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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

12. Die Ausbildung am Heilpädagogischen Seminar in Zürich (1953)

12.1 Die theoretischen Lerninhalte

Zugelassen zu der "Spezialausbildung für das seelisch geschädigte Kind" wurden Leute mit pädagogischer Grundbildung (LehrerInnen, ErzieherInnen, PfarrerInnen) oder StudentInnen , die zur Erlangung des Diploms eine praktische Anerkennungs-zeit durchlaufen mussten.

Manche Vorlesungen fanden gemeinsam mit StudentInnen der pädagogischen, psy-chologischen oder medizinischen Fakultät der Universität Zürich statt.

Zum Aufbau des Studiums schrieb Hanni Ullmann: "Das erste Semester ist nur den Erfassungsmethoden gewidmet, erst das zweite Semester den Heilmethoden."517 Zu Beginn ihrer Studienzeit berichtet Hanni Ullmann von den Schwerpunkten "Heil-pädagogischen Diagnose und Erziehungsplan" und "Heilpädagogische Erfassungs-methoden". Immer wieder zeigen ihre Aufzeichnungen ihren ungeheuren Wissens-durst und ihre Offenheit für alles Neue. Eine Eigenschaft, die ihr ganzes Leben durchzieht.

"Zu jedem Gebiet haben wir dann Erklärungsunterricht, das heißt Seminarübungen, wo Dozent Dr. Schneeberger alle Vorlesungen erläutert. Zum Beispiel zur Vorlesung von Professor Moor 'Heilpädagogische Psychologie' zeigt Dr. Schneeberger genau den Aufbau des Gedankens von Dr. Moor, erläutert uns Zusammenhänge, die wir nicht verstanden haben. Im Gegensatz zur Vorlesung, bei der wir zuhören und notie-ren, dürfen, sollen, müssen wir fragen, um in die Materie eindringen zu können. Da-nach ist jeder von uns verpflichtet, ein Kollegheft zu führen und jede zweite Woche abzugeben. Nicht einfach, aber es interessiert mich alles ungeheuer.

Alle Vorlesungen berühren immer zur selben Zeit dieselben Gebiete. Zum Beispiel Professor Moors 'Heilpädagogische Diagnose und Erziehungsplan' brachte Beispiele und beschäftigte sich mit Jugendlichen und Kindern, die schwere nervöse Erschei-nungen zeigen, dementsprechend erläuterte uns Professor Deucher518 auf dem bio-logisch-medizinischen Gebiet ganz eingehend den Aufbau des Nervensystems und Dr. Lutz auf dem psychiatrischen Gebiet die Nervenkrankheiten wie manisch-depressiv.

So wird uns jeder Schritt von allen Seiten aufs Genaueste beleuchtet und gelehrt. Wir lernen 'mamasch'! alles, was zu unserem Gebiete gehört, aufs Ausführlichste.

Sehr viel Wert wird auf das Erkennen von Sprach-, Hör- und Sehstörungen gelegt, da sie oft der Anlass zu Schwierigkeiten sind. ...

Dann das zweite große Gebiet, das sich nur aufs Seminar begrenzt, das sind die Teste. Wir arbeiten mit dem Intelligenztest von Hans Biasch und dem zweiten, dem Rorschach-Test519. Da habe ich schon sehr viel versäumt und bin sehr verzweifelt,

516 Aus einem Telefongespräch mit Frau Maier, der Sekretärin von Prof. Arn am 4.5.1998 und einem Fax des HPS vom 16.6.1998.

517 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 7.6.1953. S. 16. (Die Seitenzahlen beziehen sich auf eine nachträgliche Nummerierung in der Briefesammlung.)

518 Prof. Dr. Franz DEUCHER, Aarau. Ehrenmitglied der Schweizerischen Krebsliga, Bern.

s. Internet http://www.swisscancer.ch/skl/kommissi.htm

519 Projektiver Test, der von dem schweizerischen Psychiater Hermann RORSCHACH (1884 - 1922) entwickelt wurde. Der Rorschach-Test ist ein Persönlichkeitstest, der mit Hilfe von ein-

ob ich da reinkomme. Es ist schrecklich schwer. Wir haben für jeden Test drei Stun-den wöchentlich Unterricht. Biasch ist noch einfach, aber Rorschach, ist das schwer!!! Ich verspreche nicht, dass, wenn ich zurückkomme, es können werde, aber ich werde wenigstens genau wissen, was es ist.

Wir lernen jeden Tag. Samstag, Sonntag sind frei. Heute habe ich Professor Lutz gebeten, samstags in der psychiatrischen Poliklinik zu hospitieren. Es gibt dort eine extra Abteilung für Leseschwache, das will ich noch außerdem machen. Sonntag werde ich Protokolle schreiben müssen. ..."520

"Ich habe ... (im) ... Institut für angewandte Psychologie ... Professor Meng (Zwang und Freiheit in der Erziehung) gehört über Freuds Forschung von Ich und Überich, Zukunft der Psychoanalyse und ihre verschiedenen Schulen nach Freuds Tod. Das ist eine Reihe von vier Vorlesungen mit Diskussion. ... Professor Meng (Professor an der Basler Uni zur Zeit) ist ein Schüler und Freund Freuds gewesen. ... Viel wurde diskutiert über die Frage der Lehranalyse und der Möglichkeit von in Abständen von bis zu fünf Jahren Wiederholen von Analysen."521

12.1.1 Der praktische Anschauungsunterricht: Exkursionen

Hanni Ullmann besitzt die Fähigkeit, ununterbrochen Neues in sich aufzunehmen und auf seine Umsetzbarkeit in der Ahawah, beziehungsweise in Neve Hanna, zu untersuchen. Im Lauf ihres Lebens hat sie durch Beobachtungen, kritisches Hinter-fragen und Vergleichen vermutlich mindestens so viel oder sogar mehr gelernt als durch die Beschäftigung mit der Theorie. Während ihrer Studienzeit in der Schweiz hatte sie während verschiedener Exkursionen hinlänglich Gelegenheit, die dortigen pädagogischen Institutionen kennenzulernen. Ihre Wahrnehmungen und teilweise ihre Reflexionen dazu schilderte sie Hugo Rosenthal-Jashuvi in ihren ausführlichen Briefen:

Brütisellen522

"(Diese Woche) haben wir einen sehr interessanten Heimbesuch in Brütisellen ge-macht. Brütisellen ist ein Lehrlingsheim für 36 schwererziehbare Jungen von 16 bis 20 Jahren. Ein Lehrlingsheim, die Insassen sind alles Zöglinge, die vorbestraft sind.

Das Heim ist vor 60 Jahren von Caspar Appenzeller, einem glühenden Verehrer von Pestalozzi gegründet worden. Appenzeller war ein reicher Fabrikbesitzer, der unter dem Einfluss Pestalozzis Mädchen- und Knabenheime gegründet hat. Nur Brütisellen ist erhalten geblieben. Das Heim hat viele Wandlungen durchgemacht, von rein fab-rikmäßig beschäftigten Jungen (Appenzeller gründete eine Schuhfabrik, die auch heute noch steht, zu diesem Zweck) zu reiner Landwirtschaft (...) und heute ist die Beschäftigung gemischt. Die Hälfte lernt im Heim, die andere Hälfte draußen, alle möglichen Berufe mit Fachschulen. ... Die Jungen wohnen einzeln oder zu zweit in herrlichen Zimmern. Der Heimleiter (ist) pädagogisch anscheinend sehr gut geschult, dazu noch eine extra Ausbildung für Lehrlingswesen in Dänemark, macht den Ein-druck eines ausgezeichneten Fachmannes. Sehr interessant ist die nachgehende Fürsorge, die das Heim übt. Die meisten Arbeitskräfte sind Praktikanten und

oder mehrfarbigen sinnfreien Kleckstafeln, die den Patienten zur Deutung vorgelegt werden, u. a. die Art und den Grad der Intelligenz, mitmenschliche Einstellungen, Affektivität und Gestimmtheit erfasst.

520 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 22.5.1953. S. 4.

521 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 22.6.1953. S. 34.

522 Landheim Brütisellen. Bassersdorf/Baltenswil, Schweiz.

kantinnen, sowohl im Haus als auch in der Landwirtschaft. Diese Form der Praktikan-ten ist hier in den Heimen sehr üblich. Es gibt eine Sorte von jungen, schulentlasse-nen Praktikanten (15 - 16jährig). Zur Berufsklärung machen sie das Praktikum. Die zweite Sorte von Berufsausgebildeten wie Kindergärtnerinnen, Lehrer/innen oder Hausbeamten oder Sozialbeamten, die, um das Diplom zu bekommen ein Jahr in ei-ner Anstalt arbeiten müssen. Billige Arbeitskräfte. Die wenigen anderen Arbeitskräfte sind dann aber sehr gut ausgebildete Kräfte in den Heimen."523

In einer aktuellen Darstellung des Leitbildes von Brütisellen finden sich Aspekte einer Grundhaltung, wie sie auch heute in Neve Hanna anzutreffen sind. Gemäß des per-sonenzentrierten Ansatzes nach Carl Rogers gilt:

"Jedem Individuum wohnt eine Selbstentfaltungstendenz inne. Die Selbstentfaltungs-tendenz bewirkt, dass der Mensch alle körperlichen, seelischen und geistigen Mög-lichkeiten, die er hat, zu erhalten und zu entfalten versucht."524

Im Einzelnen ist darunter zu verstehen:

1. Das offene und klare Wahrnehmen der sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteilungen der Jugendlichen.

2. Das einfühlsame Verstehen der Welt und der Probleme der Jugendlichen und daraus folgend fähig zu sein, empathisch, das heißt einfühlsam zu

kommunizieren.

3. Die Achtung und Wertschätzung der Person mit all ihren Schwierigkeiten und Eigenheiten, unabhängig von Herkunft, Nationalität und Religion.

Ganz ähnlich nehmen Prospekte über Neve Hanna über 30 Jahre später diese Über-legungen wieder auf:

"Das Leitmotiv in unserem Heim ist die Liebe zu den Kindern und die Annahme ihrer Individualität."525

"Jedes Kind soll gemäß seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten gefördert werden."526 Damit ist es weder möglich noch beabsichtigt zu beweisen, dass sich Hanni Ullmann diese Grundsätze direkt aus dem Brütiseller Vorbild übernommen hat, aber wenn man davon ausgeht, dass sich das Eingehen auf die individuelle Persönlichkeit des Kindes und des/der Jugendlichen schon vor 50 Jahren für das Landheim ein wichti-ger Bestandteil seiner konzeptionellen Anschauung war, so ist anzunehmen, dass auch dieser Eindruck als Mosaikstein zur pädagogischen Entwicklung Hanni Ull-manns beigetragen hat.

Stadtwaisenhaus Zürich

"Ich besuchte das Stadtwaisenhaus. Insassen 40 Kinder von 4 bis 20 Jahren, Jungen und Mädchen. Übrigens, die Höchstzahl in Heimen sind 80 Kinder, das sind ganz wenige, durchschnittlich sind es 40 bis 50 Kinder. Die Richtung ist das Familienprin-zip, beeinflusst durch Pestalozzi. Ich brauchte sein Buch natürlich nicht

523 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 1953 (ohne weitere Angaben).

524 Leitbild des Landheims Brütisellen; Vgl. http://www.landheim.ch/leitbild.htm.

525 David WEGER, ca.1988/89.

526 Aus den 90er Jahren.

men, auf Schritt und Tritt begegnete er mir. Ich staune, wie dieser Mann, sein Geist, im Erziehungswesen lebendig geblieben ist. ...

(Sie berichtet über die vergleichsweise paradiesischen Zustände bezüglich Geld und Personal.) Nun überhaupt, die 40 Kinder haben so Raum zur Verfügung wie bei uns unsere Ahawah mit 120 Kindern zu Anfang hatte. Das ist überhaupt ein grundlegen-der Unterschied, die Raumverhältnisse. Jegrundlegen-der Leiter, jegrundlegen-der Erzieher betont bei uns immer wieder, das ist der Grundsatz zur Ruhe, zum Wohlbefinden des Kindes, die Möglichkeiten in den Raumverhältnissen. ...

Übrigens, mit all dem Schönen dort in dem Haus, möchte ich gerade in diesem Heim kein Kind sein, da wird mir zuviel erzogen."527

Albiserum

Im Juli besuchte sie das Albiserum, wo Professor Moor selbst viereinhalb Jahre lang Leiter war. Dort lebten 90 Jungen von 8 bis 20 Jahren, die als "erziehungsschwierig"

galten. Dem Heim ist unter anderem eine Spielzeugfabrik angeschlossen, die auf Hanni großen Eindruck machte:

"Jashuvi, ein Traum ist verwirklicht! Ich bringe Prospekte und die finanziellen Unter-lagen dieser Werkstatt mit. In dem Hause steckt Tradition und erzieherischer Geist und Wärme. Natürlich sind dort Begriffe, die für uns unfasslich sind. Nie dürfen die Kinder, auch die großen, 18, 19, 20 jährigen Burschen allein ins zehn Minuten ent-fernte Dorf. Vor acht Tagen war Samstag und Sonntag Kirmes im Dorf, natürlich durf-ten sie nicht hin. Als ich den Leudurf-ten erzählte, dass unsere Kinder völlig frei sind, zum Beispiel am Chag Ha'azmaut allein entscheiden konnten, wann sie nach Hause ka-men, da hielten sie mich, glaube ich, für nicht ganz bei Troste. Nun, ich sehe hier auf beiden Seiten viele Für und Wider. Eins ist sicher, wir sind auf einem gesünderen Wege."528

Platanenhof (Pestalozzistiftung)529

Der Platanenhof wurde ca. 1870 für 60 Zöglinge von 8 bis 20 Jahren gegründet. Un-ter anderem verfügte er über ein System der Selbstverwaltung, die an das Konzept Janusz Korczaks erinnert:

"Ein interessanter Versuch zur Selbstverwaltung, sehr in Ihrem (Jashuvis, Anm. d.

Verf.) Denken: Hofmeister (erwählt vom Leiter), Hofräte (gewählt vom Volk), Höflinge (das Volk). In der Verfassung klar und eindeutig gesagt, letzte Entscheidung beim Leiter. Alles, was der Jugendliche selber machen kann, wird in seine Hand gelegt.

Verwaltung der Bibliothek, der Freizeitgestaltung (viel Sport). Jeder Hofrat hat ein Amt, zum Beispiel Tischdienst (Ruhe, Ordnung), Krankendienst (Pflege der Kran-ken), Festdienst, usw. Die Hofräte haben Zimmer zu zweit, Radio im Zimmer, ein Verwaltungszimmer für die Hofräte und ihre Sitzungen, die zum Teil mit Leiter oder ohne Leiter sind. Arbeitsmöglichkeiten, Ausbildung sowohl im Heim; Friseur, Bürobe-amte, usw. außerhalb des Heimes. Alle, die verdienen, zahlen einen Teil ihres Unter-halts, ihre Bekleidung völlig, haben Taschengeld, das sich beruft auf Bestimmungen des Hofmeisters mit den Hofräten. Schlimm ist das sogenannte Strafbarometer, viel-leicht gut, dass jeder schwarz auf weiß sieht, woran er bei Verstoß der Gesetze dran

527 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 7.6.1953. S. 18.

528 Hanni ULLMANN in einem Brief an Jashuvi. Zürich 10.7.1953. S. 43.

529 Jugendheim Platanenhof. Oberuzwil, Schweiz.

ist. Aber ist es zu glauben, 1953 benützt man noch das Mittel des Haarschnitts. Der Leiter sagt: 'Selten, aber doch.' Dann schon besser die Ohrfeige, die auch vor dem Rausschmiss als letztes auf dem Strafbarometer angeführt wird. ...

Überall ist hier die Landwirtschaft gleichberechtigt mit dem Handwerk. Überall ist bei-des einfach selbstverständlich. Sowohl das Eine wie das Andere hat eine Meisterprü-fung und ist gleichberechtigt anerkannt. ...

Man neigt bei den Jungen mehr, das Handwerk (Schuhmacherei, Schneiderei) der Landwirtschaft vorzuziehen. Die Leiter sagen, die Landwirtschaft sei heute durch die Maschine in einer Krise und schwierigen Elementen soll der Beruf Sicherheit, Rück-grat geben, man solle den gefährdeten Jugendlichen vor keine Berufsprobleme stel-len. Ich habe Professor Moor gebeten, noch vor Semesterschluss mit uns über das Problem der gemischten Heime (Mädchen und Jungs) zu sprechen. Es wird hier ab-gelehnt. In katholischen Heimen (die es hier ja sehr viele gibt) verständlich, aber sonst? Mir scheint, die Schwierigkeiten, die hier auf dem sexuellen Gebiet in den Heimen uns immer wieder angeführt werden (Onanie in großem Ausmaß, zu zweien, zu dreien, Homosexualität) haben ihren Ursprung in dem unnatürlichen Leben, nie mit Mädchen gesellschaftlich zusammenkommen zu dürfen. Stellen Sie sich vor, 17, 18, 19, 20 Jährigen strengstes Verbot von Mädchenbekanntschaften. Das ist wahr!"530

12.2 Der Kontakt zu und der Austausch mit Hugo Rosenthal-Jashuvi