• Keine Ergebnisse gefunden

Vier Argumente gegen die Argumentthese

1.2 Klassische Analysen der Struktur von Gedankenexperimenten

1.2.1 Gedankenexperimente, verstanden als Argumente

1.2.1.3 Vier Argumente gegen die Argumentthese

Eine Reihe von Autoren betont, daß Gedankenexperimente keine Argumente sein können. Ich nenne vier Argumente. Wenn man wie Bishop der Ansicht ist, daß allein ein Szenario oder nur

ein Szenario mit einer Beurteilung ein Gedankenexperiment ausmachen, so ist klar, daß Gedankenexperimente unter dieser Lesart keine Argumente sind. Bishops Ansichten haben wir bereits in Kapitel 1.1.1.2 abgelehnt. Seine Gründe ruhen aber ganz auf einer von vielen Verwendungen des Wortes „Gedankenexperiment“. Im Sinne unserer liberalen Handhabung verschiedener Verwendungen des Wortes „Gedankenexperiment in Kapitel 1.1.1.2 können wir hier sagen, daß Gedankenexperimente in manchen Verwendungen des Wortes als Argumente analysiert werden können, in anderen nicht.

Derselbe Punkt trifft die zweite Kritik. Häggqvist selbst versteht die Rede von Gedankenexperimenten, die Argumente sind, nur als bequeme Abkürzung.

My view is that thought experiments are not arguments. They are not more arguments than ordinary experiments are arguments. Neither experiments nor thought experiments are composed of linguistic or other truth-valued entities; neither can have the properties that arguments can have (e.g. validity). Both are (types of) processes, events or procedures.

However, both experiments and thought experiments work only through their connection with arguments. For only arguments can matter when the truth-value of a scientific or philosophical theory or hypothesis is to be assessed.[...]

The connection between experiments and arguments is that the former supply arguments for the latter. [...] In the case of thought experiments, it is done by causing thought experimenters – whether inventors or audience – to hold relevant non-observational statements true (or false), where the causes are the actual psychological goings-on in the thought experimenters’ heads.78 Häggqvist unterscheidet also das Gedankenexperiment – darunter versteht er die psychischen Vorgänge, die ablaufen, wenn jemand ein Gedankenexperiment vollzieht – von den Argumenten, die mit Gedankenexperimenten einhergehen. Nun kann ich sofort zugestehen, daß das Wort

‚Gedankenexperiment’ auch in dieser Hinsicht nicht einheitlich verwandt wird. Je nach Theorie tritt eher der propositionale Charakter des Gedankenexperimentes in den Vordergrund oder die psychischen Akte, welche die Durchführung des Gedankenexperimentes darstellen. So habe ich z.B. vom Vorstellen eines Szenarios gesprochen und von seiner Beurteilung.

Aber dieselbe Akt/Inhalt-Ambiguität findet sich genauso bei Argumenten. Auch Prämissen werden gegeben und Schlüsse gezogen. Was im Fall von Experimenten eine gewisse Plausibilität hat, wird für Gedankenexperimente aber zu einem ganz oberflächlichen Punkt. Für jedes Argument gilt, daß es von Personen gegeben oder nachvollzogen wird und daß (unter anderem) psychische Vorgänge unser Für-wahr-halten der Prämissen verursachen. Aber daraus folgt nicht, daß Argumente keine Argumente sind. Gedankenexperimente sind Argumente.

78 Häggqvist [TEiP] 86f.

Verena Mayer wendet sich aus ganz anderen Gründen gegen eine Analyse von Gedankenexperimenten als deduktive Argumente. Diese, so Mayer, verberge den Interpretationsschritt. Als Beispiel dient ihr folgende argumentative Rekonstruktion eines Gettier-Gedankenexperimentes:

Wenn Wissen wahre gerechtfertigte Überzeugung ist, dann sollten wir auch dann von Wissen sprechen, wenn die Überzeugung einer Person nur zufällig wahr ist. Die ist nicht der Fall, wie das Beispiel X zeigt, also ist eine wahre gerechtfertigte Überzeugung keine hinreichende Bedingung für Wissen.79

Die Rekonstruktion als Argument macht nur dann Sinn, so Mayer, wenn wir die Konklusion mit zum Gedankenexperiment rechnen. Aber sie erfordert gerade Interpretation, die wir deutlich vom Ergebnis des Gedankenexperimentes unterscheiden sollten! Mayer geht es vor allem um den Übergang von der Frage, „was X (z.B. Wissen) ist, zu der Frage, unter welchen Umständen wir (wer genau?) von X sprechen würden“.80 Dieser Übergang ist aber erst einmal unberechtigt, so Mayer. Gedankenexperimente sagen lediglich etwas über unseren Sprachgebrauch aus:

lassen wir Schlußfolgerungen aus der unmittelbaren „Beobachtung“ beiseite, dann können Gedankenexperimente wohl testen, ob Begriffe unter konkreten Bedingungen konsistent bleiben oder mit alltäglichen oder wissenschaftlichen Verwendungsbedingungen übereinstimmen. Alle weiteren Schlußfolgerungen auf die Tatsachen sind jedoch durch Hintergrundtheorien und Zusatzannahmen geprägt und dürfen nicht als Nettoergebnis des Experimentes dargestellt werden.81

Es ist völlig korrekt, daß auch in der Anwendung vorgestellter Szenarien implizit theoretische Annahmen gemacht werden. Wir können diesen zusätzlichen Schritt einfangen, indem wir auf die Besonderheiten der Ausnutzung beurteilter Szenarien achten. Unsere Überlegungen in Kapitel 3 werden auf Mayers Idee Rücksicht nehmen müssen, daß Gedankenexperimente sehr verschiedene Dinge zeigen und daß aus Gedankenexperimenten sehr verschiedene Konsequenzen gezogen werden müssen.82

Durch den Vergleich mit Experimenten glaubt Mayer aber auch behaupten zu müssen, daß nur das beurteilte Szenario das Gedankenexperiment ist, alles nachfolgende aber nicht mehr. Diese strikte Unterteilung halte ich, wie gesagt, nicht für plausibel. Mayers Warnung können wir beherzigen, ohne darauf verzichten zu müssen, Gedankenexperimente als Argumente zu analysieren.

79 Mayer [wZG] 365.

80 Mayer [wZG] 366.

81 Mayer [wZG] 375f.

82 Mayer [wZG] 359.

David Gooding warnt zu verschiedenen Gelegenheiten davor, die Rekonstruktion eines Gedankenexperimentes mit dem Gedankenexperiment selbst zu verwechseln.83 Goodings Ansicht nach kann jede Theorie von Gedankenexperimenten höchstens eine Rekonstruktion produzieren.84 So kritisiert Gooding z.B. an Sorensens Ansatz, daß Sorensen ob seiner Faszination für logische Form völlig aus dem Blick verliert, daß er so lediglich die Aufbereitung von Wissenschaft in Textbüchern untersucht, nicht aber die wissenschaftliche Praxis.85 Seine Warnung ist für philosophische Gedankenexperimente nur eingeschränkt einschlägig, da deren Textbuchversionen in den allermeisten Fällen gerade die originalen Gedankenexperimente sind.

Obwohl Goodings Einwand insofern also an der philosophischen Praxis vorbeizielt, ist seine Warnung vor Rekonstruktionen mittels Sorensens oder Häggqvists logischen Formen bedenkenswert. Ich habe gegen Ende von Kapitel 1.2.1.2 drei charakteristische Schwächen der Formalisierung von Gedankenexperimenten genannt, die gewissermaßen eine konkrete Ausformulierung von Goodings abstraktem Verweis darstellen, die Praxis des Gedankenexperimentes nicht aus den Augen zu verlieren.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE