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Begriffliche Möglichkeit und physikalische Möglichkeit

Fremde Szenarien, Beurteilbarkeit und Relevanz

4.2 Begriffliche Möglichkeit ohne naturwissenschaftliche Möglichkeit?

4.2.2 Begriffliche Möglichkeit und physikalische Möglichkeit

Kommen wir zum Zusammenhang von begrifflicher und physikalischer Möglichkeit. Shoemaker verteidigt die Verwendung physikalisch unmöglicher Situationen so:

To the best of my knowledge, it follows from well-established principles of physics that our universe is a perpetually changing one. But what is in question here is not whether it is physically possible for there to be time without change but whether this is logically or conceptually possible.

Accordingly, I shall allow myself in what follows to consider ‚possible worlds‘ in which the physical laws differ drastically from those of which obtain in the actual world. It may be objected that scientific progress brings conceptual change and that within modern physical theory it is not possible to make any sharp distinction between those propositions about time which express logical, or conceptual, claims and those which purport to express synthetic truths of physics. But I think that it is fair to say that those philosophers who have claimed that time involves change have not generally rested their case on recent developments in physics, e.g. relativity theory, and have thought that this claim holds for our ordinary, pre-scientific, concept of time as well as for the more sophisticated conceptions provided by the physicist.

And in dealing with such a view it seems to me legitimate to consider possible worlds in which quite different physical theories would be called for. If someone wishes to maintain that the occupants of such a world would necessarily have a different concept of time than that which the physicists tell us is applicable to our world, I have no objection to make–as long as it is granted that their concept would have enough in common with our notion of time to make it legitimate to regard it as a concept of time.

Es geht Shoemaker explizit um begriffliche Möglichkeit, nicht physikalische. Und er ist offenbar der Überzeugung, daß sich die Frage, ob es begrifflich möglich ist, daß es Zeit ohne Veränderung gibt, unabhängig von der Frage beantworten läßt, ob es physikalisch möglich ist, daß es Zeit ohne Veränderung gibt. Physikalische Möglichkeit, so die Idee, ist ganz irrelevant für die Frage nach begrifflicher Möglichkeit. Aber diese Idee ist falsch.

336 Vgl. Sorensen [TE] 283f. und Cohnitz [GiP] 163 und meine Diskussion ihrer Ansätze in Kapitel 3.2.1.

Wenn wir uns fragen, welchen Begriff von Zeit wir haben sollten, was begrifflich zu Zeit gehört, so sind wir gut beraten, uns an der Physik zu orientieren. Wenn wir uns fragen, ob es zum Begriff des Stuhls gehört, daß er Beine hat, so werden wir diese Frage typischerweise zu beantworten suchen, indem wir die Frage beantworten, ob alle Stühle Beine haben.337 Und zur Beantwortung dieser Frage werden wir uns möglicherweise auf Experten verlassen. Genau dasselbe gilt für den Fall des Zeitbegriffs. Wenn wir uns fragen, ob es zum Begriff der Zeit gehört, daß es keine Zeit ohne Veränderung gibt, so sollten wir diese Frage beantworten, indem wir die Frage beantworten, ob es Zeit ohne Veränderung gibt. Und wir sollten uns auf die Experten in dieser Frage verlassen, die Physiker!

Vielleicht läßt sich Shoemakers Fehler leichter erkennen, wenn man zwei Redeweisen auseinander hält. Shoemaker redet so, als gäbe es zwei Zeitbegriffe, einen vorwissenschaftlichen und einen physikalischen. Und er tut weiterhin so, als könne man den vorwissenschaftlichen Zeitbegriff untersuchen, ohne den physikalischen Zeitbegriff zu untersuchen. Es kann in bestimmten Kontexten sinnvoll sein, so zu reden. Wir können verschiedene Zeitbegriffe unterscheiden, einen Newtonschen Zeitbegriff, einen Aristotelischen, etc. Manche von diesen mögen übereinstimmen, andere nicht, und wir können die Verhältnisse zwischen verschiedenen Zeitbegriffen untersuchen. Wenn man so redet, dann ist die Frage, ob es gemäß des Newtonschen Zeitbegriffs möglich ist, daß es Zeit ohne Veränderung gibt, tatsächlich unabhängig von der Frage, ob es gemäß des aktuellen physikalischen Zeitbegriffs Zeit ohne Veränderung gibt.

Aber das ist nicht die Frage, die Shoemaker beantworten möchte. Er redet nämlich gleichzeitig so, als wolle er wissen, ob es Zeit ohne Veränderung geben kann. Nicht aristotelische Zeit oder Zeit in einem verwaschenen Alltagsverständnis. Seine Frage zielt darauf, wie wir den Begriff der Zeit fassen sollten. Und bezüglich dieser Frage sollten wir nicht zwischen verschiedenen Zeitbegriffen unterscheiden. Wenn ich lese, daß es Physikern gelungen ist, ein Teilchen in der Zeit reisen zu lassen, dann ist meine Reaktion nicht: „Relativ zum Zeitbegriff der Physiker ist es ihnen gelungen, ein Teilchen in der Zeit reisen zu lassen.“ Vielmehr habe ich etwas über Zeit (und in bestimmten Fällen über den Begriff der Zeit) gelernt. Für diese Art Frage ist es nun ganz unplausibel zu glauben, man dürfe die Erkenntnisse der Wissenschaft ignorieren. Fragen bezüglich wissenschaftlicher Begriffe sollten sich am Stand der Wissenschaften orientieren, die für die Beantwortung der Frage zuständig sind, wie es sich verhält.

337 „Questions of meaning are pursued by attempting to arrive at factually correct characterizations of empirically accessible entities, the examples.“ Burge [INFM] 705.

Shoemaker könnte einwenden, daß doch begriffliche Fragen und die Frage danach, was der Fall ist, auseinanderfallen können. Begriffe können verbessert werden, begriffliche Aussagen angezweifelt, etc. Wir können uns fragen, ob unsere bislang besten physikalischen Theorien falsch sind.338 Das ist völlig korrekt, und es zeigt, daß es in manchen Kontexten sinnvoll sein kann, zu explorieren, ob es einen Zeitbegriff geben kann, der vom Zeitbegriff der Physik abweicht – aber z.B. bestimmte Probleme lösen kann, denen die Physik bislang hilflos gegenübersteht. Aber wiederum gilt: Das ist nicht Shoemakers Projekt! Er will nicht die Physik weiterentwickeln, sondern möchte eine Frage beantworten, die von der Physik ganz unabhängig sein soll, aber es nicht ist, ob es nämlich Zeit ohne Veränderung geben kann.

All das bedeutet, daß wir Shoemakers Szenario gegenüber mißtrauisch sein sollten.339 Die physikalisch unmöglichen Situationen, die er anführt, sind ungeeignet, um zu erfahren, ob es Zeit ohne Veränderung geben kann. Sie sind nicht relevant für diese Frage.

Unabhängig von Shoemakers Zielen müssen wir uns aber fragen, ob die Möglichkeit, unsere besten Theorien in Zweifel zu ziehen, nicht die grundsätzliche Unabhängigkeit der begrifflichen von der physikalischen Möglichkeit begründet. Ich denke, daß dem nicht so ist. Wenn wir unsere besten Theorien anzweifeln, zweifeln wir auch an unseren Begriffen. Aber wir sollten bemüht sein, diese angestrebte Veränderung unserer Begriffe (und damit dessen, was wir für begrifflich möglich halten) zu trennen von der Frage, was begrifflich möglich ist. Es mag sein, daß wir die zweite Frage nicht beantworten können, weil wir gerade mit dem ersten Projekt beschäftigt sind.

Das ist jedoch kein Grund, die beiden für dasselbe Projekt zu halten.

Im Hintergund dieses Kapitels stand die Relevanzforderung, daß Szenarien, anhand derer wir etwas über unsere Begriffe lernen wollen, naturwissenschaftlich möglich sein müssen. Diese Forderung ist sicherlich falsch. Begriffliche Möglichkeit impliziert nicht naturwissenschaftliche Möglichkeit. Zur Diskussion stand die Frage, ob es nicht trotzdem Fälle gibt, in denen begriffliche Möglichkeiten nicht unabhängig von physikalischen Möglichkeiten diskutiert werden sollten. Diesen Zusammenhang habe ich für den Zeitbegriff stark gemacht. Wie Shoemaker zu fragen, ob es Zeit ohne Veränderung geben kann, ohne sich am physikalischen Zeitbegriff zu orientieren, ist kein gelungenes Vorgehen. Das schließt natürlich nicht aus, daß auch der Zeitbegriff über unseren momentanen Wissensstand hinaus veränderbar ist.

338 Vgl. Burge [INFM] 705.

339 Genauer gesagt der Kombination aus seiner Fragestellung und seinem Szenario.

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