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3. Die Vorstellung von Familienähnlichkeit in der Geschichte der Heimerziehung

3.1 Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

Die Geschichte der Heimerziehung ist keine lineare Entwicklung stationärer Fremd-unterbringung in Erziehungsanstalten. Sie beschreibt vielmehr zuerst die wechseln-den Sympathien und Antipathien gegenüber der Institution "Heim", die Suche nach Alternativen - wie beispielsweise Pflegefamilien - und dann, erst in zweiter Linie, konzeptionelle Überlegungen im Kontext zeitgemäßer Rahmenbedingungen. Seit dem Zweiten Weltkrieg stellt sie - wie an anderer Stelle noch ausführlicher darzustel-len ist - eine abnehmende Größe dar.

Beginnt man die Betrachtung außerfamiliärer Erziehung jedoch bereits im Mittelalter, so zeigt sich, dass unversorgte Kinder in der Regel nicht auffällig wurden. Das

54 Vgl. die zitierten Forschungsergebnisse in: LIEGLE, Ludwig: Familie/ Familienerziehung. In:

EYFERT, Hanns, OTTO, Hans-Uwe, THIERSCH, Hans (Hg.): Handbuch Sozialarbeit/ Sozial pädagogik. S. 331.

55 Ebd. S. 330ff.

56 DÖRNHOFF, Norbert, u. a.: Kleine Kinder im Heim. Hg. vom Verband katholischer Einrichtungen der Heim- und Heilpädagogik. Freiburg im Breisgau 1994. (Beiträge zur Erziehungshilfe, Bd. 9). S. 102.

ze Haus", die Großfamilie, besonders aber die Paten kümmerten sich um sie. So wurde die Frage nach Fremderziehung gesellschaftlich damals nicht relevant.

Schwierigkeiten gab es bei nichtehelichen Kindern, für die sich keine Sippe zustän-dig fühlte. Sie konnten jedoch in Klöstern oder in Krankenhäusern anonym abgege-ben und der Makel der unehelichen Schwangerschaft dadurch getilgt werden. Wai-senhäuser, wo es sie gab, waren keine eigenständigen Institutionen, sondern oft Hospitälern angeschlossen, in denen Alte, Kranke, Gebrechliche, Sieche, Irre und Kinder gemeinsam untergebracht wurden.

Im 16. Jahrhundert forderte Johannes Ludovicus Vives (1492 - 1540) "Erziehung statt Versorgung!", und wollte damit die Waisen und die Kinder armer Familien ihren primitiven Lebensbedingungen entreißen. Mit dieser Forderung konnte er sich jedoch damals kaum durchsetzen, da zu seiner Zeit die Entwicklung der Produktionsmetho-den enorme Fortschritte machte und die Produktion und der Umsatz von Gütern ge-steigert wurde. Aufgrund eines steigenden Bedarfs von Arbeitskräften wurden die Waisenkinder (und noch viel mehr die Armenkinder)57 als billige ArbeiterInnen ent-deckt und - entgegen jeder pädagogischen Theorie - ausgebeutet statt erzogen.

Neben der Unterbringung in oft provisorischen Waisenanstalten gab es grundsätzlich die Möglichkeit der Aufnahme in Pflegefamilien. Da diese aber oft selbst an der Ar-mutsgrenze lebten (wer Geld genug hatte, nahm kein Pflegekind auf), diente das Kind und seine Waisenrente oft nur als Verdienstquelle und wurde zum Betteln und Stehlen angestiftet und ausgenützt oder vernachlässigt.

Seit dem 17. Jahrhundert kommen religiös begründete, im protestantischen Bereich pietistisch gefärbte Forderungen wie "Nichtarbeit ist Sünde - der Staat hat die Pflicht, die Untertanen vor dieser Gelegenheit zu sündigen zu bewahren"58 dem staatlichen Interesse entgegen, aus Armen und Waisen ökonomischen Nutzen zu ziehen, an-statt nur in sie investieren zu müssen. Als ein Verdienst des Pietisten August Her-mann Francke (1663 - 1727) ist die Trennung der Waisenhäuser von den Zucht- und Armenhäusern anzusehen. Er und auch andere Denker seiner Zeit erstellten strenge Erziehungsrichtlinien, welche die Kinder vor physischer und psychischer Ausbeutung schützen sollten. Trotzdem galt "in dieser rein ökonomistisch ausgerich-teten, der Aufklärung vorangehenden Zeit ... aus leicht durchschaubaren ideologi-schen Gründen die kollektive Erziehung zu 'Arbeit und Sitte' viel, die individuellere Erziehung in der Familie aber recht wenig."59

In den Waisenanstalten wurden die Zöglinge freilich oftmals zu loyalen Arbeitern und widerspruchslosen Untertanen abgerichtet. Dadurch genossen die Waisenhäuser bei der Obrigkeit einen guten Ruf, öffentliche Zuschüsse flossen reichlich, diese Geld-gaben machten die Anstaltserziehung lukrativ und als eine Folge davon fing sie an, sich auszubreiten.

Erste Widerstände gegen diese Entwicklung formulierten im späten 18. Jahrhundert die Philantropen in Anlehnung an Jean Jacques Rousseau (1712 - 1778). Sie traten

57 In dieser Zeit und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurde (auch emotional) unterschieden zwischen Waisen, die man aus Mitleid, weil sie ihre Eltern verloren hatten, relativ

menschenwürdig behandelte und Kindern aus armen oder sozial zerrütteten Verhältnissen, die als Ausgestoßene der Gesellschaft zusammen mit geistig und körperlich Behinderten, Kranken, straffällig Gewordenen usw. in Fürsorgeanstalten abgeschoben wurden.

58 SAUER, Martin: Heimerziehung und Familienprinzip. Darmstadt 1979. S. 17.

59 SAUER, Martin: Heimerziehung und Familienprinzip. Darmstadt 1979. S. 21.

für eine Erziehung ein, welche die freie Entfaltung der natürlichen geistigen und kör-perlichen Kräfte eines Kindes fördern sollte.

Die Kritik, in der Literatur als "Waisenhausstreit" um ca. 1770 - 1820 beschrieben, setzte auf verschiedenen Ebenen an: pädagogisch, volkswirtschaftlich und finanziell.

Letztendlich wiederholten sich die Argumente aber immer wieder. Unter anderem wurde kritisiert:

1. Die Vereinigung verschiedener Gruppen (Alte, Kranke, Irre, Züchtlinge und Zöglinge) in einem Haus oder einer Anstalt,

2. die unzureichenden hygienischen Verhältnisse,

3. die ausbeuterische, für Kinder ungeeignete Zwangsarbeit, 4. der zu wenig qualifizierte Schulunterricht,

5. das Übermaß an religiöser Erziehung, der Missbrauch religiöser Praktiken (zum Beispiel um mit Gebeten auf Bestellung Geld zu verdienen),

6. die Massenerziehung und die Untergrabung der Individualität eines Kindes, 7. die mangelhafte Vorbereitung auf das Leben außerhalb, nach der Zeit im Heim,

8. die gegenüber der Privatpflege zu hohen Kosten der Heimerziehung.

Die Familienpflege erlebte in dieser Zeit einen Aufschwung. Allerdings wurde der genannte finanzielle Aspekt sehr hoch bewertet: Wo die Pflege am billigsten war, wurden die Kinder untergebracht, ungeachtet aller Rahmenbedingungen oder der pädagogischen Eignung der Pflegeeltern.

Dies wiederum rief im 19. Jahrhundert eine Gegenbewegung hervor, die ihrerseits hauptsächlich mit den folgenden Punkten die bestehende Pflegefamilienpraxis be-anstandete. Argumentiert wurde mit:

1. den schlechten Erfahrungen mit meist armen Unterschichtsfamilien, die den größten Teil der Pflegefamilien ausmachten,

2. den mangelnden Ausbildungsmöglichkeiten in den Familien, 3. den schlechten Schulverhältnissen auf dem Land,

4. den schlechten hygienischen Verhältnissen in den Familien,

5. den Schwierigkeiten bei der Auswahl und Überwachung geeigneter Pflegefamilien,

6. der Erfahrung, dass nicht alle Kinder gleichermaßen für die Familienpflege geeignet sind.

Der "Waisenhausstreit" endete unentschieden. Leichte Verbesserungen, vor allem ein erneutes Überdenken von Konzeptionsvorstellungen und Systematisierungen waren jedoch in beiden Bereichen erkennbar.

Der Versuch, die Vorteile beider Erziehungsformen miteinander zu verbinden, be-ginnt mit Johann Heinrich Pestalozzi (1746 - 1827) später auch in der Rettungs-hausbewegung unter anderem mit Johannes Falk (1768 - 1826) und Christian Hein-rich Zeller (1779 - 1860) und in der psychoanalytischen Pädagogik mit Bruno Bettel-heim (1903 - 1990): Ihnen allen gemeinsam ist die eigene Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen in sehr belastenden, teilweise ausweglosen Lebenssituationen.60 Sie

60 Vgl. HEUN, Hans-Dieter und WIESENFELDT-HEUN, Dorothea: Sozialpädagogik und Heimerziehung. S. 613.

gehen davon aus, dass verhaltensauffällige Kinder nicht einer strengen Bestrafung, sondern einer liebevollen Betreuung, einer emotionalen Heimat, bedürfen.

In jüdischen Kreisen wurden die angesprochenen Fragen genauso diskutiert und dort klar Stellung für die Unterbringung von Waisen in Pflegefamilien bezogen. An-ders als bei Gustav Wyneken (1875 - 1964), der generell verlangt, dass Kinder nur so lange in der Familie aufgezogen und gepflegt werden sollen, bis Erziehungsan-stalten die "eigentliche" Erziehung übernehmen können, unterschied die jüdische Pädagogin Gertrud Benzian in einem Beitrag aus dem Jahre 1924 zwischen Kindern aus normalen Familien und Waisen:

"Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ein junger Mensch, der seine Eltern am Leben weiß, mehrere Jahre in einer Erziehungsgemeinschaft verbringt oder ob eine Waise ihre Jugend in einem Heim verbringen muss, aus dem es für sie kein Entrinnen gibt."61

Theoretisch wäre zumindest ihrer Ansicht nach die Erziehung in Pflegefamilien der-jenigen in Heimen entschieden vorzuziehen gewesen, in der Praxis fehlten aber vor allem geeignete jüdische Familien. So kamen also für Waisenkinder doch nur Heime in Betracht. In diesem Spannungsfeld zwischen pädagogischen Überlegungen und realen Bedingungen wurden die Gegebenheiten des Heimlebens positiv zu nützen gesucht. Beispielsweise wurde den Kindern des Hamburger Paulinenstifts62, welches Gertrud Benzian in den 20er Jahren leitete, beigebracht, dass eine große Gemein-schaft nur dann bestehen kann, wenn sich die einzelnen Mitglieder untereinander restlos vertrauen. Theodor Rothschild (1876 - 1944), der Leiter des Jüdische Wai-senhauses in Esslingen63, bemühte sich im annähernd gleichen Zeitraum, die Kinder seines Heims in weitgehender Freiheit zu erziehen. Sie sollten nicht nur in einer An-stalt aufbewahrt werden. Das Kinderheim wollte ihnen vielmehr ihr Elternhaus erset-zen und sie auf ein späteres, eigenständiges Leben vorbereiten.

In beiden Heimen lernten die Kinder, sich füreinander verantwortlich zu fühlen, am Leben der anderen anerkennend oder auch kritisch Anteil zu nehmen und miteinan-der konstruktiv zu kommunizieren. Die Größeren kümmerten sich fürsorglich um die Kleineren und ersetzten ihnen so partiell Mutter oder Vater. Die MitarbeiterInnen fühlten sich in das Heimleben einbezogen wie die Mitglieder einer Großfamilie. Sie respektierten die Kinder als Individuen, ermöglichten ihnen, am Leben außerhalb des Heimes teilzunehmen und bereiteten sie auf ein selbständiges Leben nach der Zeit im Heim vor. Alle diese Elemente sind auch für ein gelingendes Familienleben cha-rakteristisch, ohne dass jedoch in diesem Zusammenhang der Begriff familienähnli-che Erziehung erwähnt wurde.

Die Frage "Anstalt oder Familie" bleibt trotzdem weiter bestehen. Andreas Mehrin-ger, der das anstaltartige Heimleben als Kind am eigenen Leib verspürt hat und sich

61 BENZIAN, Gertrud: Erziehung. Das Paulinenstift in Hamburg. Zur Reform der

Anstaltserziehung. In: Der Jude. Eine Monatsschrift. Hg. von Martin Buber. 8. Jg. Berlin 1924.

S. 743.

62 Vgl. BENZIAN, Gertrud. Ebd. S. 743ff.

63 Vgl. HAHN, Joachim: Jüdisches Leben in Esslingen. Geschichte, Quellen und Dokumentation. Esslingen 1994. S. 167ff.

und JUD-KREPPER, Helga: Unsere Kinder, unsere Lehrer. Erziehung, jüdische Schule und Gemeinschaftsarbeit in der "Wilhelmspflege" unter Theodor Rotschild. In: Tröstet Euch, uns geht es gut. Theodor Rotschild. Ein jüdischer Pädagoge zwischen Achtung und Ächtung.

Plochingen 1998. S. 141 - 190.

später als Leiter des Münchener Waisenhauses und Autor pädagogischer Schriften für alternative Modelle einsetzte, meint, dass einmal die eine Richtung fast so etwas wie Mode ist, einmal wieder die andere. Aber "immer besteht die Gefahr, dass man dem Zeitgeist entsprechend 'das Kind mit dem Bade ausschüttet', statt aus der Ge-schichte zu erkennen: Es geht gar nicht darum, ob 'die' Heimerziehung oder 'die' Familienpflege besser ist; es geht jeweils um ein Kind und um die Frage, wie man ihm am besten helfen kann."64