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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

11. Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Ahawah in Kiryat Bialik (ab 1934)

11.2 Die Ahawah in Kiryat Bialik .1 Die Entstehungsgeschichte

11.2.4 Die neuen Vorbilder und Prägungen

11.2.4.1 Die Mitarbeiter Moses Calvary und Sinai (Siegfried) Ucko

Dem Lehrer und Erzieher Moses Calvary kommt für die Ahawah in Kiryat Bialik eine besondere Bedeutung zu, weil er derjenige war, der nach den Worten Hanni Ull-manns wie auch anderer ZeitzeugInnen, der Ahawah und damit indirekt Neve Hanna das geistige und geistliche Gepräge gegeben hat.

Am anschaulichsten schildert der Pädagoge Joseph Walk487 die Persönlichkeit Cal-varys:

485 Vgl. SCHMIDT, Peter Wilhelm A.: Heimleiterzeit in Palästina/ Israel. In: Micheline PRÜTER- MÜLLER und Peter Wilhelm A. SCHMIDT (Hg.): Hugo Rosenthal (Josef Jashuvi)

Lebenserinnerungen. Bielefeld 2000. S. 29.

486 ROSENTHAL-JASHUVI, Hugo. Zitiert in Micheline PRÜTER-MÜLLER und Peter Wilhelm A.

SCHMIDT (Hg.): Hugo Rosenthal (Josef Jashuvi) Lebenserinnerungen. Bielefeld 2000.

S. 29f.

487 Joseph WALK, geb. 1914, war Lehrer und Erzieher im jüdischen Schulwesen in Deutschland.

"Calvary hatte mehrere Perioden in seinem Leben, hatte immer mit religiösen Fragen gekämpft und darüber nachgedacht. In dieser Periode war er schon weitgehend reli-giös. Calvary war selber Leiter im Jugenddorf 'Meir Shfeya'. Da er völlig unbegabt war für administrative Aufgaben ist er dort schon 1924 gescheitert. (...)

Mit der Oberin hat er es nicht leicht gehabt, sie war eine schwierige Person. Er war älter als sie und in gewisser Hinsicht der geistliche oder geistige Führer in der Aha-wah. Zum Beispiel waren seine Predigten zu Jom Kippur so überragend, dass ein Mensch wie Ernst Simon, der ihn ungeheuer verehrt hat, immer den Jom Kippur in der Ahawah verbracht hat, nur, um Calvary dort zu hören. Und Ernst Simon war es, der Calvary den "Pestalozzi des Galil" genannt hat. Es war etwas pestalozzianisches an ihm, positiv und negativ. Er war ja auch praktisch sehr unbegabt, aber er lebte vollkommen für die Kinder.

Ich will drei Beispiele erzählen:

Calvary war sehr musikliebend und die Ahawah hatte zu dieser Zeit ein Abonnement zu Konzerten der Philharmonie. Und immer ist einer der Madrichim mit den Kindern, jedes Mal mit einer anderen Gruppe, nach Haifa hingefahren. Nun fand wieder ein Konzert statt und Calvary, der große Musikliebhaber, wäre natürlich wahnsinnig gern gefahren. Aber zu dieser Zeit war eine bestimmte Gruppe in Quarantäne, weil sie Masern hatte. Calvary rief eine Führersitzung ein und sagte: 'Meines Erachtens ist es unsere Verpflichtung, für diese Kinder irgendwie zu sorgen. Sie können ja nicht zum Konzert.' Und kein Mensch meldete sich, worauf Calvary, der - ich betone noch mal - sicher mehr als alle anderen die Musik liebte, sagte: 'Dann bleibe ich hier.'

Calvary ist an demselben Abend zu den Kindern hineingegangen und hat ihnen ein Konzert auf Schallplatten veranstaltet. Es war typisch für Calvary, dass er in dieser Hinsicht natürlich sofort bereit war, zu verzichten.

Das zweite Beispiel: Calvary war wie jeder andere gezwungen, eingeschriebene Brie-fe abzuholen oder abholen zu lassen in Kiryat Chaim, das immerhin 4 Kilometer weit entfernt war. Und jeder, ich selber auch, der einen eingeschriebenen Brief bekam, bat dann natürlich einen der Zöglinge, sich aufs Rad zu setzen, hinzufahren und den Brief zu bringen. Eines Tages fragte mich Calvary: 'Sag' mal, gehst du vielleicht zu-fällig nach Kiryat Chaim.' 'Nein, ich habe es nicht vor.' 'Ich habe einen eingeschriebe-nen Brief dort liegen.' 'Dann bitte doch eieingeschriebe-nen der Jungs, dass er das Rad nimmt und hinfährt.' 'Was fällt dir ein? Wie werde ich einen Jungen von den Zöglingen hier aus-nutzen, indem ich meine Autorität einsetze? Kommt nicht in Frage.' Also, ich hätte, offen gesagt, keine Bedenken gehabt und habe es auch getan. Das war wiederum typisch Calvary. Er ist dann vielleicht lieber selber gegangen, im Sommer, als ein Kind für seine eigenen Belange zu beschäftigen.

Aber das stärkste Beispiel war folgendes: Calvary hat mir einmal erzählt, dass er als Schulleiter eines Tages vor folgende Situation gestellt wurde: Ein Lehrer kommt her-ein und schwingt her-einen Zettel und sagt: 'Sehen Sie mal, was hier her-eine Schülerin über mich geschrieben hat.' Worauf Calvary ihn ansieht und sagt: ' Sie haben den Zettel gelesen? Wissen Sie nicht, dass es den Cherem (Bann) des Rabbenu Gershon (über das Briefgeheimnis) gibt?' Calvary ist so weit gegangen, dass er diesem Lehrer gsagt hat: 'Sie hätten das Recht gehabt, diese Schülerin zu bestrafen. Sie hätten e-ventuell den Zettel vernichten dürfen, aber lesen hätten Sie ihn nicht dürfen und dar-um kann ich diese Schülerin nicht bestrafen.'

1936 wanderte er nach Palästina ein. 1971 Promotion über ein pädagogisches Thema, später Dozent an der Bar-Ilan-Universität und Leiter des Leo-Baeck-Instituts in Jerusalem.

Er sammelte Erfahrungen durch die Arbeit seiner Frau in der Ahawah in Berlin und eine eigene kurzzeitige Erziehertätigkeit zu Ende der 30er Jahre in der Ahawah in Kiryat Bialik.

So weitgehend war Calvary Pädagoge, und ich würde sagen, außergewöhnlich rück-sichtnehmend, nicht nur auf Lehrer und Kollegen, sondern vor allen Dingen auch den Schülern gegenüber. So ist mir Calvary immer in Erinnerung geblieben."

Leo Kipnis, ein ehemaliger Zögling, betont das enorme Wissen Calvarys:

"Er hat der Religion ein humanistisches Gepräge gegeben. Von Zeit zu Zeit hielt er Vorträge. Das Wissen, das er hatte, das war einfach phänomenal, aus den jüdischen Schriften und aus der normalen deutschen Literatur. Das sind Leute, die sind in der deutschen Literatur groß geworden und sie verstanden mehr davon als viele Deut-sche.

Er hat die Ahawah geprägt. Es war ein religiöser Humanist. Ein phantastischer Mensch."488

Hanni Ullmann:

"Ein Beispiel: Die Oberin Berger und später auch Jashuvi haben von den Kindern verlangt, dass sie, weil sie tagsüber schwer arbeiteten, abends bald das Licht auslö-schen mussten, um neun Uhr. Calvary hingegen hat Leselampen gegeben, damit sie lesen konnten, deutsche Literatur natürlich. Es war verboten, in der Ahawah etwas Deutsches zu lesen, nur hebräisch war erlaubt. Jetzt stellen Sie sich mal die armen, unglücklichen Wesen vor, die noch gar nicht hebräisch lesen konnten, aber aus sehr guten, gebildeten Häusern kamen und an Lesen gewöhnt waren. Er hat das heimlich getan, war sozusagen der Übermittler von der deutschen Kultur zur hebräischen.

Moses Calvary ist wirklich der gewesen, der der Ahawah den geistigen Hintergrund gegeben hat: In der Toleranz; darin, was vom Judentum wesentlich ist, usw. Das, was wir übernommen haben. Er ist anerkannt gewesen vom kleinsten bis zum größ-ten Kind. Er hat die Ahawah geformt, es ist sein Erbe."489

Die schon mehrfach erwähnten, tagebuchartigen Aufzeichnungen Channas zeigen aber auch, dass Calvary trotz seiner anscheinenden Vollkommenheit kein unnahba-rer und unfehlbaunnahba-rer Pädagoge war, sondern sehr menschliche Seiten hatte:

"Calvary lud einige Leute von unserer Gruppe dann in seine in der Nähe gelegene Wohnung ein. Sie besteht aus einem mittleren Zimmer, in dem sich ca. 4000 Bücher an den Wänden aufgestapelt finden. Calvary ist ein sehr kluger und für sein Alter noch sehr rüstiger Mann. Er kann sieben Sprachen, hat den Blauweiß gegründet, sich dafür eingesetzt, dass im Technikum hebräisch gesprochen wird, hat Bücher geschrieben und noch vieles mehr. Sein Unterricht ist aber nicht sehr lehrreich, da er nur aus Vokabeln aufschreiben besteht. Zuerst machten wir ihm sein Bett und brach-ten sein Zimmer in Ordnung. Dann sahen wir uns Bücher und Bilder an. Zwischen-durch tranken wir Tee und aßen Nusshörnchen."490

Der andere, über die Ahawah hinaus bekannte Mitarbeiter, der auf die Ahawah einen wesentlich Einfluss hatte, war der vor seiner Auswanderung im Jahr 1935 zuletzt in Offenburg tätige Rabbiner Siegfried Ucko. In Palästina nahm er den hebraisierten Namen Sinai Ucko an. Von ihm ist überliefert, dass er - obwohl er auf pädagogi-schem Gebiet keine spezielle Ausbildung absolviert hatte - im Umgang mit Kindern und Jugendlichen sehr einfühlsam war. Bereits in Deutschland arbeitete er als

488 Leo KIPNIS in einem Gespräch am 30.8.1997 in Haifa.

489 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

490 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. Ohne Datum (ca. Juni 1937). S. 21. ANH.

gendrabbiner in Mannheim491 und engagierte sich im Landwaisenverein und im Wohlfahrtsbund Badens. Die Jüdische Rundschau bezeichnete ihn als "Führer, Leh-rer und Vorbild".492

Seine erste Station nach der Emigration war der Kibbuz Giwath Brenner. Er gilt als der erste Rabbiner, der in eine Kibbuzgemeinschaft aufgenommen worden ist.493 Vor dem Hintergrund der eher religionsfeindlichen Kibbuzim scheint das ein besonderer Hinweis zu sein, dass es ihm - wie Moses Calvary - gelungen ist, seine Religiosität überzeugend mit seinem Leben als Chaluz zu verbinden. In Givat Brenner arbeitete er nicht mehr als Rabbiner sondern bereits als Madrich einer Jugendalijah-Gruppe494, die Anfang März 1935 in Palästina eintraf.

Warum er Givat Brenner verließ, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall scheint er dort nur kurze Zeit geblieben zu sein:

"Schon in Neve Sha'anan schloss sich Dr. Ucko mit seiner Familie dem Erzieherteam der Ahawah an. Professor Ucko war der Gründer der pädagogischen Abteilung der Universität Tel Aviv. In Neve Sha'anan erfüllte er wie wir alle jede Pionierarbeit - an-gefangen von der Säuberung des Hofes und des Gartens bis zum Unterricht. In Kiry-at Bialik war er der Entwickler und Träger des geordneten Schulunterrichts der Ju-gendlichen, er gründete später, als auch Schulkinder im Hause lebten, die sehr gute Grundschule."495

11.2.4.2 Die Einflüsse aus der Literatur: Johann Heinrich Pestalozzi,