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Anfangshypothesen versus Adäquatheitskontexte

2 Drei Elemente von Gedankenexperimenten

2.3 Die explorative Funktion von Gedankenexperimenten

2.3.2 Anfangshypothesen versus Adäquatheitskontexte

Viele berühmte Gedankenexperimente werden zudem zu einem Zeitpunkt der Diskussion ersonnen, zu dem die relevanten theoretischen Zusammenhänge noch nicht erfaßt sind. Einer der großen Vorteile von Gedankenexperimenten ist ja gerade, daß sie es uns erlauben, den Fuß in eine Tür zu einem philosophischen Problem zu bekommen, ohne schon über ausgereifte Begrifflichkeiten oder Argumente zu verfügen! Wir beginnen mit einzelnen Szenarien, deren Beurteilung einfach erscheint. Theorien, Einwände und ausgefeilte Begriffe kommen erst später.

Nun gibt es philosophische Richtungen, die zwar zugestehen möchten, daß durch Gedankenexperimente gewisse Startpunkte einer Untersuchung vorgegeben werden können, daß aber sobald ernsthafte Theorien im Spiel sind, Gedankenexperimente keine argumentative Bedeutung mehr haben. Mit Hilary Kornbliths Naturalismus bespreche ich in Kapitel 6.4.3 eine typische solche Position und entlarve seine Argumente gegen ein Verwendung von Gedankenexperimenten, die über das Bereitstellen von Anfangshypothesen hinausgeht, als auf einer schlechten Theorie von Gedankenexperimenten beruhend.

Hier dagegen will ich genauer ausführen, auf welche Arten ein Gedankenexperiment positiv ausgenutzt werden kann. Kapitel 2.3.1 hat bereits beschrieben, wie Gegenbeispiele zu Prüfsteinen künftiger Theorien werden können. Im folgenden diskutiere ich zunächst ein klassisches Beispiel für den Beginn einer philosophischen Diskussion, um dann auf eine ausgewählte Funktion einzugehen, die selbst dann gegeben sein kann, wenn sich ein Themengebiet in eine andere Disziplin verlagert. Daniel Cohnitz hat diese auf Carnap zurückgehende Funktion für die gedankenexperimentelle Debatte wieder hervorgegraben.

Er unterscheidet drei Funktionen von Gedankenexperimenten, von denen uns hier zwei interessieren, da sie beide Spezialfälle dessen sind, was wir die explorative Funktion von Gedankenexperimenten genannt haben. In der ersten dieser Funktionen sind Gedankenexperimente „prima facie gerechtfertigte Anfangshypothesen“.217 Betont wird hier vor allem der Startcharakter solcher Gedankenexperimente. Tatsächlich bieten einfache Szenarien einen guten Startpunkt für theoretische Überlegungen. Cohnitz verengt diese Funktion von Gedankenexperimenten jedoch völlig auf Kontexte empirischer Forschung.218 Zu einem bestimmten Zeitpunkt physikalischer Forschung, so die Idee, waren physikalische Intuitionen, was hier nur ein anderes Wort sein soll für möglichst theoriefreie Beurteilungen von Szenarien,

217 Cohnitz [GEiP] 322.

218 „Das Gedankenexperiment als Einsicht in Naturzusammenhänge“ Cohnitz [GEiP] 322.

eine gute Quelle, um zu plausiblen und wenn auch schwach gerechtfertigten Anfangshypothesen zu gelangen, mit denen empirische Forschung beginnen konnte.219 Dasselbe gilt selbstverständlich für andere Disziplinen wie z.B. die Psychologie. Allerdings verläßt die wissenschaftliche Entwicklung dieses Stadium irgendwann. Die Gedankenexperimente haben dann keinerlei Autorität mehr.

The intuitions articulated by philosophers, then, in so far as they are treated as initial hypotheses about the way the world really is, can guide empirical research, especially in those domains in which human beings have particular expertise. Indeed, it is probably impossible to start a science from scratch with hypotheses and assumptions that are entirely based on observation or experiment. One must begin with intuition and correct it with experiment. As sciences mature, however, they typically revise, alter, and sometimes entirely reject, these initial hypotheses. In Galileo’s day, it was permissible for physicists in defending one view or another to appeal to what we now call our “folk physical” intuitions about what would happen in various circumstances. In contemporary physics, such appeals would be ruled out.220

Der Übergang zwischen verschiedenen Disziplinen ist ein faszinierendes und weitläufiges Thema, das wir hier nicht behandeln können.221 Wir können aber festhalten, daß die Funktion von Gedankenexperimenten als Startpunkten der Forschung nicht auf interdisziplinäre Starthilfe beschränkt ist. Auch innerhalb philosophischer Arbeit können Gedankenexperimente den Einstieg in eine Thematik erlauben. Ein Blick auf Putnams Gedankenexperiment Katzen und Roboter verdeutlicht dies.

Mit Hilfe des Gedankenexperimentes möchte Putnam zeigen, so sein explizit formulierter Plan, daß manche Sätze, die wir als analytisch wahr ansehen, sich als falsch herausstellen können.222 Putnams Beispielsatz lautet “Alle Katzen sind Tiere.” Der Satz, so Putnam, ist analytisch wahr, könnte sich aber als falsch heraus stellen, da es sich erweisen könnte, daß Katzen Roboter sind.

Putnam gibt im Folgenden ein Szenario an, für das er behauptet, daß in ihm sich tatsächlich herausgestellt hat, daß Katzen Roboter sind. Sie ist also explizit als ein kontrafaktisches Gegenbeispiel angelegt.

Soweit die grobe Struktur des Gedankenexperimentes, wie Putnam sie angibt. Wir können aber präziser sein, was Putnams These und die Verwendung vorgestellter Szenarien angeht. Putnam

219 Eine solche Rolle für Gedankenexperimente in empirischen Wissenschaften sehen z.B. auch Mach, Kuhn und Sorensen vor.

220 Gopnik/Schwitzgebel [wCAt] 79. Und natürlich möchten Gopnik und Schwitzgebel nahelegen, daß die

psychologische Forschung in vielen Gebieten in den letzten Jahren das Stadium philosophischer Starthilfe verlassen hat.

221 Allerdings diskutiere ich in Kapitel 3.3.3 den Zusammenhang von Gedankenexperimenten, psychologischen Umfragen und sprachlichen Selbstbefragungen.

222 Putnam [iANs] 237.

spricht zwar von analytisch wahren Sätzen, die sich als falsch heraus stellen können, aber dies gilt nicht für alle analytisch wahren Sätze. So nennt Putnam Sätze der Art „Alle Katzen sind Tiere“

manchmal „analytisch“ und manchmal „quasi-analytisch“. Er möchte sie unterschieden wissen von Sätzen der Art „Alle Junggesellen sind unverheiratet“, also analytischen Sätzen, von denen er nicht glaubt, daß sie sich als falsch herausstellen könnten. Zweitens gibt Putnam nicht nur ein Szenario an, sondern gleich drei. Hier ist der vollständige Wortlaut der Passage:

There are, in fact, several possibilities. If some cats are animals in every sense of the word, while others are automata, then there is no problem. I think we would all agree that these others were neither animals nor cats but fake cats – very realistic and clever fakes to be sure, but fakes nonetheless. Suppose however that all cats on earth are automata. In that case the situation is more complex. We should ask the question, ‘Were there ever living cats?’ If, let us say, up to fifty years ago there were living cats and the Martians killed all of them and replaced them all overnight with robots that look exactly like cats and can’t be told from cats by present-day biologists (although, let us say, biologists will be able to detect the fake in fifty years more), then I think we should again say that the animals we all call cats are not in fact cats, and also not in fact animals, but robots. It is clear how we should talk in this case: ‘there were cats up to fifty years ago; there aren’t any longer. Because of a very exceptional combination of circumstances we did not discover the fact until this time’.

Suppose, however, that there never have been cats, i.e. genuine non-fake cats. Suppose evolution has produced many things that come close to the cat but that it never actually produced the cat, and that the cat as we know it is and always was an artefact. Every movement of a cat, every twitch of muscle, every meow, every flicker of an eyelid is thought out by a man in a control center on Mars and is then executed by the cat’s body as the result of signals that emanate not from the cat’s ‘brain’ but from a highly miniaturized radio receiver located, let us say, in the cat’s pineal gland. It seems to me in this last case, once we discovered the fake, we should continue to call these robots that we have mistaken for animals and that we have employed as house pets

‘cats’ but not ‘animals’. […]

My own feeling is that to say that cats turned out not to be animals is to keep the meaning of both words unchanged.223

Erst der dritte Fall ist das eigentliche Szenario. Die ersten beiden Szenarien dienen als vorgelagerte Erläuterungen dieses eigentlichen Falles. Die Beurteilung des dritten Szenarios soll uns durch die beiden vorgelagerten Fälle erleichtert werden.

Ein weiterer Umstand, den es zu bemerken gilt: Putnams These, die den drei Szenarien vorangestellt ist, lautet nicht „Der Satz ‚Alle Katzen sind Tiere’ ist notwendig“, sondern daß Sätze der Art „Katzen sind Tiere“ dazu tendieren weniger notwendig zu sein als Sätze der Art „Alle Junggesellen sind unverheiratet“. Sollen wir das Hauptszenario also auffassen als Gegenbeispiel zu dieser These? Nichts im Aufsatz deutet darauf hin, daß Putnam Notwendigkeit graduell auffassen möchte. Und der Titel des Aufsatzes lautet ‚It ain’t necessarily so’, nicht ‚It’s less necessarily so’. Mein Eindruck ist, daß Putnam wußte, daß er sich sozusagen in einer

223 Putnam [iANs] 238f.

alchemistischen Phase der philosophischen Forschung befand und daher bemüht vorsichtig formulierte. Das würde auch erklären, warum Putnam so gut wie keinen theoretischen Hintergrund zu seinem Gedankenexperiment angibt. Zum Zeitpunkt, als er ‚It ain’t necessarily so’ schreibt, ist Putnam noch nicht im Besitz seiner späteren Theorien. Ein Hinweis darauf ist auch, daß Putnam, der in späteren Aufsätzen verschiedene Arten Notwendigkeiten kennt, nicht klärt, um welche Art Notwendigkeit es ihm geht.

Hier haben wir eine typische philosophische Startsituation. Putnam inszeniert sein Gedankenexperiment zwar als Gegenbeispiel. Doch es hat noch eine zweite und m.E. wichtigere Funktion. Es erlaubt ihm, ohne eine ausgearbeitete Theorie zu besitzen, zu explorieren. Er glaubt, mit dem Katzen/Roboter-Szenario ein wichtiges Szenario erfaßt zu haben (für das klar ist, wie man es beurteilen sollte). Man kann sozusagen das Problem berühren, das sich hinter dem Szenario verbirgt, ohne es begrifflich im Griff zu haben. Es scheint mir, daß hierin der eigentliche philosophische Wert von Putnams Gedankenexperiment liegt und der Grund, weswegen der Aufsatz nach wie vor interessant zu lesen ist. Dieser forschende Charakter des Szenarios paßt sehr gut zu Putnams etwas ungenauen Formulierung der zu widerlegenden These, zur changierenden, zumindest unpräzise formulierten Fragestellung, zu Putnams Schweigen zur Frage der Verallgemeinerbarkeit des Szenarios und zur Abwesenheit einer die Ergebnisse erklärenden Theorie. Gedankenexperimente können auch innerphilosophische Startpunkte von theoretischen Betrachtungen sein.

Der zweite Spezialfall, den Cohnitz vorführt, unterteilt sich in eine interne und eine externe Rolle von Gedankenexperimenten für Begriffsexplikationen. In der internen Rolle dienen Gedankenexperimente z.B. dazu, interne Widersprüche einer Theorie aufzudecken. Diese Rolle interessiert uns hier nicht, da wir konstruktive Funktionen von Gedankenexperimenten vor Augen haben. Die externe Rolle ist die eines „Adäquatheitskontextes“. Darunter versteht Cohnitz Folgendes:

Wenn Begriffe der Alltagssprache in Theorien genauer gefaßt werden sollen als sie in der Alltagssprache sind, so ist eine der Bedingungen eines solchen Projektes, daß die neue Bedeutung angemessen nah an der alten sein muß. Was „angemessen nah“ heißen soll, legt man über Adäquatheitskontexte fest, eine Idee, die Cohnitz von Carnap borgt:

Zur wechselseitigen Verständigung über das Explicandum werden also Fälle genannt, in denen man das Explicatum benutzen will, und Fälle, auf die es nicht zutreffen soll. Man gibt also Kontexte an, in denen der fragliche Ausdruck in einer wahren Beschreibung vorkommt, sowie Fälle, in denen der Ausdruck nicht Bestandteil einer wahren Beschreibung sein darf. Die Aufgabe

der Explikation ist es dann, ein Explicatum zu finden, das die Wahrheitswerte dieser Beschreibungen unverändert lässt, wenn man in ihnen das Explicandum durch das Explicatum ersetzt.224

Solche Adäquatheitskontexte, so Cohnitz, können durch Gedankenexperimente gegeben werden:

Definition 9.1-1 (Adäquatheitskontext): Ein Gedankenexperiment G (im Sinne von Γ2, Kap.

3.2.5) [gemeint sind das Szenario und seine Beurteilung, T.K.] ist ein Adäquatheitskontext für die Explikation eines Explicandum-Ausdrucks B aus G gdw. jede adäquate Explikation E von B den Wahrheitswert aller Aussagen in G erhält, wenn E in G für B ersetzt wird.225

Die Funktion von Gettierfällen für moderne Theorien des Wissens ist ein exzellentes Beispiel.

Sowohl Adäquatheitskontext wie auch Anfangshypothese sind Spezialfälle unserer explorativen Funktion von Gedankenexperimenten. Ich mache drei Anmerkungen.

Erstens ist Cohnitz Unterscheidung nicht vollständig; auch dann nicht, wenn man die dritte Funktion hinzunimmt, in der beurteilte Szenarien als Daten für psychologische Untersuchungen dienen. Auf eine Lücke habe ich oben schon verwiesen: Es gibt Gedankenexperimente, die keine Einsicht in Naturzusammenhänge versprechen, aber dennoch als Startpunkt theoretischer Beschäftigung mit einem Thema dienen können. Eine zweite Lücke entsteht, weil Cohnitz Definition ganz auf die Erforschung begrifflicher Zusammenhänge spezialisiert ist. Aber man denke z.B. an die Straßenbahnfälle aus Kapitel 1.1.2.2, die nicht im Zusammenhang mit Begriffsexplikationen stehen.226 Schließlich sollte man zur Kenntnis nehmen, daß Adäquatheitskontexte lediglich ein Spezialfall dessen sind, was ich einen ‚Prüfstein künftiger Theorien’ genannt habe.

Zweitens muß eine Beurteilung eines Szenarios nicht allgemein akzeptiert sein, damit ein Gedankenexperiment als Startpunkt philosophischer Theoriebildung dienen kann. Cohnitz erwähnt lediglich die Möglichkeit, den Adäquatheitskontext fortzuerklären, also die Beurteilung nicht zu bestreiten, aber das Szenario aufgrund welcher Überlegungen auch immer als irrelevant auszuzeichnen. Doch wie wir in 2.3.1 gesehen haben, ist es möglich, ein Szenario als Startpunkt philosophischer Theoriebildung zu benutzen, obwohl keine Einigkeit über seine Beurteilung herrscht. Daß um die Autorität der ersten Person besorgte Philosophen wie Davidson auf der einen Seite und narrow-content-Begeisterte auf der anderen Seite das Arthritis-Szenario anders beurteilen als Antiindividualisten wie Burge, hält letztere nicht davon ab, dieses und ähnliche Szenarien als Startpunkt der Theoriebildung zu nehmen.

224 Cohnitz [GEiP] 329.

225 Cohnitz [GEiP] 329.

226 Cohnitz gesteht zu, daß es hier „ähnliche Rollen“ geben mag (Cohnitz [GEiP] 330).

Drittens überakzentuiert Cohnitz den Unterschied zwischen Starthypothesen und Adäquatheitskontexten. So verschieden die beiden Funktionen auch sein mögen, sollte man doch nicht vergessen, daß in dem Moment, in dem ein Szenario zuerst als Startpunkt philosophischer Forschung benutzt wird, vielleicht gar nicht abzusehen ist, ob es sich einmal als eine Starthypothese herausstellen wird, deren Wert mit der Zeit abnimmt und endlich ganz schwindet oder ob es sich zu einem Prüfstein künftiger Theorien entwickeln wird.

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