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2 Drei Elemente von Gedankenexperimenten

2.2 Die Beurteilung vorgestellter Szenarien

2.2.3 Arten der Beurteilung

Es wird nun Zeit, die schon mehrfach erwähnte Unterscheidung verschiedener Arten von Beurteilungen einzuführen. Diese Unterscheidung bringt gleichzeitig unsere Taxonomie aus Kapitel 1 zum Abschluß. Dort hatten wir zwischen verschiedenen Funktionen von Gedankenexperimenten unterschieden, die in den einfachen Fällen zusammenfielen mit verschiedenen Ausnutzungen des beurteilten Szenarios. In Kapitel 3.1 haben wir verschiedene Weisen des Vorstellens unterschieden, also eine Unterscheidung in Hinblick auf den ersten Schritt von Gedankenexperimenten unternommen. Nun geht es also um verschiedene Ausprägungen des zweiten Schrittes.

Ich behandele zwei Unterscheidungen von Beurteilungen. Erstens sind Beurteilungen verschieden tief durchdacht oder begründet. Zweitens können wir Urteile nach der Fragestellung unterscheiden, die sie beantworten sollen. Diese Unterscheidungen bzw. ihre Ablehnung sollen sich dann in Teil III der Arbeit auszahlen, indem wir mit ihrer Hilfe verschiedene Theorien in ihre Schranken verweisen können.

2.2.3.1 Spontane Reaktion oder gründliches Urteil?

Durch die metaphilosophische Debatte um Gedankenexperimente zieht sich eine auffällige Unschärfe. Beurteilungen von Szenarien werden manchmal verstanden als spontane Reaktionen auf die präsentierten Szenarien und manchmal als deduktive Ableitungen aus vorher klar definierten Prämissen. Wo ein Ansatz auf einer Skala mit diesen beiden Endpunkten einzuordnen ist, bleibt meist völlig implizit. Wer von Intuitionen redet oder gar wie Brown von rationalen Einsichten ist meist eher an spontanen Reaktionen orientiert.

210 In Kapitel 6 disambiguiere ich den ersten dieser Arbeitsaufträge. In der dort einschlägigen Lesart geht es uns bei der Rechtfertigung gerade darum, Gründe angeben zu können, wenn eine Meinung in Zweifel gezogen wird.

Insofern fallen in Kapitel 6 die ersten beiden Arbeitsaufträge zusammen.

Ich behaupte nun, daß diese Differenzen nicht allein als Streit um die korrekte theoretische Erfassung desselben Phänomens betrachtet werden sollten. Vielmehr gibt es tatsächlich verschiedene Arten von Beurteilungen. Manchmal reagieren wir nur spontan auf ein Szenario, manchmal denken wir sehr lange über ein Szenario nach, wägen Faktoren ab und bringen mehr und mehr elaborierte Überlegungen ins Spiel. Dieser Unterschied kann sich in unterschiedlich präzisen Begründungen manifestieren. Manchmal haben wir zur Begründung unserer Beurteilung so gut wie nichts in der Hand als den Hinweis, daß es uns offensichtlich erscheint, daß es sich so und so verhalten muß. Und manchmal geben wir explizite und ausgefeilte Argumente für unsere Beurteilungen.211

Aber wir können mittels dieser Skalen Gedankenexperimente nicht klassifizieren. Vielmehr ist es möglich, einunddasselbe Szenario verschieden ausführlich zu beurteilen. Um in ein Thema einzusteigen, mag es genügen, eine spontane Reaktion zu zeigen. Je mehr Einwände, theoretische Randbedingungen und überhaupt fortschreitende Diskussion auf den Tisch kommen, desto elaborierter muß eine Beurteilung unter Umständen ausfallen.

2.2.3.2 Begriffliche, moralische, kausale und andere Beurteilungen

Wir können verschiedene Typen von Beurteilungen unterscheiden, indem wir die Fragen sortieren, gemäß derer das Szenario beurteilt werden soll.212 Gendler z.B. schlägt vor, folgende drei Arten von Fragen auseinander zu halten, gemäß derer Szenarien beurteilt werden können:

(1) What would happen?

(2) How, given (1), should we describe what would happen?

(3) How, given (2), should we evaluate what would happen?213

Diesen Fragen entsprechen drei Arten von Gedankenexperimenten, nämlich „faktische“,

„begriffliche“ und „bewertende“ („valuational“).214 Aber ist diese Einteilung plausibel? Sehen wir

211 Vgl. Kapitel 2.1.1, wo ich Gendlers Angaben zur Struktur von Gedankenexperimenten kritisiert habe, weil dort vorausgesetzt wurde, daß wir je Argumente für unsere Beurteilungen angeben, und Kapitel 2.3.2.1, wo ich ebenfalls Gendler für ihre an ganz anderer Stelle geäußerte Idee kritisiert habe, daß wir in Gedankenexperimenten unsere eigenen Reaktionen auf ein Szenario beobachten.

212 Ich ziele allerdings nicht darauf, eine richtige Typologie von Beurteilungen zu geben.

213 Gendler [TE] 25.

214 Gendler überlagert diese Unterscheidung mit zwei weiteren Unterscheidungen. Zum einen mit einer

Unterscheidung zwischen Gedankenexperimenten in der Physik, solchen in Metaphysik und Erkenntnistheorie und solchen in Ethik und Ästhetik. Zum anderen unterscheidet Gendler metaphilosophische Probleme, die sich aus physikalischen Gedankenexperimenten ergeben von solchen, die sich anhand von philosophischen

Gedankenexperimenten stellen.

uns zunächst Frage (1) an, die leider mehrdeutig ist. Gendler denkt bei Gedankenexperimenten, in denen diese Frage eine Rolle spielt, an physikalische Gedankenexperimente. Das könnte einen auf die Idee bringen, daß eine Frage nach kausalen Zusammenhängen gemeint ist:

(1’) Wenn Szenario S der Fall wäre, was würde (als nächstes) geschehen?

Gendler gibt allerdings eine alternative Beschreibung der Unterscheidung, die eine ganz andere Interpretation nahe legt. Sie spricht nämlich auch von

this distinction among what is, what is said to be, and what ought to be.215

Das legt nahe, daß mit (1) nicht speziell nach kausalen Zusammenhängen gefragt wird, sondern allgemeiner nach irgendwelchen Sachverhalten, die bestehen, wenn das Szenario der Fall ist:

(1’’) Wenn Szenario S der Fall wäre, wäre dann auch p der Fall?

Die Frage (1’) ist lediglich ein Spezialfall der Frage (1’’). Beide Fragen sind jedoch als Bestandteil von Gendlers Unterscheidung problematisch. Die Verschachtelung verschiedener Fragen wie im ersten Gendlerzitat kommt in Gedankenexperimenten so gut wie nicht vor. Es wird, um den komplexesten Fall anzuführen, nicht zunächst das Szenario daraufhin befragt, was in ihm der Fall ist, dann, wie man diesen Sachverhalt beschreiben sollte und anschließend, wie man ihn moralisch oder ästhetisch beurteilen sollte. Erst recht wird in solchen Gedankenexperimenten nicht erst nach einem kausalen Zusammenhang gefragt, dann nach der richtigen Beschreibung für diesen Zusammenhang und dann nach einer moralischen oder ästhetischen Evaluation desselben.

Die unsinnige Verschachtelung einzelner Arten von Beurteilung beiseite, bietet Gendlers Aufzählung noch ein weiteres Problem. Man kann sich nämlich fragen, wie sinnvoll es eigentlich ist, zwischen (1’’) und (2’) zu unterscheiden:

(2’) Wenn Szenario S der Fall wäre, wie sollten wir S beschreiben?

Kurz, sollten wir unterscheiden zwischen Beurteilungen, was der Fall ist und Beurteilungen, wie wir etwas beschreiben sollten? Ohne Zweifel kann eine solche Unterscheidung nützlich sein. Zu unterscheiden, wann ein philosophischer Disput sich um Sachfragen dreht und wann er ein Streit um Terminologie ist, ist wichtig und es ist häufig überhaupt nicht trivial, zu bestimmen, ob ein Disput ein Streit um Worte ist oder nicht.

215 Gendler [TE] 25. Diese Formulierung soll offenbar äquivalent sein, sie ist es aber nicht.

Die Frage ist, ob die Unterscheidung nützlich ist, um Gedankenexperimente zu klassifizieren. Ein Szenario, das nur danach beurteilt wird, wie wir über es reden sollten, ohne daß sich mit dieser Beurteilung noch inhaltliche Fragen verbinden, ist von vornherein höchstens zu illustrativen Zwecken gut. Daß es nur noch um terminologische Fragen geht, ist also ein Einwand gegen solche Gedankenexperimente, die inhaltlich relevant sein sollen. Aber es ist bietet keine gute Klassifikation von Gedankenexperimenten.

Natürlich denkt Gendler bei (2) nicht an die Unterscheidung zwischen inhaltlichen und terminologischen Fragen. Das zeigen ihre Beispiele.216 Aber wenn sich hinter dem Streit um die richtige Beschreibung inhaltliche Fragen verbergen, so bricht die Unterscheidung zwischen (1’’) und (2’) zusammen. Wir können nicht unabhängig von jeder Beschreibung sagen, was alles der Fall wäre, wäre ein bestimmtes Szenario der Fall. Wir werden in Kapitel 6.3 die meines Erachtens irreführende Gruppe von Thesen diskutieren, daß wir aus (manchen) Gedankenexperimenten nur oder vorzüglich über unsere eigenen Begriffe oder unsere Sprache lernen. Dementsprechend sollten wir hier keine Unterscheidung einführen, welche einige Versionen dieser These schon festschreibt.

Was bleibt übrig von Gendlers Einteilung der Beurteilungen vorgestellter Szenarien? Zum einen die Unterteilung in deskriptive und normative Beurteilungen, zum anderen der Sonderfall kausaler Beurteilungen. Kausale Beurteilungen sind uns inzwischen mehrfach begegnet. Es geht jeweils darum, vorherzusagen, welcher kausale Ablauf sich von einer gewissen Ausgangssituation aus ergeben würde. Normative Beurteilungen fragen z.B. danach, was eine Person in einer bestimmten Situation tun sollte, ob eine Handlung das beste Ergebnis herbeiführen würde oder ähnliches. Ästhetische Urteile bilden eine weitere Unterklasse.

Es geht uns hier nicht darum, eine Typologie von Beurteilungen aufzustellen. Es genügt, sich vor Augen zu führen, wie verschieden die Überlegungen sind, die ins Spiel kommen, wenn man beurteilen soll, worauf sich ein Wort bezieht, ob zwei Gegenstände identisch sind, ob man dasselbe hört, wie jemand anderes, wie man handeln sollte etc.

Es kommen nicht nur andere Überlegungen ins Spiel, je nachdem, welches Thema die Frage vorgibt, wir sind unter Umständen auch sehr unterschiedlich zuverlässig, was unsere Antworten angeht. Dieser Umstand ist vor allem wichtig für Theorien, die den spontanen Charakter von Beurteilungen betonen. Es ist bekannt, daß die meisten Leute Probleme haben, Zusammenhänge

216 Gendler denkt an Platons Ring des Gyges und Putnams Zwillingserden. In beiden geht es natürlich um inhaltliche Fragen.

mit sehr großen Zahlen spontan korrekt zu erfassen und Wahrscheinlichkeiten oft ganz falsch verrechnen. Dagegen sind wir, mit genügend Zeit und Rechenkraft ausgestattet, in Urteilen bezüglich dieser Gebiete sogar besonders sicher.

All dies deutet darauf hin, daß wir keine einheitliche Erklärung erwarten dürfen, wenn es in Kapitel 6 um Rechtfertigungen kontrafaktischer Konditionale geht. Vereinheitlichende Theorien können der Unterschiedlichkeit unserer Urteile nicht gerecht werden.

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