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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

9. Die Arbeit in der Ahawah in Berlin (1926 - 1929)

9.2 Die Ahawah

9.2.4 Zielgruppenbeschreibung und Konzeption .1 Die Kinder der Ahawah in Berlin

MitarbeiterInnen der Ahawah berichteten im sogenannten Rechenschaftsbericht, einer Festschrift zum zehnjährigen Bestehen der Ahawah, über das erste Jahrzehnt.

Durch ihre Schilderungen wird sehr deutlich, was es - wie in Kapitel 4.1 bereits er-wähnt - bedeutete, jedem bedürftigen Kind, ohne Ansehen der Herkunftund der Un-terbringungsgründe, zu helfen:

"Kinder kamen und gingen, arme, elende Flüchtlinge. ... Sie wurden zum Teil in dem Heim in der Auguststraße aufgenommen, nachdem sie wochenlang herumgeirrt wa-ren - verwahrlost in höchstem Grade. ... Sie wawa-ren verkommen an Leib und Seele. ...

Man badete die Kinder täglich, entlauste und entwanzte sie. ..."268

"Unsere Kinder entstammen zu 90 Prozent entwurzeltem Proletariat. Sie kommen meistens in verwahrlostem Zustand zu uns. In den häufigsten Fällen haben sie nicht nur viel an Elend, Verdorbenheit und Asozialem gesehen, sondern schon selbst mit-erlebt, sodass sie Moralbegriffe mitbringen, die hier sofort ihre Gültigkeit verlieren und sie höchst erstaunt sind, dass hier mit anderen Wertmaßstäben gemessen wird."269

Die Oberin Berger selbst berichtet:

"Mindestens 50% unserer Kinder stammen aus Ehen, die getrennt oder geschieden sind und es ist schlimm, was die Kinder in den Ehen, in denen Unfrieden herrscht, mitgemacht haben und mit ansehen mussten. Viele unserer Kinder stammen aus Po-len und die Väter sind in der Nachkriegszeit, als es in PoPo-len so schlecht ging, nach Deutschland gekommen, um für sich und ihre Familie eine neue Existenz zu grün-den. In Deutschland gerieten sie an andere Frauen und oft sind diese Männer, die in Polen nur jüdisch getraut waren, in Deutschland eine neue standesamtliche Ehe ein-gegangen, durch die die in Polen verbleibende Frau rechtlos und die Kinder unehe-lich wurden. Oder sie fanden hier eine neue Frau, mit der sie einfach zusammenzo-gen und als nun endlich die eizusammenzo-gene Frau aus Polen mit den Kindern nachkam, fand

268 DANKWERTH-WINTERNITZ, Lilli: Die ersten schweren Jahre. In: 10 Jahre Ahawah 1922-1932. S. 8.

269 KERN, Hansel (Hanna): Erziehungsprinzipien. In: 10 Jahre Ahawah 1922 - 1932. S. 14.

sie das Nest besetzt und es gab von Anfang an Unfrieden. Auch das Umgekehrte war der Fall. Viele Männer und auch Frauen sind zur Zeit der Inflation nach Frank-reich gegangen, haben versprochen, die Familienmitglieder nachkommen zu lassen und haben nie mehr etwas von sich hören lassen. ...

Ein nicht ganz minimaler Prozentsatz der Kinder ist der, deren Väter straffällig wur-den, im Gefängnis oder Zuchthaus saßen oder sitzen und die aus diesen Gründen nicht fähig sind, ihre Kinder selbst zu erziehen. Der Teil der erziehungsschwierigen Kinder ... ist relativ gering. Ein Grund dafür ist, dass bisher auch schon sehr viele schulpflichtige Kinder in besonderen Fürsorgeheimen untergebracht werden; man versucht aber jetzt immer mehr, diese Kinder in Normalheimen einzuordnen, um das Odium der Fürsorgeerziehung nicht schon auf den kleinen Kindern ruhen zu las-sen."270

Eine andere Quelle beschreibt die Zielgruppe aus etwas distanzierterer Sicht folgen-dermaßen:

"Kinder (ab drei Jahren) aus den ärmsten jüdischen Kreisen (werden) aufgenommen ..., die aus materiellen oder moralischen Gründen heimatlos sind. Die Kinder werden in absolut jüdischem Sinne erzogen und erst dann entlassen, wenn sie nach Erler-nung eines Berufes auf eigenen Füßen stehen können."271

9.2.4.2 Allgemeine konzeptionelle Überlegungen

Viele grundsätzliche Überlegungen, mit der sich jede/r in der Fremderziehung Tätige auseinandersetzen muss, gehen von der Frage aus, ob das Heim beziehungsweise die Pflegefamilie die Erziehung der Eltern ergänzen oder ersetzen soll.

Die gegenwärtige Tendenz ist eindeutig, die Mehrzahl der möglichen pädagogischen Maßnahmen als ergänzende "Hilfen zur Erziehung" zu sehen.

Zur Zeit der Berliner Ahawah wäre diese Frage noch anders beantwortet worden.

Nicht nur die damals verbreitete Überzeugung, dass es besser ist, die Kinder vor den moralisch verderblichen Einflüssen der Eltern zu schützen, sondern auch die Um-stände (Armut, Krankheit oder Tod der Eltern) ließen vorrangig das Heim zum El-ternersatz werden.

Die Erzieherin Meta Gutmann schrieb über die Erziehungsaufgabe der Ahawah und die sich verändernden Anforderungen an das pädagogische Konzept:

"Früher war die Aufgabe des Heimes, Flüchtlingen, armen, gehetzten, obdachlosen Kindern einige schöne Tage, Wochen oder Monate zu bereiten, sie einigermaßen gut zu verpflegen und zu kleiden und sie auf kurze Zeit Kinder sein zu lassen.

Nachdem aber nach und nach immer mehr Kinder ins Heim zu dauerndem Aufent-halt kamen, musste sich der Zweck des Hauses naturgemäß ändern. Jetzt galt es, Kindern, die heimatlos, hungernd und bettelnd durchs Land gezogen waren, die schon unendlich Schweres erlebt hatten, die den Krieg in all seinem Grauen ken-nengelernt hatten, eine Heimat zu geben, ihnen das Elternhaus zu ersetzen. ...

Stand früher Körperpflege, Sauberhaltung, Kleidung und Verpflegung der Kinder im

270 Aus einem Vortrag von Beate BERGER. Berlin, o. J., ca. 1926. S. 12.

Da nur wenige Reflexionen über die Arbeit in der Ahawah erhalten sind, kommt diesem schriftlich niedergelegten Vortrag Beate Bergers, der die Situation und Konzeption der Ahawah in Berlin zum Thema hat, eine wichtige Bedeutung zu. Er ist zwar nicht datiert, dürfte jedoch etwa nach einer Einschätzung Hanni Ullmanns 1926 gehalten worden sein.

271 Jüdisches Jahrbuch. Berlin 1929. S. 96.

Vordergrund, so hieß es jetzt, sich um das geistige und seelische Leben der Kinder zu kümmern."272

Beate Berger meint dazu:

"Die Heimerziehung soll dann einsetzen, wo die Familie aus irgendeinem Grunde versagt, entweder durch den Tod des einen oder beider Elternteile oder durch Krank-heit und schlechte Wohnverhältnisse oder aber, und das ist in letzter Zeit immer häu-figer der Fall, durch eheliche Zerwürfnisse."273

Die Oberin spricht hier mehrere Problemlagen an, die auch später in Kiryat Bialik beziehungsweise in Neve Hanna für die Aufnahme der Kinder Relevanz behielten.

Wie aktuell jedoch der Aufnahmegrund "Tod der Eltern" schon wenige Jahre später den Alltag der Ahawah prägen sollte, ahnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand.

Neben den "normalen" sozialen Problemstellungen spielten in allen drei Heimen, der Ahawah in Berlin, der Ahawah in Kiryat Bialik und in Neve Hanna Kinder aus Flücht-lingsfamilien eine große Rolle. Das Thema "Flucht" zeigte sich damals und bis in die Gegenwart als ein zeitloses Thema des jüdischen Volkes. Während in Berlin noch Flüchtlingskinder vorwiegend aus Osteuropa eintrafen, bestand anfangs die Ahawah in Kiryat Bialik ausschließlich aus Kindern und ErzieherInnen, die auf der Flucht vor dem nationalsozialistischen Regime Deutschlands in Palästina eine neue Heimat suchten. Auch in den Jahren nach dem Krieg und bis heute nehmen die Ahawah beziehungsweise Neve Hanna Kinder auf, deren Familien auf der Flucht aus Krisen-gebieten zerbrochen sind.

9.2.4.3 Ahawah - Die Liebe zum Kind

1922 gab sich das ehemalige Flüchtlingsheim den Namen "Ahawah" = Liebe. Die Liebe zum Kind als Leitmotiv weist auf das Werk Janusz Korczakshin, das sowohl in der Ahawah, als auch bis heute von den Pädagogen Neve Hannas gelesen und re-zipiert wird.

Wenngleich sich die Zeitzeugen der 20er Jahre einig sind, dass die Oberin Berger - obwohl in bester pädagogischer Absicht - eine sehr fordernde, strenge Frau war, so stimmen sie aber auch darin überein, dass die Atmosphäre im Heim durch die liebe-volle Zuwendung der ErzieherInnen sehr warm und herzlich war."274

Die Erzieherin Minna Mühsam schreibt 1932 in der Festschrift zum 10jährigen Be-stehen der Ahawah:

"Längst haben wir den Namen 'Jüdisches Kinderflüchtlingsheim' in 'Ahawah - Jüdi-sche Kinder- und Jugendheime' geändert. Unser Name ist Programm. Er soll sagen, dass die Grundlage der Erziehung die Liebe ist."275

Ähnlich äußert sich auch Ruth Unna-Rülff, eine ehemalige Erzieherin und Kollegin Hanna Rischs in der Ahawah in Berlin:

272 GUTMANN, Meta: Vom Flüchtlingsheim zum Kinderheim Ahawah. In: 10 Jahre Ahawah 1922 -1932. S. 10.

273 Aus einem Vortrag von Beate BERGER. Berlin o. J., ca. 1926. S. 2.

274 Vgl. ebd. S. 290.

275 MÜHSAM, Minna: Gründung und Entwicklung. In: 10 Jahre Ahawah. 1922 - 1932. S. 7.

"Die Arbeit in der 'Ahawah' - gleichgültig, ob man eine kleine Elevin oder eine Wirt-schaftsleiterin war, war von folgendem Prinzip geleitet: Es ist das Recht des Kindes, ein wirkliches Heim anstelle des zerstörten Elternhauses zu haben. Dies muss in aller und jeder Handlung oberstes Gesetz sein."276

Die Liebe zum Kind schließt die Einhaltung des Rechts auf Individualität ein. Auf die Frage, was sich wie ein "roter Faden" von den beiden Ahawah-Heimen bis zu Neve Hanna zieht, antwortet Hanni Ullmann:

"Die Grunderfahrung, dass jedes einzelne Kind ernst genommen und für jedes ein-zelne Kind einzeln gesorgt wird, blieb von Anfang bis heute gleich."277 David Weger, der Leiter Neve Hannas, stimmt unabhängig davon mit ihr überein: "Ich denke, dass wir von der Ahawah das individuelle Eingehen auf die Kinder übernommen haben, den Kontakt zu den Kindern."278

9.2.4.4 Die Verwurzelung in der Umgebung

Das Achten auf die jeweilige Einmaligkeit jedes Kindes führte bald zur Abschaffung der einheitlichen Anstaltskleidung. Zum einen wollte man damit bei den Kindern die sorgfältige Behandlung ihrer eigenen, unverwechselbaren Kleidungsstücke fördern, zum anderen sollten die Kinder außerhalb des Heims nicht schon durch Äußerlich-keiten als Heimkinder identifizierbar sein. Man wollte, dass die Ahawah-Kinder un-vorbelastet Freundschaften schließen konnten mit Kindern, die in einem normalen Elternhaus aufwuchsen.

In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage, ob eine Schule in das Heim integriert sein, das heißt, ob die Aufgabe der ErzieherInnen gleichzeitig auch eine Lehrtätigkeit miteinschließen sollte.

Dieser Punkt war in der allgemeinen Erziehungsdiskussion bis weit in die 20er Jahre hinein ein Grund zu vielen Erörterungen. In Anlehnung an die Landerziehungsheim-bewegung, die seit Abbotsholme (1889) und im deutschen Raum vorwiegend durch Hermann Lietz um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Einheit von Leben und Lernen forderte, wurden die Vorteile einer heiminternen Schule überlegt. Das Heimleben konnte besser in Einklang mit der Schule gebracht werden, die Zeiteintei-lung war frei und orientierte sich an den Bedürfnissen der Kinder und des Unter-richts. Ein - in heutigem Sprachgebrauch - fächerübergreifender Unterricht war mög-lich, der "alle Kräfte, Sinne, Organe, Glieder und guten Triebe der kindlichen Natur zu einer möglichst harmonischen Persönlichkeit (heranbildete)."279

Kritisch merkte Beate Berger jedoch an, dass den Landerziehungsheimen meist eine weltanschauliche Idee der Abgeschlossenheit von der Außenwelt zugrunde lag, die den Kindern zwar Ruhe und Beschaulichkeit brachte, sie jedoch auch dem Leben entfremdete. Stattdessen plädierte sie für eine Erziehung, die "für das Leben tüchtig (mache), da (die Kinder beziehungsweise die Jugendlichen) ja doch früh in das

276 RÜLFF, Ruth: Meine Arbeit in der Ahawah Berlin-Auguststraße und wie ich dahin kam.

In: ELLGER-RÜTTGARDT, Sieglind (Hg.): Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. S. 307.

277 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 11.9.1997 in Neve Hanna.

278 David WEGER in einem Gespräch am 2.9.1997 in Neve Hanna.

279 Vgl. LIETZ, Hermann (1897) in: POTTHOFF, Willy: Einführung in die Reformpädagogik. Frei- burg 1992. S. 96.

werbsleben treten müssen"280. Die Schule half dabei, eine Brücke zur Außenwelt zu schlagen. Die Kinder nahmen durch Freundschaften mit in normalen Verhältnissen lebenden Kindern und Erwachsenen und durch Erlebnisse auf dem Schulweg Anteil am Leben der Allgemeinheit.

"Man kann auch das beste Heim nicht von einer gewissen Lebensfremdheit freispre-chen. ... In einem Heim flutet eben nicht das normale Leben der Umwelt. Aus diesem Grund ist es uns wertvoll, dass unsere Kinder täglich mit anderen Menschen in Be-rührung kommen, auf dem Schulweg Eindrücke von der Außenwelt empfangen und auch andererseits etwas vom Geist unseres Hauses wieder hinaustragen."281

In gleichem Sinne aber noch weitreichender forderte Friedolin Friedmann die Öff-nung nach außen. Obwohl er als Leiter des jüdischen Landschulheims Caputh bei Berlin generell das Gedankengut der Landschulheimbewegung vertrat, warnte er doch vor einer "gefahrvollen Isolierung". Man sollte die Kinder nicht in "romantischer Abgeschlossenheit" aufwachsen lassen, vielmehr sollten sie die

"Ausstrahlungen des politischen Geschehens, die Wandlungen in der sozialen Struk-tur der deutschen Judenheit, überhaupt die entscheidenden Veränderungen der Zeit unmittelbar beobachten und verspüren, dass sie keinesfalls bei ihrer zukünftigen Le-bensplanung diese mächtigen Faktoren werden ausschalten können."282

Wenngleich in Berlin die Lösung einer Trennung zwischen Heim und Schule beibe-halten wurde, so zeigt doch die weitere Geschichte der Ahawah, wie komplex und indifferent diese Frage letztendlich war: Auf dem Gelände der Ahawah in Kiryat Bia-lik, dem direkten Nachfolgeheim, befindet sich heute eine Schule für Heimkinder und Externe, während in Kiryat Gat die Kinder Neve Hannas wieder bewusst in die öffent-lichen Schulen der Stadt geschickt werden.

9.2.4.5 Erziehung zum Zionismus und zum Judentum

Ein weiteres, für die Ahawah im Vergleich zu anderen jüdischen Heimen in Deutsch-land spezifisches Charakteristikum war seine zionistische Ausrichtung. Laut Hanni Ullmann war "der ganze Weg des Heims ... durchdrungen vom Zionismus."283

"(Beate Berger war) vor allem eine glühende Zionistin. ... (Sie) war der Überzeugung, dass die Juden eine Heimat haben müssten ... ein Heimatland. Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass dieses Kinderheim jemals überführt werden würde, und eigentlich könnten wir sagen, dass wir Hitler dafür zu 'danken' haben, dass es ge-schehen ist. Für die Erziehung der Kinder war eine Übersiedlung nach Palästina aber sozusagen das Ziel."284

Während für alle jüdischen Kinder- und Jugendheime spätestens seit 1933 deutlich war, dass die Weiterführung der Arbeit in Deutschland nicht möglich sein würde, gab

280 Aus einem Vortrag von Beate BERGER. Berlin o. J., ca. 1926. S. 12.

281 HAINEBACH, Franz: Aus der Praxis unserer Bildungsarbeit. In: 10 Jahre Ahawah 1922 -1932. S. 19f.

282 FRIEDMANN, Friedolin in der "Jüdischen Rundschau" vom 10.11.1933.

283 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.10.1998 in Kfar Saba, Israel.

284 Hanni ULLMANN in: ELLGER-RÜTTGARDT, Sieglind: Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. S. 285.

es keineswegs eine einheitliche Tendenz der Auswanderung nach Palästina. Anna Essinger beispielsweise, die 1933 das Landschulheim Herrlingen bei Ulm dem spä-teren Leiter der Ahawah in Kiryat Bialik, Hugo Rosenthal, übergab, wanderte mit ih-ren LehrerInnen und SchülerInnen nach England aus. Hugo Rosenthal selbst been-dete seine Arbeit 1939, vornehmlich wegen der Zerstreuung der Kinder, die mit ihren Eltern nach Palästina, Schweden, England, Nord- und Südamerika. Er selbst hielt sich jedoch bis zur eigenen Emigration nach Palästina verborgen, ohne jedoch für das Heim als ganzes zionistisch begründete Auswanderungspläne verfolgt zu haben.

Dass für die Oberin Berger von Anfang an klar war, dass die neue Heimat Palästina heißen musste, hing sicher auch mit ihrer engen Freundschaft zu dem Berliner Arzt und Pädagogen Siegfried Lehmann (1892 - 1958) zusammen, der ihr bereits ab 1927 mit der Gründung des Kinderdorfes Ben Schemen in Judäa ein wichtiges Vor-bild war.

Schon lange vorher, im Jahr 1919, formulierte Lehmann die Hoffnung, dass es der Jugend gelingen möge, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen. Dabei sei es eine Aufgabe der zionistisch orientierten Erziehung, die dazu notwendige Motivation zu wecken:

"Wir wissen wohl, dass der Weg zu diesem Staate, abgesehen von allen politischen Schwierigkeiten mühselig und nicht von heute auf morgen zurückzulegen ist. Aber unsere Jugend wird den Mut finden, diesen an Beschränkungen und Entbehrungen reichen Weg zu gehen, wenn sie am Ende des Weges das leuchtende Ziel, die Idee zu schauen, gelernt hat. Man soll daher unsere Kinder nicht mehr lehren: Wir wollen einen jüdischen Staat, sondern wir wollen den jüdischen Staat in Palästina ... (Die Kinder) sollen das Bild des vollkommenen Staates lieben lernen und werden aus die-ser Liebe heraus seine Verwirklichung wollen und danach handeln."285

Gleichzeitig aber - und das war das Besondere an der Ahawah - legte Beate Berger Wert auf die Pflege der jüdischen Religiosität der Kinder. Dass das Bewusstsein für die jüdische Volkszugehörigkeit geschult wurde, war auch bei rein zionistisch orien-tierten Heimen selbstverständlich. Die Verbindung von religiöser und zionistischer Erziehung war aber eher eine Seltenheit.

Hanni Ullmann meint jedoch: "Die Oberin war selber nicht religiös, sie fand es aber notwendig, dass die Kinder religiös erzogen wurden."286 und an anderer Stelle, be-reits in Palästina:

"Die Oberin Berger, von der man nicht sagen konnte, dass sie eine orthodoxe Jüdin war, war sehr, sehr gebunden an die Formen und hat ein Palästina vorgefunden, das überhaupt niemals gedacht hat an einen Staat. Weit weg waren sie davon, aber das Land, das wir aufbauen wollten, das musste mit den religiösen Gebräuchen verbun-den sein."287

In der Ahawah in Berlin wurde diese Religiosität am deutlichsten sichtbar an der lie-bevollen Vorbereitung und Durchführung der Freitagabende und der jüdischen

285 LEHMANN, Siegfried in: Der Jude. Eine Monatsschrift. Hg. von Martin Buber.

4. Jg. Heft 1/2. Berlin 1919.

286 Hanni ULLMANN in: ELLGER-RÜTTGARDT, Sieglind: Verloren und Un-Vergessen. Jüdische Heilpädagogik in Deutschland. S. 286.

287 Hanni ULLMANN in einem Gespräch am 8.3.1997 in Berlin.

tage. Dass aber eine solch rational begründete Entscheidung ohne eine emotionale Überzeugung mit der Zeit zu Problemen führen musste, zeigte sich am ersten Jom Kippur nach der Auswanderung, als einige der Ahawah-Kinder das Fasten verwei-gerten. Daraufhin beschloss der Vorstand, dass "in dieses Haus jemand her(gehört), der ein religiöser Mensch ist und die Tradition den Kindern nahe bringt. Da wurde Moses Calvary gewählt."288

9.2.4.6 Erziehung zu Ästhetik und Kultur

Moses Calvary arbeitete in der Ahawah in einer Zeit, als viele deutsche Juden nach Palästina auswanderten und froh waren, wenn sie dort bald eine Arbeit finden konn-ten. Auf diese Weise gelangten einige Künstler und Wissenschaftler in die Ahawah und arbeiteten dort für einen mehr oder weniger langen Zeitraum, bis sie eine ihrer Qualifikation angemessenere Arbeitsstelle fanden und machten dadurch die Ahawah für Kiryat Bialik zu einem kulturellen Zentrum.

Aber, wie bereits erwähnt, gehörte es auch schon in Berlin es zu den Stärken der Ahawah, dass auf die ästhetisch-kulturelle Erziehung ein großer Wert gelegt wurde.

Ehemalige Heimkinder, deren Erzählungen meist recht bald eine verklärten Färbung annehmen, sind sich darüber einig, dass die Ahawah in dieser Hinsicht sehr an-spruchsvoll war. Die Oberin Berger, die sich autodidaktisch ein großes Allgemeinwis-sen angeeignet hatte, gab dieses, wie auch die Liebe zur Kunst und Musik an ihre MitarbeiterInnen und damit indirekt an die Kinder weiter.

"Zum Beispiel war es an den Freitagabenden üblich, dass man, nachdem die Kinder schon im Bette waren, zu ihr ging. Meine schönsten Erinnerungen an Kunst und Mu-sik, die habe ich alle von diesen Abenden."289

"Wir versuchen auch, durch Zeitungsbesprechungen das Interesse anzuregen und mehr Verständnis zu entwickeln. Bisweilen geben wir einzelnen Gelegenheit, ein ge-eignetes Theaterstück anzusehen. Mit einigen Älteren haben wir Konzerte besucht.

... Einen größeren Kreis hingegen haben öffentliche Jugendsingstunden erfasst, sie haben unseren Liedbestand wesentlich erweitert. Öfter ist es möglich, Kinder in Filme zu schicken, hier und da geben öffentliche oder private Stellen hierzu die Möglich-keit."290

Darüber hinaus öffnete sich die Ahawah auch für Publikum von außen. In der "Jüdi-schen Rundschau" wird am 15. Juni 1934 von einem klassi"Jüdi-schen Konzert berichtet, das die Ahawah in der Singakademie veranstaltet hat291.

Diese kulturellen Bemühungen der Ahawah sind nicht nur als ein persönliches Inte-resse der Oberin Berger zu verstehen. Sie stehen im Einklang mit der kunstpädago-gischen Renaissance dieser Zeit, welche die Kunsterziehung als ästhetisch - künstle-risches Empfinden und Gestalten sogar als "inspirierende Mitte der

Diese kulturellen Bemühungen der Ahawah sind nicht nur als ein persönliches Inte-resse der Oberin Berger zu verstehen. Sie stehen im Einklang mit der kunstpädago-gischen Renaissance dieser Zeit, welche die Kunsterziehung als ästhetisch - künstle-risches Empfinden und Gestalten sogar als "inspirierende Mitte der