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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

15. Neve Hanna - das erste Kinderheim in Israel mit familienähnlichem Aufbau (gegründet 1974)

15.2 Zielgruppenbeschreibung und pädagogische Konzeption

15.2.6 Die Erziehung zur Individualität

Trotz der Einflüsse, die von der Kibbuzerziehung und auch noch von früher durch die Kinder- und Jugendalijah auf Neve Hanna einwirken hinsichtlich darauf, dass sie die Erziehung in (Groß)-Gruppen als ein Ideal vertreten, beharrt Neve Hanna wie seine Vorgängerheime auf der individuellen Erziehung eines jeden einzelnen Kindes. Da-mit setzte es sich vor allem in seinen ersten Jahren - heute haben sich auch andere Heime diese Idee zu eigen gemacht - von den anderen Institutionen ab.

Eine Erziehung zur Individualität ist zweifellos am besten in einer Kleingruppe wie der Familie realisierbar. Daher setzt das Bestreben, Kinder auch außerhalb der Fa-milie gemäß ihren je eigenen Anlagen aufwachsen zu lassen, voraus, dass die Insti-tution Familie in vielen Punkten nachgeahmt werden muss.

Ein wesentlicher Faktor sind dabei geeignete Räumlichkeiten: In Neve Hanna gibt es keinen zentralen Speisesaal. Jede Wohneinheit hat ihr eigenes Esszimmer. Die Tendenz geht dabei von einer langen Tafel hin zu mehreren Einzeltischen.

Die Schlafzimmer sind mit maximal drei Kindern belegt, in Sonderfällen sind sogar Einzelzimmer möglich.

"Jedes Kind besitzt in diesen Räumen außer seinem Bett einen Arbeitstisch, einen Schrank und einen Nachttisch, daneben eine kleine Nachttischlampe zum Lesen in der Freizeit und an den Abenden."658

657 Hanni ULLMANN in einem Brief an Erich und Liesl BLOCH (Spender). 5.1.1990.

Für verschiedene Freizeitbeschäftigungen stehen unter anderem ein Fitnessraum, ein Musikzimmer, zahlreiche Computer, Gesellschaftsspiele, Bastelmaterial zur Ver-fügung, sodass jedes Kind seine Freizeit gemäß seiner Neigungen ausfüllen kann. In dieser Hinsicht trifft sich die Praxis Neve Hannas mit den Theorien Johannes Peter-sons von einer familiennahen Heimerziehung:

"Soviel nur irgend möglich ist, soll (...) Raum gelassen werden für freie Betätigung des Spieltriebs, soll den Kindern Zeit und Gelegenheit gegeben werden, den eigenen Neigungen zu folgen. Je weniger Reglement, desto besser. ... Die Pflege des Ge-müts ist eine der schwersten Aufgaben der Anstaltserziehung. (...) Kein Drill, keine übertriebene Zucht, sondern Eingehen auf die kleinen Sorgen, Fortschritte, Wün-sche, Meinungen. "659

Weiterhin scheinen zwei Beobachtungen wichtig zu sein: Erstens bekommt jedes Kind die Art von Therapie, die es benötigt: Bis vor wenigen Jahren arbeitete in Neve Hanna eine Psychologin, die sich auf Spieltherapie spezialisiert hatte. Zur Zeit be-kommen einige Kinder Kunsttherapie. Für besondere Problemstellungen ist es auch möglich, dass Kinder auswärts betreut werden, zum Teil mit einem erheblichen per-sonellen und finanziellen Aufwand.

Zweitens steht jedem Kind wöchentlich eine Stunde Einzelbeschäftigung mit seiner Hausmutter oder seinem Erzieher zu. Dabei ist Zeit zum Spielen, aber auch zu Gesprächen oder zu Erledigungen in der Stadt (Einkaufen, Post, Bank,...), aber je-weils auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt.

Weitere Hinweise, wie in Neve Hanna die Persönlichkeit der Kinder individuell geför-dert wird, finden sich in Briefen aus den Jahren 1975 und 1989:

"Jedes Kind hat an diesem Tag (Tu-Bi-Schwat, Neujahrsfest der Bäume) einen Baum mit seinem Namensschildchen, damit es 'seinen' Baum nachher selbst pflegen kann."660

"Die Kinder haben schreckliche Sehnsucht nach Dudu. Er hat jedem Kind eine Karte geschrieben, sie waren überglücklich. ..."661

15.2.6.1 Die Identifikation mit dem Judentum

Weitaus mehr als in anderen Religionen betont das Judentum die Zugehörigkeit zu Konfession und Volk. Die Pflege und Weitergabe der jüdischen Lebensweise von Generation zu Generation wird dabei als die Richtlinie "die Verbundenheit des jüdi-schen Hauses mit dem Gesamtjudentum"662 angesehen. Der Erziehung kommt da-bei die Aufgabe zu, die heranwachsende Jugend zum Empfang, zur Erhaltung und

658 Aus einem Faltblatt über Neve Hanna, ca. 1988/89. S. 3.

659 PETERSEN, Johannes: Die öffentliche Fürsorge für die hilfsbedürftige Jugend. Leipzig 1907.

S. 88f.

660 Hanni ULLMANN in einem Brief an Otto BRENNWALD, Zürich. 30.1.1975.

661 Hanni ULLMANN in einem Brief an Margot FLAIG. 13.5.1989.

662 Vgl. BARTA, Johannes: Grundlagen der jüdischen Familienerziehung. In: Jüdische Familienerziehung. Das jüdische Erziehungswesen im 19. und 20. Jahrhundert. Zürich, Einsiedeln, Köln 1974. S. 82.

zur Weitergabe der jüdischen Geistesgüter bereit zu machen. Sichtbares Indiz für eine solche Erziehung ist die Würdigung der Feiertage im Jahreszyklus.

"Das Bewusstsein für die eigene Identität wird gefördert durch die Respektierung je-des einzelnen Kinje-des und durch das gemeinsame Feiern der jüdischen Festtage und Traditionen."663

15.2.6.1.1 Die jüdischen Feste und Feiertage

Zusätzlich zum religiösen Aspekt verwies Johannes Petersen auf die gemeinschafts-stiftende Komponente der Feste:

"Feste, Gedenktage, kirchliche Feiern usw. sammeln die Hausgemeinschaft als Gan-zes."664

Im Folgenden dokumentieren Briefe und Berichte aus Neve Hanna, wie die jüdi-schen Feiertage im Heim begangen wurden und werden:

Das Neujahrsfest der Bäume

"Ich habe an das Neujahrsfest der Bäume die schönsten Erinnerungen im tiefsten Winter. Hier ist es ein Festtag der Kinder. Schulen und Kindergärten pflanzen Bäu-me. Wir spielten danach mit den Kindern, wobei wir durch Rätsel ihnen die Namen von Bäumen und Sträuchern einprägten. Die Kinder machten einen Wettbewerb mit Blumenarrangements. Es ist üblich, an diesem Tag 15 verschiedene Früchte zu es-sen, frische und getrocknete. Die Mädchen machten Orangenkörbchen, die wir mit Früchten füllten."665

Purim

"Übermorgen (am 20.3.1984) feiern wir das Purimfest - die Geschichte der Königin Esther. Es herrscht schon große Freude und Aufregung im Kinderheim. Jedes Kind darf sich nach seinem Wunsch verkleiden. In der Stadt Kiryat Gat wird es einen Um-zug geben. ... Kleine, lustige Aufführungen werden stattfinden und der Höhepunkt ist ein kleiner Jahrmarkt, den die Erzieher den Kindern als Überraschung vorberei-ten."666

"Am 26. März haben wir in Neve Hanna Purim gefeiert. ... Man wurde sofort von der Purimstimmung mitgerissen, wenn man (die Volontärin) Anne-Ruth in roter Bluse, weißem Zylinder und auf Rollschuhen durch die Gartenwege sausen sah. Und dann war da noch so ein kleiner Jeshiwe-Bocher (Schüler einer sehr orthodoxen Schule), der eifrig seine Schläfenlocken drehte. Wenn man genauer hinsah, war es Hanni Ullmann. ...

663 Aus einem Informationsblatt über Neve Hanna, ca. 1990.

664 PETERSEN, Johannes: Die öffentliche Fürsorge für die hilfsbedürftige Jugend. Leipzig 1907.

S. 94.

665 Hanni ULLMANN in einem Brief an Pfarrer GAFFRON, Herford. 5.2.1984.

666 Hanni ULLMANN in einem Brief an die Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Dahlem am 18.3.1984.

Ein Erzieher in einem sehr langen phantastischen Gewand tanzte mit einer Gruppe von großen und kleinen Kindern, er ließ niemanden vorbei, jeder musste mittanzen.

...

Unsere kleinen, erst im September aufgenommenen Kinder, damals noch traurig und verschüchtert, waren alle vergnügt. Jedes Kind hatte eine Rolle, sie haben alle mit-gemacht. Da gab es sibirische Schlittenhunde, die vermummte, kleine Gestalten in einem Schlitten-Pappkarton durch die Bühne zogen, eine andere Gruppe führte eine chinesische Teezeremonie vor. Und ganz großartig, fast erschreckend waren Gestal-ten aus dem Weltall. ... Anne-Ruth hat mit einem kleinen, sehr zarGestal-ten Mädchen im Spitzenröckchen, beide auf Rollschuhen, eine Eislaufparodie aufs Parkett gelegt mit viel Humor und einer herrlich gekonnten Schlussverbeugung. Ich habe später erfah-ren, dass das kleine Mädchen ein Junge war. ...

Zwei Erzieher stellten eine kleine Bühne auf, davor einen 'roten' Teppich. Es gab ei-nige Preise ..., und dann wurde Hanni Ullmann zur 'Frau des Jahres' erklärt. Sie nahm die Ehrung in oben genanntem Kostüm, eifrig an ihren Schläfenlocken dre-hend, in Empfang. ... Alles war ganz einfach 'geistreicher Humor'. ...

Zum Schluss bekamen wir noch eine mit Würstchen und sehr guten Salaten gefüllte Falaffel. Es ist gut, dass es Dinge gibt, über die man sich freuen kann."667

Chanukka

"Am achten Tag des Lichterfestes versammelten wir uns in unserem für Chanukka schön geschmückten Gemeinschaftsraum.

Die Kinder, klein und groß, blitzsauber angezogen und die Eltern, die alle eingeladen waren: Leider kamen von diesen viel zu wenig, denn jedes Kind erwartet ja sehn-süchtig seine Eltern zum Fest.

Die Mitarbeiter mit Frauen und Kindern und nächsten Freunden von Neve Hanna wa-ren da, um mitzufeiern. ...

Chanan, der Leiter des Heims, zündete den großen Chanukka-Leuchter mit acht bunten Lichtern an. Die Kinder sangen Segenssprüche dazu. Unsere großen Mäd-chen hatten mit einer Erzieherin einen Kanon zu Ehren des Festes eingeübt, den sie sangen und - Gott sei Dank - nicht schrieen - das haben sie inzwischen gelernt.

Danach zündete Chanan dem jüngsten Neve Hanna-Kind, Noemi, fünf Jahre alt, das Lichtchen an. Und jeder Anwesende, Kinder und Erwachsene, alt und jung, groß und klein, zündete seinem Nachbarn das Licht an. Alle standen auf von ihren Stühlen und Schmuel und Jossi spielten Chanukkalieder mit Begleitung von Akkordeon und Gitar-re. Wir sangen alle dazu. ...

Wir waren alle so frei und glücklich zusammen, die Eltern mit ihren Kindern, die Er-wachsenen und die Freunde von Neve Hanna: Wir vergaßen alle unsere großen und kleinen Sorgen beim Tanzen.

Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten begann jede Kindergruppe eine kleine Vor-führung über den Chanukkaleuchter und seine Bedeutung. Die großen Kinder halfen den kleinen.

Es war alles sehr schlicht, sehr einfach, aber es kam von Herzen."668

Bar- und Bat- Mizwah

"Die Kinder waren alle vom Rabbiner sehr gut vorbereitet worden und die Jungen la-sen sehr schön aus der Thora, die Mädchen aus der Haftara, da Thoralela-sen den Mädchen nicht erlaubt ist. Der Rabbiner, wie auch Dudu Weger hielten eine kleine Ansprache und ermahnten die Kinder - da sie nach jüdischem Brauch von nun an als

667 Bericht über Purim 1986 in Neve Hanna, o. N., ANH.

668 Beruria WYNREB in einem Bericht über Chanukka. 1979. S. 1. ANH.