahrnahmen, die aber auch die Kinder nicht spurlos vorübergegangen sein konnte:

1933: "Die ersten Rechtsanwälte und Lehrer jüdischen Glaubens wurden größtenteils aus ihren Ämtern entfernt. Für uns Kaufleute ist die Lage sehr unbestimmt, denn wir wissen noch nicht, was kommen wird. Jedenfalls bin ich bestrebt, dem neuen Staat so zu dienen, wie es einem guten Juden seine Pflicht ist, sein möglichstes zu tun und seinem Vaterland zu dienen. Aber als Zionist bin ich bestrebt, so viel in meiner Kraft steht, dem Aufbau Erez Israel zu dienen."

1935: "In diesem Jahre hat sich die Lage für uns Juden wesentlich verschlechtert. In dem Volksbad und Hallenbädern sind Tafeln angebracht: 'Juden unerwünscht.' Und an den meisten Geschäften sind Tafeln, damit man die jüdischen Geschäfte erkennt. In manchen Ortschaften ist es den Juden verboten, im Gemeindebackhaus ihr Brot zu backen. Hoffentlich werden im kommenden Jahr nicht noch schärfere Maßregeln ge-gen uns ergriffen."

1936: "Dieses Jahr ist für uns sehr folgenschwer verlaufen. Meine ganze in über 50, 60 Jahren aufgebaute Existenz mussten wir infolge der Umwälzungen im Deutschen Reiche aufgeben. Es kam so weit, dass unsere Vertreter ihre Posten aufgeben muss-ten, weil unsere meist langjährigen Kunden nicht von Juden kaufen dürften. So

401 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

402 Vgl. eine Beilage zur Jüdischen Rundschau: Die jüdische Schule. Blätter für jüdische Erziehung. Nr. 4. 12.9.1933. o. S.

403 RM (anonym) in einem Gespräch am 29.8.1997 in Haifa.

mussten wir im April 1936 unser Geschäft verkaufen, zogen nach Frankfurt, wo wir jetzt auf ein Zertifikat warten, bis wir nach Palästina wandern können."

Den jüdischen Menschen boten sich in dieser Situation zwei Möglichkeiten: Je nach dem, welche politisch-gesellschaftliche Haltung sie vertraten, vertrauten sie entweder darauf, dass ihnen als loyale deutsche Bürger nichts passieren würde oder sie er-kannten die Gefahr rechtzeitig und bemühten sich, Deutschland möglichst schnell zu verlassen. Beate Berger als die Verantwortliche der Ahawah gehörte dieser zweiten Gruppe an.

"Frau Berger war eine glühende Zionistin. Der Funke ihrer eigenen Begeisterung und der Wunsch, Palästina als jüdische Heimstätte aufzubauen, übertrug sich sowohl auf die Kinder wie auch auf alle Mitarbeiter."404

"Es gibt hier sehr viele Leute in Kibbuzim, wie Givat Brenner, die zu den ersten Mitar-beitern von Ahawah in Berlin gehörten. Eigentlich war die Ahawah eine Durchgangs-station für zionistisch eingestellte Pioniere in das damalige Palästina."405

Beate Bergers Blick war schon immer nach Palästina gerichtet. Aus den Quellen geht jedoch nicht eindeutig hervor, ob die Ahawah auch ohne diese Notsituation nach Palästina übergesiedelt wäre oder ob die Sehnsucht der Oberin nach dem ver-heißenen Land wie bei manchen anderen Zionisten mehr in ihren Gedanken als in der tatsächlichen Verwirklichung existiert hatte. Sicher ist jedoch, dass die drohende Gefahr die Auswanderung beschleunigt hat.

"Das Berliner Heim war religiös und zionistisch geführt und so war es eigentlich selbstverständlich, dass mit Hitlers Machtergreifung die Leiterin Berger in Palästina Zuflucht für ihre Kinder suchte."406

Schon sehr früh, bereits im September 1933407 lassen sich konkrete Pläne über eine Ansiedelung in Palästina nachweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Ahawah bereits eine Zusage vom Keren Kajemet Le Israel über 15 Dunam408 Land in der Haifa-Bucht, die kostenlos bereitgestellt werden sollten. Ende 1934 berichtet die Jüdische Rundschau bereits über sehr viel differenziertere Überlegungen. Wie viele andere Siedlungen, die in der damaligen Zeit mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit aus dem Boden gestampft wurden, wurde auch Kiryat Bialik komplett auf dem Reiß-brett geplant. Am 24.7.1934 wählte die konstituierende Generalversammlung die endgültige Leitung der Siedlung. Das Protokoll dieser Sitzung zeigt gleichzeitig auch, dass die Ahawah beim Aufbau von Kiryat Bialik409 eine wichtige Rolle spielte.

404 Hanni ULLMANN in dem Vortrag: 10 Jahre Neve Hanna. S. 3.

405 Hanni ULLMANN in dem Vortrag: Erziehungsarbeit im Kinderheim Ahawah.

Jerusalem. 1965, S. 1.

406 Aus einem Vortrag von Dr. BACHERACH-KROMBACH. 1955. S ? 407 Jüdische Rundschau. Nr. 73. 12.9.1933. S. 512.

408 Palästinensisches Bodenmaß, insbesondere für ländliche Böden: 1 Dunam = 1600 Quadratpic = 919 qm

An anderer Stelle (Jüdische Rundschau. 12.4.1935. S. 6) ist von 20 Dunam Boden die Rede.

409 Der ursprüngliche Teil der Siedlung, zu dem auch die Ahawah gehört, hieß - und heißt bis heute - eigentlich Kfar Bialik. Erst später, als sich das Dorf vergrößerte, wurde die

Gesamtheit der Stadtteile Kiryat Bialik genannt. Da dieser Unterschied aber in der Literatur und in der Umgangssprache meist nicht berücksichtigt wird und dies für die vorliegende Arbeit nicht relevant ist, wird auch hier einheitlich der Name Kiryat Bialik verwendet.

"Der gesamte Parzellierungsplan musste noch einmal abgeändert werden, da das Kinderheim 'Ahawah', dem ursprünglich im Norden der Siedlung eine Fläche von 15 Dunam zugewiesen war, sich jetzt entschlossen hat, einen anderen, südlich unserer jetzigen Siedlung gelegenen Boden zu übernehmen, und wir erhalten dadurch die ur-sprünglich für die 'Ahawah' bestimmten 15 Dunam."410

Geplant war, ein Ahawah-Zweiginstitut als Stadtrandsiedlung bei Haifa zu gründen, das zunächst die ältesten Kinder der Ahawah aufnehmen sollte. Das Ziel war, ein Heim aufzubauen, das, genau wie in Berlin, 120 Kindern Platz bot.411

Von einer Auswanderung in dem Sinne, dass das neue Heim die Berliner Ahawah ablösen sollte, war zu dieser Zeit jedoch ausdrücklich nicht die Rede. Im Gegenteil:

"Es muss besonders betont werden - angesichts zahlreich ausgesprochener Befürch-tungen - dass das hiesige Heim unbedingt weiterbestehen soll. Denn seine Existenz wird angesichts der derzeitigen Verhältnisse, wo so viele ehemals gesicherte Famili-enexistenzen zerbrechen, mehr als je notwendig sein."412

Auch wurde noch nicht daran gedacht, dass die Ahawah in Kiryat Bialik wenig später als Notaufnahmestation dienen würde.

Mit der Schaffung der neuen Ahawah als einer Stadtrandsiedlung wurde in Palästina ein pädagogisches Zeichen gesetzt. Sie verkörperte

"einen im Lande noch nicht vorhandenen Anstaltstyp ..., der vor allem die individuelle Veranlagung der Kinder berücksichtigt."413

Was das heißt wird erst deutlich, wenn man sich bewusst macht, dass es bis um die Jahrhundertwende in Palästina noch so gut wie gar keine Kinderheime gab, weil man noch keine benötigte. Die meisten der Chaluzim der ersten Einwanderungswellen waren unverheiratete Männer ohne Kinder. Später, als mehr Familien einwanderten oder in Palästina gegründet wurden, kümmerte sich die Siedlungsgemeinschaft um unversorgte Kinder. Dringlich wurde das Problem vor allem mit der Zunahme der Pogrome in Polen und Russland in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und mit Beginn der NS-Diktatur in Deutschland. Viele der aus dem Ausland ankom-menden Kinder und Jugendlichen wurden in Kibbuzim untergebracht, da sich deren auf die Gemeinschaft gründende Struktur und die vorhandenen Einrichtungen für ihre Aufnahme als geeignet erwiesen. Zudem wurden in Zusammenarbeit mit der Jugendalijah und der Gewerkschaft Jugenddörfer in Stil und Größe von Ben Sche-men gegründet. Dabei ging es vor allem darum, in Notzeiten in kurzer Zeit eine gro-ße Anzahl Kinder und Jugendliche aufnehmen zu können. Die Erfüllung der Grund-bedürfnisse (Schlafen, Ernährung, Kleidung) hatte Vorrang vor dem individuellen Wohl des einzelnen Kindes.

Die Auswahl der Berliner Ahawah-Kinder, die als erste umziehen durften, hatte einen sehr elitären Charakter. Wie für die Auswahl zur Jugendalijah waren persönliche Eignungskriterien wie eine gute Gesundheit, Anpassungsfähigkeit an die neue Um-gebung und die Bereitschaft, sich in eine Gruppe einzufinden, sowie der Stand der

410 Jüdische Rundschau. Nr. 85. 23.10.1934, S. 6.

411 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

412 Jüdische Rundschau, 12.9.1933. S. 512.

413 Ebd.

Ausbildung, vor allem hinsichtlich haus- und landwirtschaftlicher Fertigkeiten und hebräischer Sprachkenntnisse und das Alter (12 - 15 Jahre) entscheidend. Auch daran ist abzulesen, dass bei weitem noch nicht daran gedacht wurde, dass die sich abzeichnende politische Bedrohung in wenigen Jahren lebensgefährlich werden würde.

10.3.2 Die konkreten Vorbereitungen, Organisation und Durchführung

Beate Berger nahm Kontakt zu Henrietta Szold, der Organisatorin der Kinder- und Jugendalijah auf, die von Jerusalem aus wirkte. In mehreren Dokumenten kommt eine auffallend große Hochachtung der Oberin gegenüber Henrietta Szold zum Aus-druck:

"Wir können die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um ihnen noch einmal und immer wieder Dank zu sagen für die wunderbare Fürsorge, mit der Sie sich dem Wohl unserer Kinder annehmen. Wir wüssten tatsächlich nicht, was wir mit unseren zukunftslosen Kindern anfangen sollten, wenn Sie nicht, sehr verehrte Miss Szold, ih-rer Lage diese tatkräftige Hilfe und dieses warme Vertrauen entgegenbrächten, die allein unsere Arbeit stützt und fördert. "414

In einer Einladung an Henrietta Szold anlässlich der Grundsteinlegung der Ahawah in Kiryat Bialik schreibt Beate Berger:

"Wir rechnen bestimmt damit, dass Sie daran teilnehmen werden, denn ohne Sie wä-re für uns die Feier nicht vollkommen. Sie wissen ja, dass Sie uns und den Kindern der liebste aller Gäste sind. Wir laden Sie hiermit nochmals auf das Herzlichste ein."415

Ob diese betonte Freundlichkeit im diplomatischen Geschick Beate Bergers oder in freundschaftlichen Gefühlen Henrietta Szold gegenüber begründet war, wird nicht deutlich. Auf jeden Fall gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen der Ahawah und der Kinder- und Jugendalijah komplikationslos und effektiv.

Nach mehreren Palästinareisen im Herbst 1934416 meldete Oberin Berger im Okto-ber desselben Jahres ihren festen Wohnsitz dort an.417

Bereits am 7. Oktober desselben Jahres wurde gegenüber der Kinder- und Jugenda-lijah festgehalten, dass sich die Ahawah durch die Beibringung von finanziellen Ga-rantien beziehungsweise durch die Hinterlegung von Pfandbriefen Rechte auf Zertifi-kate erworben hat.418

414 Aus einem Brief der Ahawah/Berlin an Henrietta SZOLD am 29.11.1934.

415 15.3.1935.

416 Jüdische Rundschau. Nr. 92. 16.11.1934. S. 13: Ankündigungen:

"Informationsabend der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendalijah ... anlässlich der Rückkehr aus Palästina von Dr. Josephtal, Landgerichtsrat Rau und Frau Oberin Berger vom Kinderheim Ahawah."

417 Bescheinigung der Jewish Agency for Palestine vom 29.10.1934: "Wir bestätigen hiermit, daß Frau Oberin Beate Berger auf C-Zertifikat nach Palaestina eingewandert ist und hier ihren dauernden Wohnsitz genommen hat.", (Central Zionist Archives, Jerusalem, S 75/55).

418 Brief von Georg LANDAUER an Henrietta SZOLD: "Betrifft: Zertifikate für Ahawah; Ich habe mit Herrn Berger vereinbart, daß die Ahawah für jedes Kind, für das sie keine Garanten beibringen kann, einen Betrag von £ 100.- durch Hinterlegung von Pfandbriefen der Hypothekenbank bei uns deponiert. Bis zur Hinterlegung der Pfandbriefe sperren wir einen