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Fremde Szenarien, Beurteilbarkeit und Relevanz

4.3 Sonderfall und Regel

4.3.5 Der additive Fehlschluß

Beschließen wir das Kapitel über Sonderfälle und Regeln, indem wir einen verwandten Fehler in Gedankenexperimenten thematisieren, der für explorative Gedankenexperimente typisch ist. Die Idee hinter dieser Kritik an Gedankenexperimenten ist ebenfalls, daß sich am Einzelfall nicht direkt ablesen läßt, wie die passende Regel aussehen muß. Dies gilt zunächst in einem ganz offensichtlichen Sinne. Auf einen Einzelfall passen –auch bei einer Reihe anderer Randbedingungen– meist viele Regeln. Dementsprechend enthalten theoriebildende Gedankenexperimente typischerweise viele Szenarien, Anleitungen zur Variation eines Szenarios oder werden von Argumenten begleitet, die das Szenario als zentralen Fall ausweisen sollen.

Ein Spezialfall dieses Problems der Bedeutung von Einzelfällen für Theoriebildung ist der sogenannte additive Fehlschluß. Oft werden in Gedankenexperimenten zwei Szenarien verglichen, die sich (vorgeblich) nur in einem Detail unterscheiden. Fällt die z.B. moralische Beurteilung dieser Fälle verschieden aus, so scheint gesichert, daß das Detail den Unterschied ausmachen muß und also moralisch relevant ist. Fällt die moralische Beurteilung identisch aus, so ist das Detail nicht moralisch relevant. Doch der Anschein kann täuschen, wie man an folgendem Quadrupel von Szenarien erkennen kann, die von Shelly Kagan angeführt werden:

a) Gertrude pushes Bertrand into a deep pit, hoping that the fall will kill him so that she will inherit the family fortune;

b) Seeing that Bertrand is about to fall into a deep pit, Gertrude deliberately refrains from warning him, hoping that the fall will kill him so that she will inherit the family fortune.362

Wäre die Unterscheidung zwischen Tun und Zulassen moralisch relevant, so sollten sich die Beurteilungen der beiden Fälle unterscheiden. Aber Gertrudes Verhalten im Fall b) ist genauso falsch wie ihr Verhalten in a). Also, so der Fehlschluß, ist die Unterscheidung zwischen Tun und Zulassen grundsätzlich moralisch nicht relevant. Daß es sich um einen Fehlschluß handelt, kann man anhand zweier weiterer Szenarien erkennen.

c) Ludwig sees Sylvia drowning, but since the rocks beneath the water would do extensive damage to his boat, he decides not to rescue her;

d) Ludwig sees that his boat is about to hit Sylvia, but since avoiding her would mean steering into the rocks which would do extensive damage to his boat, he decides not to change course.363 Ludwigs Verhalten in c) ist falsch, sein Verhalten in d) ist aber noch schlimmer – so zumindest Kagans Beurteilung der Szenarien.364 Der einzige Unterschied zwischen den Fällen soll wiederum

362 Kagan [AF] 7.

363 Kagan [AF] 7.

der Unterschied zwischen Tun und Zulassen sein. Da die Szenarien moralisch unterschiedlich beurteilt werden, muß, so der Schluß, der Unterschied grundsätzlich moralisch relevant sein. Nun haben wir mit demselben Verfahren inkompatible Ergebnisse erzielt. Offenbar stimmt etwas nicht mit dem Schlußverfahren.

Die Moral dieses Beispiels ist schlicht und eindringlich: Vorsicht mit Verallgemeinerungen! Ein einzelnes Szenario kann sehr irreführend sein, wenn es darum geht, eine geeignete Ausgangsbasis zur Theoriebildung zu erhalten. Herauszufinden, welche Aspekte des Szenarios verallgemeinerbar sind und welche als irrelevante Details keinen Eingang in die Theoriebildung finden sollten, ist unter Umständen eine schwierige Aufgabe, zu der man verschiedene Szenarien abwägen muß, sich immer wieder korrigiert und neue Thesen testet.365

Gendler berührt im Übrigen in ihren Überlegungen eine Richtung des additiven Fehlschlusses, die sie Methode der Übereinstimmung nennt. Man betrachte folgendes Gedankenexperiment, das Gendler zu Demonstrationszwecken anführt:

To the extent that respect is an attitude constrained by rationality, it is surely rational to treat a living human body with respect; even in cases where our actions will not cause pain to another, we bear certain obligations towards living human bodies that preclude our treating them with wanton disregard. It is also rational, to the extent that respect is an attitude constrained by rationality, to treat a human body–even if it is non-living–with respect; again, we bear certain obligations that preclude our treating them with wanton disregard. But the living human body has a feature that the non-living human body lacks, namely, being alive. So the Method of Agreement suggests the following analysis of this case: Since whenever there is something that is a human body that is living (X + Y), it is rational to treat that thing with respect (Z), and whenever there is something that is a (mere) human body (X), it is also rational to treat that thing with respect (Z), then what explains the rationality of respect in both cases (X and X + Y) must be the simple fact that the entity is a human body (X).366

Aber, so Gendler, wir können am Fall des toten Körpers nicht ablesen, was die entscheidende Eigenschaft ist, damit jemand unseren Respekt verdient. Es zeigt sich, daß es kein zweites Paar von Szenarien braucht, um den additiven Fehlschluß nachzuweisen. Allerdings versucht Gendler

364 Ich selbst finde seine Beurteilung nicht ohne weiteres überzeugend. Aber es handelt sich schließlich nur um ein illustrierendes Beispiel, zu dem sich leicht Alternativen finden lassen.

365 Das bedeutet übrigens nicht, daß es automatisch ein Problem mit der Universalisierbarkeit moralischer Urteile gäbe. Universalisierbarkeit bedeutet nur, daß wenn Handlung h richtig ist, auch jede Handlung richtig ist, die h in moralisch relevanter Hinsicht gleicht. (Und über die Supervenienz von moralischen über nichtmoralischen Eigenschaften bekommt man außerdem ein zweites Unversalisierbarkeitsprinzip, daß wenn Handlung h richtig ist, auch jede Handlung richtig ist, die h in allen nicht-moralischen Eigenschaften gleicht.) Dieses Prinzip wird hier nicht in Frage gestellt. Es wird vielmehr ein Verfahren problematisiert, moralisch relevante Eigenschaften zu finden, daß unter der Hand auf eine viel stärkere These zurückgreift, daß wenn Handlung h richtig ist, auch jede Handlung richtig ist, die diejenigen nicht-moralischen Eigenschaften besitzt, aufgrund derer h richtig ist. Vgl. Schroth [UP].

366 Gendler [TE] 138. Gendlers Method of Agreement ist eine Variante einer Idee von Mill „If two or more instances of the phenomenon under investigation have only one circumstance in common, the circumstance in which alone all the instances agree, is the cause (or effect) of the given phenomenon.“ Mill, zitiert nach Gendler [TE] 136.

den Fall zusätzlich zu interpretieren. Die Methode der Übereinstimmung drehe auch die Erklärungsrichtung unzulässig um:

what makes it rational to treat a non-living human body with respect is that it is rational to treat a living human body with respect367

Es sei dahingestellt, ob diese Diagnose für das Beispiel plausibel ist. Sicherlich aber ist sie nicht ohne weiteres verallgemeinerbar.

4.4 Wo stehen wir?

Wir haben in Teil 2 verschiedene Ausprägungen zweier Kritiken an Gedankenexperimenten untersucht. Zum einen Kritiken, welche die Beurteilbarkeit des Szenarios in Zweifel ziehen und zum anderen Kritiken, welche sich gegen die Relevanz des Szenarios richten. Der Großteil dieser Kritiken ist klassischerweise benutzt worden, um Gedankenexperimente mit besonders fremden Szenarien als grundsätzlich fehlerhaft auszuzeichnen. Es hat sich herausgestellt, daß diese These so aber nicht begründbar ist.

Die behandelten Kritiken sind damit aber nicht nutzlos. Im Gegenteil enthalten sie oft wichtige Qualitätsstandards für Gedankenexperimente, die man aber erst schätzen lernt, wenn sie vom nicht erfüllbaren Anspruch befreit werden, Gedankenexperimente mit einer bestimmten Art Szenario per se als fehlerhaft auszuzeichnen. Szenarien sind, um unser erstes Beispiel wieder aufzugreifen, oft mangelhaft beschrieben, was nur deswegen nicht auffällt, weil die philosophischen Kontrahenten ein Szenario unter der Hand zu ihren Gunsten auslegen.

Die meisten Kritiken haben die interessante Eigenschaft aufgewiesen, daß es sehr schwierig sein kann, zu beurteilen, ob sie auf ein Gedankenexperiment zutreffen oder nicht. Es zeichnet die philosophisch schwierigen Fälle gerade aus, daß Gedankenexperiment, Kritik und Kritik an der Kritik gleichermaßen umstritten sind. Die Hoffnung, solch komplexen philosophischen Schwierigkeiten durch simple metaphilosophische Tests zu entkommen, ist ganz und gar unbegründet, wie ich an einigen Beispielen vorgeführt habe. Die Tests sind wiederum ein argumentativer Schritt, der überzeugend sein kann – doch wie jeder argumentative Schritt können auch diese Tests problematisiert werden. Dieser Befund stärkt unsere Auffassung von Gedankenexperimenten als eines Schritts im philosophischen Prozeß, zu dessen vollem Verständnis ein Verständnis seines Kontextes gehört. Der Versuch, Fehler in einem

367 Gendler [TE] 138.

Gedankenexperiment nachzuweisen, von denen wir hier einige besprochen haben, ist ein Teil dieses Kontextes.

TEIL III

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