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2 Drei Elemente von Gedankenexperimenten

2.3 Die explorative Funktion von Gedankenexperimenten

2.3.3 Systematische Variation und Verallgemeinerung

2.3.3.3 Zielgerichtete Variation

Variation des Szenarios kann benutzt werden, um gezielt mit einer Reihe von Szenarien auf eine bestimmte These hinzuarbeiten. Man betrachte zum Beispiel das Gedankenexperiment Wo sitzt der Schmerz?

Wenn wir uns fragen, ob es einen Ort gibt, an dem Schmerz lokalisiert ist, so liegt es nahe, eine Reihe von Szenarien zu betrachten.237 Erstens eine Person, die Schmerzen in der Hand hat und äußert: „Ich habe Schmerzen in der Hand.“ Wollen wir sagen, daß die Schmerzen, wörtlich genommen, in der Hand sind? In Diskussionen habe ich sehr verschiedene Urteile gehört darüber, wo (und ob) der Schmerz lokalisiert werden sollte. Um einen Philosophen zu überzeugen, der die Schmerzäußerung wörtlich verstehen möchte, können wir das Szenario ändern. Betrachten wir eine Person, die keine linke Hand hat und wahrheitsgemäß äußert: „Ich habe Schmerzen in der linken Hand.“ Kaum jemand wird behaupten wollen, der Schmerz könne, wörtlich genommen, in der linken Hand sein. Schließlich ist da keine linke Hand. Wer so etwas behauptet, sollte erklären können, warum ich keine Schmerzen beim Regal dort drüben oder in Rom haben kann, während ich hier sitze. Nehmen wir an, unser Gegner gibt uns für diesen Fall Recht. Dann geben wir nun eine Reihe von Szenarien, in denen wir die Nervenbahnen entlang immer mehr vom Arm und Körper der armen Person im Szenario wegdenken: Der Schmerz kann nicht im Unterarm sein, denn die Person könnte Phantomschmerzen in der Hand haben, während ihr ganzer Unterarm fehlt. Im Oberarm nicht, in der Schulter nicht, und so weiter bis hin zum Hirn oder Rückenmark. Wenn Schmerz irgendwo im wörtlichen Sinn lokalisiert ist, dann dort.238

237 Tatsächlich ist es sehr plausibel zu sagen, daß Schmerz gar nicht im wörtlichen Sinne an einem bestimmten Ort ist. Wenn man, wie ich, dieser Ansicht ist, so kann man die im Haupttext genannte Reihe von Szenarien trotzdem benutzen, um z.B. seine Gegner zu einer Position zu bewegen, von der man hofft, daß sie selbst sie als unplausibel empfinden.

238 Es steht dem philosophischen Gegner natürlich frei, diese Kette an beliebiger Stelle unterbrechen zu wollen.

2.4 Wo stehen wir?

Ich habe im ersten Teil der Arbeit eine Analyse der Klasse philosophischer Verfahren gegeben, die wir „Gedankenexperiment“ nennen. Kapitel 1 hat uns zunächst den Gedanken nahe gebracht, daß wir es nicht mit einem einheitlichen Phänomen zu tun haben.

Gedankenexperimente bilden eine ganze Klasse von Verfahren. Ich habe verschiedene Funktionen von Gedankenexperimenten in philosophischer Argumentation unterschieden und eine Klassifikation angedeutet. Weiterhin habe ich zwei Typen von Theorien zur Struktur von Gedankenexperimenten untersucht. Die Argumentthese ist wahr, doch wir hatten Mühe, mehr aus ihr zu machen als die Trivialität, daß Gedankenexperimente unter anderem dazu dienen können, zu überzeugen. Immerhin konnten wir festhalten, daß kontrafaktische Konditionale offenbar eine große Rolle in Gedankenexperimenten spielen. Die Experimentthese auf der anderen Seite ist offenbar falsch und ich habe mich bemüht, die Motive aufscheinen zu lassen, die Philosophen haben glauben lassen, sie müßten diese These vertreten. Es sind diese Motive, die uns verschiedene Warnungen und Arbeitsaufträge mitgegeben haben.

In Kapitel 2 schließlich habe ich ausführlicher die drei zentralen Schritte von Gedankenexperimenten untersucht. Sich ein Szenario vorzustellen bedeutet in erster Linie eine Beschreibung zu geben oder nachzuvollziehen. Das bedeutet nicht, daß Visualisierungen, mentale Modelle a la Nersessian oder sogar Empathie nicht wichtige Bestandteile des Vorstellens eines Szenarios sein können insofern als sie Beurteilungen erleichtern oder gar ermöglichen.

Ich habe die Idee zurückgewiesen, daß Gedankenexperimente immer mit kontrafaktischen Szenarien beginnen und stattdessen nahe gelegt, daß es auf die Faktizität des Szenarios in den allermeisten Gedankenexperimenten nicht ankommt – unabhängig von der Frjage, ob das Szenario tatsächlich faktisch ist oder nicht. Das Verhältnis verschiedener Arten, in denen ein Szenario „möglich“ genannt werden kann, ist thematisiert worden und ich habe auf die Bedeutung der Interpretation des Szenarios hingewiesen. Beide Aspekte werden in Teil II von Bedeutung sein, wenn es darum geht, Fehler in der Durchführung von Gedankenexperimenten zu bestimmen.

Beurteilungen von Szenarien, so hat sich bestätigt, haben die Form kontrafaktischer Konditionale und ich habe drei Konsequenzen aus diesem Umstand thematisiert. Gedankenexperimente ruhen immer auf unserem Hintergrundwissen, eine gute Beurteilung ist manchmal aus prinzipiellen Gründen nicht erhältlich und wir können zwischen Beurteilungen unterscheiden, in welche Thesen eingehen, um die es im Gedankenexperiment geht und solche, in denen dies nicht der

Fall ist. Ich habe verschiedene Arten der Beurteilung unterschieden. Diese Unterscheidungen werden in Teil III wieder relevant werden. Es ist wichtig zu sehen, daß unter Beurteilungen sowohl spontane Reaktionen auf ein Szenario verstanden werden als auch ausgereifte Überlegungen, da das Bild der meisten der in Kapitel 6 besprochenen Kritiken sich allein auf spontane Reaktionen gründet und somit andere Gedankenexperimente gar nicht betrifft. Und es ist wichtig zu sehen, daß die inhaltliche Bandbreite von Beurteilungen nahe legt, daß eine einheitliche Konzeption der Rechtfertigung von Beurteilungen oberflächlich bleiben muß.

In der Untersuchung der explorativen Funktion von Gedankenexperimenten hat sich gezeigt, daß Gedankenexperimente am Anfang der philosophischen Beschäftigung mit einem Thema stehen können. Manchmal geben sie dabei nicht mehr als plausible Startpunkte der philosophischen Untersuchung vor. Sie können sich aber auch bis zu unumstrittenen Prüfsteinen einer jeden künftigen Theorie entwickeln. Die Verallgemeinerung von Beurteilungen funktioniert vor allem mittels Variation des Szenarios, auch wenn die Variation häufig implizit bleibt.

Teil II

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