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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

9. Die Arbeit in der Ahawah in Berlin (1926 - 1929)

9.2 Die Ahawah

9.2.5 Die grundlegenden Vorbilder und Prägungen

9.2.5.2 Die Einflüsse aus der Literatur

Neben diesen zeitgenössischen Vertretern der Pädagogik, welche durch ihre persön-liche Mitarbeit einen direkten Beitrag zur Erziehung in der Ahawah leisteten, ist an-zunehmen, dass auch Einflüsse aus der Fachliteratur das Profil dieses Heims mitbe-stimmt haben. Aufgrund eines Artikels der Sozialwissenschaftlerin Hilde Ottenhei-mer335 kann davon ausgegangen werden, dass von den pädagogischen Klassikern vor allem Rousseau, die Philanthropisten, Francke, Pestalozzi und Fröbel bei jüdi-schen ErzieherInnen auf Interesse stießen.336

Hanni Ullmann verweist in Gesprächen immer wieder auf einige dieser Pädagogin-nen und Pädagogen, die zu ihren wichtigsten Vorbildern zu gehören scheiPädagogin-nen.

Jean Jacques Rousseau

Obwohl sich Hanni Ullmann nicht explizit an Schriften Rousseaus erinnert, die sie gelesen hat, so ist laut Hilde Ottenheimer doch anzunehmen, dass ihr und den

333 LIEGLE, Ludwig, KONRAD, Franz-Michael (Hg.): Reformpädagogik in Palästina. Dokumente und Deutungen zu einer "neuen" Erziehung im jüdischen Gemeinwesen Palästinas (1918- 1948). Frankfurt am Main 1989. S. 109.

334 LIEGLE, Ludwig, KONRAD, Franz-Michael (Hg.): Reformpädagogik in Palästina. Dokumente und Deutungen zu einer "neuen" Erziehung im jüdischen Gemeinwesen Palästinas (1918- 1948). Frankfurt am Main 1989. S. 226.

335 Hilde OTTENHEIMER (geb. 1896; verschollen 1942) studierte 1919-1922

Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main. Sie wurde als Mitarbeiterin der ZWST in den Referaten Jugendfürsorge und Gefährdetenfürsorge und als Autorin zahlreicher

Veröffentlichungen zu Themen der Sozialarbeit bekannt.

336 OTTENHEIMER, Hilde: Pädagogik und Sozialpädagogik. In: KAZNELSON, Siegmund (Hg.):

Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk. 3. Aufl., Berlin 1962. S. 310.

ren MitarbeiterInnen der Ahawah doch wenigstens seine Grundgedanken vertraut waren.

Während Pädagogen mit christlich-pietistischem Hintergrund wie etwa sein etwas älterer Zeitgenosse August Hermann Francke annahmen, dass der Mensch seit A-dams Sündenfall grundsätzlich schlecht ist und die Erziehung seiner sittlich-moralischen Besserung dienen müsse, behauptete Rousseau, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Er ging davon aus, dass in jedem Kind positive Ressourcen ange-legt sind, welche durch die Erziehung gefördert werden müssten. Dass Hanni Ull-mann in diesem Punkt gleicher Meinung ist, belegt unter anderem ein Briefausschnitt aus dem Jahr 1962:

"Die neuen Kinder, die kommen, (sind) von Jahr zu Jahr schwieriger, verwahrloster und dadurch unglücklicher. Manchmal glaube ich, nicht die Kraft zu besitzen, um die ungeheure Verantwortung den Kindern gegenüber tragen zu können. Aber es hilft mir immer wieder mein Glaube, dass in jedem Menschen der Wille zum Guten da ist und dass der Augenblick im Leben jedes Kindes kommt, wo es zum mindesten fühlt, dass es die Möglichkeit hat, den Weg zum Guten zu finden."337

Rousseau gilt als einer der ersten, die ein Kind nicht nur als kleinen, noch defizitären Erwachsenen betrachteten, sondern dem Kindesalter ein Recht als eigenständige Entwicklungsphase zusprachen. Um die Kinder ihrem positiven Naturzustand näher-zubringen forderte er Freiheit statt Autorität, Erfahrung statt theoretischem Lernstoff aus Büchern, Raum zur freien Entfaltung der kindlichen Bedürfnisse und Begleitung durch kameradschaftliche ErzieherInnen.

In der Ahawah in Berlin wurde die Umsetzung dieser Forderungen noch durch einen relativ streng reglementierten Heimalltag erschwert. Einige Jahre später, in der Zeit der Auswanderung und des Neuanfangs in Palästina wurde deutlich, dass einige dieser Ansätze wie etwa der praxisnahe Unterricht oder der freundschaftliche Um-gang zwischen ErzieherInnen und Kindern wohl schon in Berlin gedanklich existent, aber erst unter den neuen Rahmenbedingungen realisierbar waren.

Johann Heinrich Pestalozzi

Pestalozzi ist einer der Pädagogen, die Hanni Ullmanns Werk auch nachweislich lebenslang immer wieder beeinflusst haben. In Neve Hanna werden sowohl die Kin-der als auch die ErzieherInnen täglich nonverbal daran erinnert, dass hier pestaloz-zianisches Gedankengut die Praxis mitbestimmt: An zentraler Stelle, im Treppen-haus des Gebäudes, das die Verwaltung und den Kinderhort beherbergt, hängt der Druck eines Gemäldes, das ihn nachdenklich in ein Buch vertieft darstellt.

Der christliche Erzieher Pestalozzi wurde für Hanni Ullmann als Jüdin sicher auch dadurch interessant und akzeptabel, weil er eindeutig Position gegen Judenmission und Judenfeindschaft eingenommen hatte. Heinrich Tschokke, der Leiter der Kanto-nalerziehung und zuständig für das Kinderheim in Stans, drohte Pestalozzi im Jahr 1799 an, ihm die Unterstützung zu entziehen, falls er die im Heim lebenden jüdi-schen Waisen nicht taufen lassen werde. In seinem Antwortbrief schrieb Pestalozzi:

337 Hanni ULLMANN in einem Brief an Karl Heinrich RENGSTORF. Kiryat Bialik 13.8.1962. S. 1.

"Nein, ..., wenn Du so unedel sein kannst und das Verlangen stellst, ich solle die ar-men Waisen zum Christentum zwingen, dann fehlt Dir die nötige Einsicht. In Glau-benssachen muss weder Gewalt noch Zwang herrschen! ... Glaubensfeindschaft ent-sittlicht und verwildert! Mein einziges Ziel ist: die wahre, volle Menschenliebe betäti-gen. Willst Du mir dabei helfen, so stelle keine Bedingungen - und beseitige das schlechteste der Gefühle - die Judenfeindschaft."338

Die intensivste Auseinandersetzung mit Pestalozzi fand für Hanni Ullmann in der Zeit ihres Studiums in der Schweiz statt.Anlässlich einer Exkursion stellt sie fest:

"Ich brauchte sein Buch natürlich nicht mitzunehmen, auf Schritt und Tritt begegnete er mir. Ich staune, wie dieser Mann, sein Geist, im Erziehungswesen lebendig geblie-ben ist."339

Aber auch schon aus der Berliner Zeit ihrer Ausbildung kannte sie seine Überlegun-gen.

In der Berliner Ahawah - deren Situation in einigen Punkten an die Gegebenheiten Pestalozzis erinnert - finden sich in vielen Konzeptionsansätzen pestalozzianische Einflüsse.

Wie die Ahawah entstanden die verschiedenen Projekte Pestalozzis aus einfachsten Anfängen und lebten vom unermüdlichen Einsatz ihres Gründers. Wie die Ahawah so hatte es auch Pestalozzi oft mit Flüchtlingskindern und Kriegswaisen zu tun. Und genauso wie die Oberin Berger ein strenges, aber sich selbst aufopferndes und von der Liebe zu den Kindern geprägtes Regiment führte, so sagt auch Pestalozzi über sich selbst:

"Dass mein Herz an meinen Kindern hange, dass ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis zum späten A-bend in jedem Augenblick auf meiner Stirne sehen und auf meinen Lippen ahnen. ...

Ich war von Morgen bis Abend so viel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand."340

Die Liebe zum Kind, der sich die Ahawah bis hin zu ihrer eigenen Namensgebung verschrieben hat, ist auch in der pestalozzianischen Theorie ein zentrales Moment.

Janusz Korczak

Wie bei Pestalozzi nimmt auch im Werk des polnisch-jüdischen Erziehers Janusz Korczak das Thema "Liebe zum Kind" einen wichtigen Platz ein. Im Unterschied zu Pestalozzi ist hier aber nicht (nur) die intime Bindung zwischen dem Kind und seiner Bezugsperson gemeint, vielmehr drückt sich für Korczak pädagogische Liebe in ei-ner respektvollen, ernstnehmenden Behandlung des Kindes aus. Dass diese Art von Liebe in der Ahawah praktiziert wurde zeigen Aussagen über die Oberin Berger, die als streng, aber gerecht charakterisiert wurde: "Beate Berger, ... , war eine gestrenge Frau, die aber andererseits das Heim mit Liebe führte."341 Bis in die Gegenwart ist zu

338 Vgl. MENCZEL, Josef: Pestalozzi und die Juden. In: MENCZEL-BEN-TOWIM, Pua (Hg.):

Leben und Wirken - life and work. In Memoriam Dr. Josef Shlomo Menczel 1903 - 1953.

(dt.-engl.) Jerusalem 1983. S. 21f.

339 Hanni ULLMANN in einem Brief an (Hugo Rosenthal-) Jashuvi. Zürich 7.6.1953. S. 18.

340 PESTALOZZI, Johann Heinrich: Stanser Brief. Zürich 1944. S. 9ff.

341 Avital BEN-CHORIN in einem Gespräch am 4.9.1997 in Jerusalem.

beobachten, dass sich Hanni Ullmann, wahrscheinlich nach dem Vorbild Beate Ber-gers und Janusz Korczaks den Kindern liebevoll-sachlich zuwendet, jedoch wenig körperliche Nähe im Sinne pestalozzianischer Liebe sucht.

Die Grundgedanken Korczaks basieren auf zwei Feststellungen:

1. Ein Kind ist - wie bei Rousseau - kein defizitärer Erwachsener, sondern schon von Anfang an ein vollwertiger Mensch.

2. Kinder sind nicht auf das Wohlwollen der Erwachsenen angewiesen, sondern sie haben Rechte.342

In diesem Zusammenhang beschrieb er in den als "Magna Charta Libertatis" be-kannt gewordenen Grundrechten des Kindes:343

- Das Recht des Kindes auf seinen Tod

- Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag - Das Recht des Kindes, so zu sein wie es ist

Die Forderung nach dem Recht des Kindes auf seinen Tod beinhaltet eine Warnung vor zu überbehütendem, einengendem Umgang mit den Kindern. Korczak erläuterte dazu:

"Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben;

um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben. Selbst in der verderb-lichen Atmosphäre lähmenden Wartens auf das, was kommen soll, aufgewachsen, eilen wir ständig einer Zukunft voller Wunder entgegen. Träge wie wir sind wollen wir das Schöne nicht heute und hier suchen um uns zum würdigen Empfang des heuti-gen Tages zu rüsten: Sondern das Morheuti-gen selbst soll uns den neuen Aufschwung bringen."344

Das Recht des Kindes auf seinen Tod könnte auch umformuliert werden in das Recht des Kindes auf sein Leben; auf sein natürliches, altersentsprechendes Leben.

Korczak warnte davor, das Kind durch Überbehütung dem Leben zu entfremden.

Vielleicht klingt hier auch die religiöse Überzeugung Korczaks an. Er könnte damit gemeint haben, dass das Leben eines Kindes in Gottes Hand liegt und die Men-schen auch durch größte Anstrengungen den Lebensweg eines Kindes nicht verlän-gern können.

Die Forderung nach dem Recht des Kindes auf den heutigen Tag geht in die gleiche Richtung. An anderer Stelle schrieb Korczak:

342 Diese Aussage erinnert an das jüdische Verständnis von Gerechtigkeit - Zedakah - als eine verpflichtende Aufgabe der Gemeinschaft, jedem/ jeder einzelnen Notleidenden gemäß seiner/ ihrer Bedürfnisse zu helfen. Der/ die Bedürftige ist nicht auf evtl. herablassende

Großzügigkeit angewiesen, sondern hat ein legales Recht auf Hilfe. Gerechtigkeit statt Mitleid.

Vgl.: KONRAD, Franz-Michael: Jüdische Ethik sozialen Helfens. In: STASCHEIT, Ulrich, KONRAD, Franz-Michael, HEUER, Renate (Hg.): Zedakah. Zeitschrift der jüdischen Wohlfahrtspflege. Reprint der Ausgaben von 1925 - 1928. Frankfurt am Main 1997. S. 17.

343 KORCZAK, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. 12. Aufl., Göttingen 1998. S. 40f.

344 Ebd. S. 44.

"Ich bin verantwortlich für den heutigen Tag meines Zöglings, es ist mir kein Recht gegeben, sein künftiges Schicksal zu beeinflussen und mich da einzumischen. Aber dieser heutige Tag soll heiter sein, voll froher Anstrengungen, kindlich, sorglos, ohne Verpflichtung, die über das Alter und die Kräfte hinausgeht. - Ich soll dem Kind die Möglichkeit gewährleisten, seine Energie freizusetzen, ich soll ihm unabhängig vom Gemurre des verletzten geschriebenen Rechts und seiner Paragraphen die ganze Luft, Sonne, das ganze Wohlwollen geben, das ihm gebührt, unabhängig von den Verdiensten oder Schuld, von Vorzügen oder Lastern."345

Einen besonderen Schwerpunkt legte Korczak auf die Beobachtung des Kindes.

Durch seinen Beruf geschult versuchte er bei jedem einzelnen Kind Kleinigkeiten wahrzunehmen und sich daraus ein Gesamtbild zu machen. Dies war zu dieser Zeit in den damaligen anstaltsartigen Heimen unüblich und auch für ihn - bei 130 und mehr Kindern - mit erheblichem Aufwand verbunden. Diese Beobachtung geschah aber nicht, um das Kind nach eigenen Vorstellungen verbessern zu wollen, sondern um zu begreifen, was in dem Kind vorgeht und wie es zu behandeln sei.

Korczak machte sich keine Illusionen, die Kinder in der Zeit, in der sie unter seiner Obhut sind, grundlegend verändern zu können. Er war sich bewusst, dass jedes Kind ein eigener Mensch ist, der seine Anlagen, Begabungen, Schwächen und Vorerfah-rungen hat und dass der Einfluss des/der ErzieherIn nur in diesem Rahmen dieser vorgegebenen Bedingungen wirken und vor allem nichts erzwingen kann.

Anders als Rousseau, der sich nur theoretisch mit der Heimerziehung auseinander-setzte und die praktische Arbeit anderen überließ, verband Korczak die Theorie mit der Praxis. Weil ihm die Strukturen einer natürlich gewachsenen Familie für die Er-ziehung wichtig erschienen, bot er - im Unterschied zu Pestalozzi, der sich alleine um seine Heimkinder kümmerte - den Kindern ein Vater-Mutter-Modell an. Die Mut-terrolle übernahm dabei seine engste Mitarbeiterin, Stefania Wilczynska:

"Ein guter Vater und eine gute Mutter sind die Grundlage natürlicher Liebe und Ach-tung. Mit Gewalt und Befehl werden wir Liebe und Achtung nicht erreichen."346

Er ging aber nicht so weit, sein Heim deswegen als einen Familienersatz zu betrach-ten.

Die Illusion, das Heim könne die Ursprungsfamilie ersetzen, wäre schon deshalb nicht haltbar gewesen, weil in einer Großgruppe von über 100 Kindern, die nicht in Familiengruppen unterteilt war, keine familienähnliche, intime Atmosphäre herrschen konnte.

Korczak nutzte aber gerade diese Quantität, um die Kinder mit basisdemokratischen Verhaltensweisen vertraut zu machen. In Dom Sierot, seinem Waisenhaus in War-schau, gab es die Möglichkeit, seine Anliegen und Meinungen schriftlich vorzubrin-gen (Schwarzes Brett, Meckerkasten, Heimzeitung). Darüber hinaus tagte regelmä-ßig der Kinderrat, bei ihm "Kameradschaftsgericht" genannt: Auf der Grundlage ei-nes Gesetzbuches wurde in wöchentlichen Sitzungen über mehr oder weniger schwere Vergehen entschieden. Das Gerichtswesen war bei Korczak der

345 KORCZAK, Janusz: Der kleine Übeltäter. In: Verteidigt die Kinder. Gütersloh 1978. S. 60.

346 DAUZENROTH, Erich: Ein Leben für Kinder. Janusz Korczak. Leben und Werk. 3. Aufl., Gütersloh 1992. S. 29.

punkt für die Gleichberechtigung zwischen Kindern und Erwachsenen, eine Grundla-ge für die Umsetzung der Rechte des Kindes.

Die letztgenannten Organe waren in ähnlicher Form auch in den Ahawah-Heimen in Berlin und Kiryat Bialik vorhanden. In dem Maß wie sich die Idee des familiennahen Heimaufbaus durchzusetzen begann, nahm die Bedeutung zentraler Entscheidungs-instanzen aber ab. Gegenwärtig gibt es zwar in Neve Hanna noch einen sogenann-ten Kinderrat. Dieser besteht allerdings nur noch aus einigen gewählsogenann-ten VertreterIn-nen der Kinder, die sich bei Bedarf mit dem Direktor zusammensetzen, um aktuelle Probleme zu besprechen. Die ursprüngliche Aufgabe des Kameradschaftsgerichts, in jedem Einzelfall vor dem Plenum Recht zu sprechen, ist inzwischen auf die Fami-liengruppen übergegangen. Sofern nicht Kinder aus anderen Gruppen betroffen sind, werden auftretende Unstimmigkeiten zwischen dem Kind, den Hauseltern und

"Geschwistern" geklärt.

9.2.6 Familienähnliche Heimerziehung in der Ahawah in Berlin