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II. Geschichte und Praxis familienähnlicher Heimerziehung

11. Die Wiederaufnahme der Arbeit in der Ahawah in Kiryat Bialik (ab 1934)

11.2 Die Ahawah in Kiryat Bialik .1 Die Entstehungsgeschichte

11.2.2 Der Heimalltag in den 30er und 40er Jahren

Der Heimalltag in der in Palästina wiederentstehenden Ahawah war zur Zeit Hanni Ullmanns geprägt von der schweren Zeit: Die teilweise stark traumatisierten Kinder waren zusammengewürfelt aus allen möglichen Nationen und Kulturen; täglich ka-men neue an . Aufgrund der sich immer wieder verändernden Situation war es schwierig, den Tag geordnet zu strukturieren.

Die Eckpunkte des Tages waren die Mahlzeiten: Das Mittagessen wurde im großen Speisesaal, das Frühstück und das Abendessen in den Gruppen, die allerdings bis zu 50 Kinder und Jugendliche umfassten, eingenommen. Einen Einblick in den da-maligen Heimalltag erhält man aus den Berichten Channas, die 1937 ins Land kam, an ihre Mutter:

"Ich schlafe mit vier Mädels zusammen. Kurz nach fünf Uhr weckt uns ein Junge. Wir ziehen Hosen und Blusen an und gehen runter zum Turnen. Wir machen ein paar Freiübungen, und dann machen wir unsere Betten. Es gibt hier drei Häuser. In einem ist der Essraum und die Küchen. Jede Gruppe hat ein Stockwerk mit einem Grup-penzimmer und zwei Duschräume, eine Küche, Toiletten, eine Veranda, usw. Dieses Stockwerk räumen wir alle zusammen bis zum Frühstück auf. Ich muss ein Zimmer wischen, fegen, Ordnung machen, usw. Um halb sieben Uhr gibt es Frühstück, um sieben Uhr fängt die Arbeit an. Wir arbeiten vier Stunden. Ich bin jetzt im Material-zimmer. Da sortiere ich Wäsche aus und plätte und nähe. Das ist nicht sehr interes-sant. Um 11.20 Uhr habe ich in der fortgeschrittenen Gruppe hebräisch. ... Um drei-viertel eins gibt es Essen. Es gibt immer verschiedene Sachen. Es hat sich noch nichts wiederholt. Gurken gibt es zu jeder Mahlzeit. Darüber schreibe ich noch aus-führlich. Nach dem Essen müssen wir uns hinlegen. Bis Abend ist wieder Stunde."436 Die Jugendalijah setzte für alle ihr verbundenen Erziehungseinrichtungen voraus, dass die Jugendlichen ab 14 Jahren vier Stunden am Tag arbeiteten und vier Stun-den lernten. Die Arbeit fand vorwiegend in der Landwirtschaft statt, die zum Heim gehörte und die Haltung und Aufzucht von Kühen und Hühnern, sowie einen großflä-chigen Blumen- und Gemüseanbau umfasste. Für die Jungen war alternativ dazu eine Ausbildung in der Schreinerei möglich.437 Als damals einziges Heim in Palästina bot die Ahawah für Mädchen zusätzlich eine hauswirtschaftliche Ausbildung an.

Channa berichtet von der Arbeit in der Wäscheabteilung:

"Die jetzige ('Waschmaschine') besteht aus einem Wellblech, drei Waschschüsseln und einem Wäschekochtopf. Die weiße Wäsche wird weggegeben. Die bunte wird al-le zusammen gekocht und dann mit Kernseife ausgewaschen. Fast alal-le Sachen wer-den nicht geplättet. Wir bekommen von jeder Wäschesorte ein Stück. Auch Schlaf-anzüge und andere Sachen werden jede Woche gewechselt. Jedes Kind hat im Ma-terialzimmer ein Fach, in dem alle reinen Sachen liegen. Die sauberen Sachen wer-den alle orwer-dentlich zusammengebunwer-den in das Fach gelegt. Jedes Stück wird nach der Wäsche auf Löcher untersucht, und wenn etwas kaputt ist, wird es gleich geflickt.

Jeden Freitag wird für jedes Kind ein Bündel gemacht und dabei das Fach gleich sehr gut aufgeräumt. Um jedes Bündel ist eine Schnur mit der Nummer des Betref-fenden gebunden. Der Korb mit den Bündeln wird auf der Etage der Gruppe gestellt und jeder kann seins rausnehmen. Die schmutzige Wäsche bindet man mit der Schnur zusammen und legt sie in den Korb, der dann weggebracht wird. Im zweiten

436 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 21.5.1937. S. 6. ANH.

437 Vgl. den Brief von Dr. Beruria WYNREB an das Jewish Child's Day Committee in London vom 16.6.1952 (CZA Jerusalem. S 75/7366).

Jahr bekommen wir unsere Sachen selbst, müssen sie aber auch selbst ausbes-sern."438

Der Unterricht im Kochen erfolgte in zwei Stufen: Die übliche Ausbildung in der Großküche wurde ergänzt durch eine anschließende Phase, in der die Mädchen für jeweils drei Heimkinder und sich, also in Anlehnung an einen Vier-Personen-Haushalt, kochen mussten. So wurden die Mädchen nicht nur für eine eventuelle spätere Anstellung in der Gastronomie, sondern auch für die Versorgung einer eige-nen Familie qualifiziert. Dieses System war bereits in der Ahawah in Berlin üblich. Es kann als ein Hinweis auf erste Veränderungen in der Zielsetzung der Ahawah gewer-tet werden, die sich im Lauf der Zeit immer mehr an einer Normalfamilie orientierte.

"In der Küche soll man sehr viel und gut lernen. Vier Monate bleibt man im ganzen dort. Davon muss man einen Monat mit einem bestimmten Wirtschaftsgeld für die Verpflegung von vier Kindern sorgen."439

Dem persönlichen Engagement von Oberin Beate Berger muss es als Verdienst an-gerechnet werden, dass sie entgegen der Ideale der Jugendalijah, die aus allen jun-gen Menschen landwirtschaftliche ArbeiterInnen machen wollte und gejun-gen den Wi-derstand Henrietta Szolds durchgesetzt hat, dass einige, allerdings wenige, das Abi-tur machen bzw. eine ihren Begabungen entsprechende externe Ausbildung absol-vieren konnten.

In ihrer Freizeit nutzten die Jugendlichen kulturelle, sportliche und musikalische An-gebote. In einem Brief an das Jewish Child's Day Committee440 wurde dafür bei-spielsweise um Radios, Plattenspieler, Schallplatten, Flöten, Mundharmonikas, Fuß-bälle, HandFuß-bälle, Gymnastikmatten, Tischtennissets und Sportbekleidung gebeten.

"Einen Abend in der Woche müssen wir für die Küche Kartoffeln oder Gemüse schä-len. Zwei Abende ist Singen, ein Abend ist Schreibabend usw. Wir bekommen auch für die Schule viele Aufgaben auf. ..."441

Trotz der Notsituation des Heims in den zu Ende gehenden 30er Jahren verzichtete man nicht darauf, den Schabbat und die Feiertage zu halten.

"Freitagabend versammeln sich alle im Speisesaal, um dort dem Gottesdienst beizu-wohnen. Es wird nur ein Teil der Gebete (sefardisch) gebetet. Zwischen den Gebeten hält einer der Erwachsenen eine Rede auf hebräisch. Die letzte Rede handelte von den verschiedenen Temperamentsarten der Menschen. ... Nach dem darauf folgen-den Abendessen wurde getanzt. ... Auch außerhalb des Heimes sind wir moralisch verpflichtet, nicht zu fahren, zu schreiben, usw. Das Licht wird hier angezündet."442 Um einer zügigen Eingliederung willen sorgten die ErzieherInnen der Ahawah zum Teil mit pädagogisch fragwürdiger Strenge dafür, dass die Kinder schnell Hebräisch lernten.

438 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 31.5.1937. S. 19. ANH.

439 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. Ohne Datum (ca. Juni 1937). S. 26. ANH.

440 16.6.1952 (CZA, Jerusalem, S 75/7366).

441 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 21.5.1937. S. 6. ANH.

442 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 31.5.1937. S. 13 und 26. ANH.

"Wir sprechen jetzt schon viel mehr hebräisch. Im Anfang gab es für die Mahlzeiten nur einen hebräischen Tisch, an dem ich auch war. Jetzt sind wir aufgeteilt worden, um den anderen zu helfen. Da wir nur hebräisch sprechen sollen, herrscht bei Tisch immer eine himmlische Ruhe. Auch der Unterricht wird schon etwas hebraisiert."443 Zum gleichen Zweck wurden ihnen das Land und die gesellschaftlich-kulturellen Er-rungenschaften Palästinas erklärt und gezeigt:

"Um 11 Uhr hatte die Alijah eine Sicha (Gespräch) mit Calvary über die verschiede-nen Bewegungen in Palästina. Nach dem Mittagessen gingen wir, uns den eine halbe Stunde entfernten Kibbuz Plugath hajam ansehen. Der Kibbuz besteht erst einein-halb Jahre und hat sich zur Aufgabe gemacht, die Arbeit am Hafen von Haifa zu er-obern (Lasten verladen, Zoll, Fischerei, Schiffsleute und eigene Schiffe zu besitzen).

Mit 50 unvorbereiteten deutschen und polnischen Chaluzim hat der Kibbuz begon-nen. Um das Einleben des Kibbuz zu fördern, wurden vor kurzem aus allen Kibbuzim des Landes Leute dorthin geschickt. Der Kibbuz zählt jetzt über 200 Mitglieder. ..."444 Nach dem Zweiten Weltkrieg, beziehungsweise nach der Staatsgründung Israels, veränderte sich mit abnehmenden Einwanderungszahlen die Schwerpunktsetzung der Ahawah wieder von einer Auffangstätte für Flüchtlinge hin zu einem Heim für Kinder und Jugendliche aus schwierigen sozialen Verhältnissen.

"Als unser eigener Staat aufgebaut wurde, fanden wir wieder den Weg zurück zu un-serer alten Arbeit, ein sozialpädagogisches Heim zu sein. Der Grund: Aus diesem Vorort Kiryat Bialik war mehr oder weniger eine Stadt geworden und deshalb waren unsere Häuser nicht mehr geeignet als landwirtschaftliche Vorschule. So einigten wir uns mit der Jugendalijah und mit der Stadt Haifa, dass wir Kinder aufnehmen aus so-zial gestörten Familien und da besonders Flüchtlings- und Neueinwandererkinder."445 Die Reduktion von 30 bis 50 zu sechs bis acht Kindern pro Gruppe verminderte die Gesamtzahl um etwa ein Drittel und führte zu einer familienähnlichen Atmosphäre.446 Die dadurch mögliche intensivere Betreuung gab den kleinen Kindern das Gefühl des Umsorgtwerdens, den Größeren bedeutete sie eine systematische Erziehung zur Selbständigkeit. Durch die Senkung des Durchschnittsalters entfielen die Ausbil-dungsplätze, so wurde aus dem landwirtschaftlichen Betrieb eine Kinderfarm. Ehe-malige Werkstatträume wurden zu speziellen Werkräumen umgestaltet, Spielplätze wurden errichtet.

443 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. Ohne Datum (Juni 1937). S. 26. ANH.

Hanni Ullmann berichtet, daß Moses Calvary, der in der Ahawah in Kiryat Bialik als Erzieher arbeitete, die Anordnung der Oberin Berger, daß die Kinder von Anfang an nur hebräisch lesen durften, heimlich umging. Er wusste, daß die Kinder damit überfordert waren und daß die fremde Sprache das Heimweh nur schlimmer machte.

444 CHANNA - unveröffentlichtes Manuskript. 31.5.1937. S. 13f. ANH.

445 Hanni ULLMANN in dem Vortag: Erziehungsarbeit im Kinderheim Ahavah. Jerusalem 1965.

S. 2.

446 Dr. BACHERACH-KROMBACH in einem Vortrag im Mai 1955. S. 4ff.

11.2.3 Zielgruppenbeschreibung und Konzeption