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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

14. Erste Pläne für Neve Hanna (ab 1970)

14.3 Die Voraussetzungen in Kiryat Gat

14.3.1 Zur Entwicklung, Gegenwart und Bedeutung Kiryat Gats

Im Jahr 1955 beschloss die Sochnuth, die jüdische Einwanderungsbehörde, dass die bis dahin nur spärlich besiedelte Lachisch-Region am Nordrand des Negev intensi-ver genutzt werden sollte. Archäologische Funde beweisen zwar, dass dieses Gebiet bereits in biblischen Zeiten unter anderem durch die Philister bewohnt war,568 später verödete dieser Landstrich aber und diente nur noch Kriegsheeren und Karawanen als Durchzugsgebiet. In den 50er Jahren, als die letzte bedeutende Alijahwelle ab-flaute, wurden im ganzen Land Konzepte entwickelt für die Neuorganisation und Un-terbringung der Einwanderer der letzten Jahre. Besonders in den ersten vier Jahren nach der Staatsgründung, das heißt 1948 bis 1951, kamen fast 700 000 Neuein-wanderer nach Israel, das heißt weitaus mehr als in der gesamten ersten Hälfte des Jahrhunderts zusammen.569 Für sie mussten Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten ge-schaffen werden.

In diesem Rahmen wurde Kiryat Gat als Hauptstadt des Lachischgebietes für ur-sprünglich 5000 Bewohner geplant. Darüber hinaus wurde Kiryat Gat zu einem

566 Hanni ULLMANN zitiert in: ELLGER-RÜTTGARDT, Sieglind: Verloren und Un-Vergessen.

Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. Weinheim 1996. S. 290.

567 Hanni ULLMANN in einem Fax am 10.5.1998 an die Verfasserin.

568 Beispielsweise soll der Kampf zwischen David und Goliath im historischen Gat, an der Stelle des heutigen Kiryat Gat stattgefunden haben.

569 Zum Vergleich:

Einwanderer 1919 bis 14.5.1948: 482 857 15.5.1948 bis einschl. 1951: 686 739

Vgl. SCHOEPS, Julius, H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh und München 1992. S. 27.

Dienstleistungszentrum und zum Standort der weiterverarbeitenden landwirtschaftli-chen Industrie für die umliegenden Moshavim und Kibbuzim.

Wurde zu Beginn angenommen, dass im Jahr 2000 etwa 80 000 Menschen hier an-sässig sein würden, so ist diese Zahl durch den starken Zuzug von ImmigrantInnen schon bis zur Jahrtausendwende deutlich überschritten worden.

Im Gründungsjahr Neve Hannas, 1974, berichtete Hanni Ullmann von 26 000 Ein-wohnerInnen.570 Charakteristisch sind heute für Kiryat Gat viele neue Stadtteile, in denen Hochhäuser wie Pilze aus dem Boden schießen. Im Stadtzentrum erkennt man unter anderem an den zweisprachigen (hebräisch - russischen) Beschriftungen in den Läden und an offiziellen Stellen die große Bedeutung der Einwanderer aus den GUS - Staaten. Mehr als an anderen Orten in Israel prägen auch die äthiopi-schen Zuwanderer, die leicht an ihrer dunklen Hautfarbe zu erkennen sind, das Stadtbild.

Obwohl in einer Informationsschrift571 auf die zentrale Lage der Stadt - die Großstäd-te Tel Aviv, Jerusalem und Beer Sheva sind in maximal einer Autostunde zu errei-chen - und das angenehme trockene Klima als Faktoren für ihre positive Entwicklung hingewiesen wird, darf nicht vergessen werden, dass Kiryat Gat aufgrund ihrer ge-planten Entstehung und Entwicklung, die sich pragmatisch an wirtschaftlichen Inte-ressen orientiert, keine gewachsene Stadt mit Geschichte und Kultur ist, die für qualifizierte Arbeitskräfte attraktiv wäre. Dass dies auch Auswirkungen auf Neve Hanna hat, wird später noch einmal zu erwähnen sein.

14.3.2 Eine "Stadt am Rande der Wüste"

Meist wird Neve Hanna als ein "Kinderheim am Rande des Negev in der Einwande-rerstadt Kiryat Gat"572 bezeichnet. Hanni Ullmann berichtet darüber, was es heißt, in der Nähe einer Wüste zu leben:

"Wir haben (zu Beginn der 70er Jahre) gar nichts vorgefunden. Es hat hier ganz fürchterlich ausgesehen, schmutzig und alles durcheinander. Wir hatten kein Was-ser, kein Licht, keinen Autobus und kein Telefon."573

Der Pädagoge Shimon Sachs, der seine letzten Lebensjahre als Lehrer in Kiryat Gat verbrachte, schrieb:

"Das Hauptproblem, von dem das Gelingen dieses Planes abhing, war das der Be-wässerung. Es konnte durch eine Wasserleitung vom Flusse Jarkon, der in Südsa-marien entspringt, gelöst werden."574

Inzwischen hat sich dadurch einiges verändert: Durch die neuen Bewässerungsme-thoden hat sich die Bevölkerung im Negev seit der britischen Mandatszeit ungefähr

570 Hanni ULLMANN in einem Bericht über Neve Hanna. 20.9.1974.

571 Volontärsinformation, herausgegeben vom Denkendorfer Kreis. Januar 1977.

572 So beispielsweise Neve Hanna - Prospekt aus den 70er-Jahren, von ca. 1993 und Prospekt des Denkendorfer Kreises für christlich-jüdische Begegnung von ca. 1995/96.

573 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 11.9.1997 in Neve Hanna.

574 Shimon SACHS: Aus Nomadenkindern werden Schüler. Bern 1967. S. 7.

verzehnfacht.575 Damit stieg, wenn auch nicht der relative Anteil, so doch die absolu-te Zahl der Beduinen stark an. Die unmitabsolu-telbare Nähe zu Neve Hanna macht es den Kindern möglich, neben dem Leben in der Stadt, in Kibbuzim und Moshavim eine weitere Siedlungsform als alltäglich zu erleben und darüber hinaus mit Angehörigen einer anderen Kultur in Kontakt zu treten.

14.3.3 Die Begegnung von Juden und Jüdinnen verschiedener Mentalitäten

Da Kiryat Gat hauptsächlich deshalb gegründet wurde, damit jüdische Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt aufgenommen werden konnten, bildet die Bevölkerung heute ein Gemisch aus Menschen verschiedenster Abstammung. Heute leben dort Einwanderer aus etwa 40 verschiedenen Herkunftsvölkern. Ein Großteil kommt aus Nordafrika, vorwiegend Marokko, Tunesien und Algerien (seit 1961).

Während der letzten zehn Jahre wurden zudem etwa 1 600 Jüdinnen und Juden aus Äthiopien in die Stadt integriert. Aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ka-men seit 1989 rund 2 000 Familien, das entspricht etwa 5 500 Personen576. Nicht zu vergessen sind die im Jahr 1964 auf 29,3% geschätzten ImmigrantInnen aus Euro-pa.577 Einige von ihnen, unter anderem der bereits an anderer Stelle erwähnte Pä-dagoge Shimon Sachs als einer der ersten Vorstandsmitglieder, Helen Appel, die erste Hauswirtschaftsleiterin und die Kinderkrankenschwester Chawa Maziel wirkten an der Entwicklung Neve Hannas mit und prägten seinen noch heute erkennbaren

"jeckischen", westeuropäischen Charakter.

Gemäß eines Grundsatzes aus der Proklamationsurkunde zur Staatsgründung war und ist "der Staat Israel für die jüdische Einwanderung und die Sammlung der zer-streuten Volksglieder geöffnet ..."578 Die Atmosphäre gegenüber den Neuankömm-lingen war daher - zumindest am Anfang - sehr entgegenkommend und freundlich.

Jede/r neue BewohnerIn Kiryat Gats wurde in zionistischer Überzeugung als ein/e HoffnungsträgerIn für die Zukunft dieser Stadt betrachtet. Wie weit dieser Ansatz von den heute in Deutschland praktizierten - und zu Recht kritisierten - Aufnahmeprakti-ken für Flüchtlinge entfernt ist, wird deutlich, wenn Shimon Sachs schreibt:

"Vor allem war es den Verantwortlichen darum zu tun, keine Flüchtlingsmentalität un-ter den Neusiedlern aufkommen zu lassen. Ist doch jeder nach Israel Eingewanderte in weiterem Sinne ein Flüchtling. Jede/r Neuangekommene sollte von Anfang an füh-len, dass er ein Teil des Ganzen, ein Mit-Erbauer, ein Mit-Träger dieses Landes sei, das ihm zur neuen Heimat bestimmt war."579

Die Nuancen der herkunfts- und damit mentalitätsbedingten Faktoren, die oft genug zu Spannungen im Zusammenleben führten, wie auch die Umstände, die das Einle-ben erschwerten, werden durch Shimon Sachs an anderer Stelle folgendermaßen beschrieben:

575 Vgl. Baedeckers Reiseführer Israel, Stuttgart, 4. Auflage, 1991, S. 327.

576 Vgl. SCHOEPS, Julius, H. (Hg.): Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh und München 1992. S. 28. und offizieller Stadtplan der Stadt Kiryat Gat. 1992. (hebr./engl.).

577 Shimon SACHS: Aus Nomadenkindern werden Schüler. Bern 1967. S. 8.

578 Vgl. Shimon SACHS: Aus Nomadenkindern werden Schüler. Bern 1967. S. 123.

579 Shimon SACHS: Aus Nomadenkindern werden Schüler. Bern 1967. S. 7f.

"Die bei den oben genannten Einwanderergruppen festzustellenden Unterschiede in Habitus und Mentalität lassen sich keineswegs ausschließlich auf ihre Herkunftslän-der zurückführen. Vielmehr konnten wir beobachten, dass die Hauptmerkmale Herkunftslän-der Unterschiedlichkeiten auf den Formen der früheren Lebensart basierten. So hatten zum Beispiel Familien aus Tunesien und Ägypten, die in Großstädten wie Tunis und Kairo lebten, mehr Gemeinsames als eine Fellachen(Bauern)familie vom Nil und Städter aus Alexandrien. Nur wenig Verbindung bestand zwischen Familien aus dem südmarokkanischen Atlasgebirge und denjenigen aus Casablanca oder Agadir.

Ohne uns anmaßen zu wollen, hier Werturteile aufzustellen, müssen wir jedoch her-vorheben, dass die levantisch580 geprägte, städtische Bevölkerung Nordafrikas, das heißt die untersten sozialen Schichten, aus denen die Einwanderer ja zum großen Teil stammten, mehr Probleme schuf als die ländliche Bevölkerung derselben Län-der. Besonders die Jugendlichen der erstgenannten Gruppe waren im wahrsten Sin-ne des Wortes wurzellos, da sie auch in ihren Herkunftsländern nicht das Gefühl ei-ner echten Heimat empfanden. Dagegen waren die jungen und alten Menschen der zweiten Gruppe entwurzelt581, hatten sie doch starke innere Beziehungen zu ihrer verlassenen rustikalen Welt. ...

Die in Kiryat Gat ansässigen Kurden waren körperlich geschwächte oder kranke Ein-wanderer, die den Anstrengungen einer bäuerlichen Arbeit nicht gewachsen waren.

Während in den kurdischen Bergen ihre Großfamilie für sie gesorgt hätte, waren in Israel die Lebensumstände derart anders gestaltet, dass sie von ihren Anverwandten nicht ohne weiteres aufgenommen werden konnten. ...

Die europäischen Familien kamen vorwiegend aus Polen, Rumänien und Ungarn. Die älteren unter ihnen waren durch die Verfolgungszeit während des Zweiten Weltkriegs geprägt, und eine große Anzahl war physisch und psychisch krank.

Zahlreich waren die Familien, in denen der erste Ehepartner, sowie die Kinder aus erster Ehe in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet wurden. Die zweite Eheschließung der Überlebenden erfolgte meist in vorgerücktem Lebensalter, und die aus diesen Ehen hervorgegangenen Kinder (zumeist nur ein Kind), die als Trost für das Erlittene betrachtet wurden, waren überaus verwöhnt und an keine kon-sequente Erziehung seitens ihrer Eltern gewöhnt. Wohl brachten diese Kinder euro-päischer Eltern ein formales, ihrem Alter entsprechendes Schulwissen mit - dieses im Gegensatz zu Kindern afroasiatischer Provenienz -, doch seelische Störungen waren häufig zu beobachten."582

15. Neve Hanna - das erste Kinderheim in Israel mit familienähnlichem