• Keine Ergebnisse gefunden

2 Drei Elemente von Gedankenexperimenten

2.1 Sich ein Szenario vorstellen

2.1.2 Was heißt es, sich ein Szenario vorzustellen?

2.1.2.3 Drei schwierige Fälle

Ich betrachte drei Fälle, die zumindest auf den ersten Blick nahe legen, daß es in ihnen auf die Faktizität des Szenarios doch ankommt. Das erste Beispiel ist ein Entwurf zu einem Gedankenexperiment von Saul Kripke. Im Vorwort zur Neuauflage von Naming and Necessity schreibt er:

Regarding the question of rigidity, my own reply took the form of a thought experiment, along the lines sketched briefly for ‘identity and schmidentity’ on page 108 of the present monograph.

In the present case I imagined a hypothetical formal language in which a rigid designator ‘a’ is

150 Da es eine eigene weibliche Form zum Maskulinum „Premierminister“ gibt, könnte ein Schlaukopf natürlich darauf beharren, daß alle Premierminister männlich waren, es aber eine Premierministerin gab. Diese These soll der Gegner im Beispiel nicht meinen.

151 Es wird nahe gelegt, folgt aber natürlich nicht. Wer das behauptet, begeht, den additiven Fehlschluß, den ich in Kapitel 4.3.4 diskutiere. Man beachte außerdem, daß das Kriterium nicht taugt, um Gedankenexperimente von Beispielen zu unterscheiden. Viele Gedankenexperimente sind Beispiele! Die Verwendung als Beispiel ist eine von verschiedenen möglichen Verwendungen im dritten Schritt unseres Verfahrens. Ob man im philosophischen Alltag lieber von einem Gedankenexperiment oder von einem Beispiel spricht, hängt m. E. ganz davon ab, ob man eher betonen möchte, daß man mit vorgestellten Situationen operiert oder daß man ein Beispiel gibt.

introduced with the ceremony, ‘Let “a” (rigidly) denote the unique object that actually has property F, when talking about any situation, actual or counterfactual.’152

Und eine Konsequenz, die gemäß Kripke hieraus folgt, ist diese:

More important, this situation indicated that the evidence ordinarily adduced to show that names were synonymous with descriptions could instead by rationalized by this hypothetical model. In addition, the model satisfied our intuitions of rigidity. Given this, the burden of the argument seemed to fall heavily on the philosopher who wished to deny our natural intuition of rigidity.153 Das klingt nun so, als sei es die Idee des Gedankenexperimentes, ein Szenario vorzustellen, von dessen Faktizität zunächst abgesehen wird, um dann Argumente dafür zu geben, daß wir uns tatsächlich in dieser Situation befinden – als stelle Kripke sich eine Sprache vor, die starre Designatoren enthält, und dann versuche, den Leser dann zu überzeugen, daß unsere Sprache genau eine solche Sprache ist, also ebenfalls starre Designatoren enthält. Der Witz dieses Verfahrens bestünde dann gerade darin, dafür zu argumentieren, daß das vorgestellte Szenario faktisch ist.

Aber diese Lesart deckt sich nicht mit Kripkes eigenen Angaben zur Struktur dieses Gedankenexperimentes. Wir benötigen zwei Hinweise. Der erste ist der Verweis auf das Schmidentitätsgedankenexperiment auf [NN] 108. Dessen Struktur ist aber alles andere als einfach zu entschlüsseln. Daher benötigen wir auch noch den zweiten Hinweis, eine Bemerkung über die Struktur des Schmidentitätsgedankenexperimentes, der sich in [SRSR] findet. Da der oben zitierte Entwurf zu einem Gedankenexperiment dieselbe Struktur besitzen soll wie das Schmidentitätsgedankenexperiment, dürfen wir hier Hilfe erwarten:

If someone alleges that a certain linguistic phenomenon in English is a counterexample to a given analysis, consider a hypothetical language which (as much as possible) is like English except that the analysis is stipulated to be correct. Imagine such a hypothetical language introduced into community and spoken by it. If the phenomenon in question would still arise in a community that spoke such a hypothetical language (which may not be English), then the fact that it arises in English cannot disprove the hypothesis that the analysis is correct for English. An example removed from the present discussion:

Some have alleged that identity cannot be the relation that holds between, and only between, each thing and itself, for if so, the nontriviality of identity statements would be inexplicable. If it is conceded however, that such a relation makes sense, and if it can be shown that a hypothetical language involving such a relation would generate the same problems, it will follow that the existence of these problems does not refute the hypotheses that “identical to” stands for this same relation in English.154

152 Kripke [NN] 14.

153 Kripke [NN] 15. Das in den zitierten Passagen angedeutete Gedankenexperiment findet sich weder explizit noch implizit im Haupttext von [NN]. Daher rede ich vom Entwurf eines Gedankenexperimentes. Diese Stelle ist einer der wenigen Berichte über Gedankenexperimente in philosophischen Texten, der nicht einhergeht mit der Durchführung des Gedankenexperimentes. Sie ist ein Hinweis, daß nur wenige Gedankenexperimente es bis in veröffentlichte Texte schaffen.

154 Kripke [SRSR] 16.

Wenn wir diese Hinweise ernst nehmen, so stellt Kripke sich also ein Szenario vor, in dem eine Sprache mit rigiden Designatoren gesprochen wird. Phänomene, die von Kripkes Gegnern als Gegenbeispiel zur These verwandt werden, daß unsere Sprache rigides Designatoren enthält, gäbe es auch in dieser Sprache, urteilt Kripke. Also, so seine Folgerung, können die angeblichen Gegenbeispiele keine Gegenbeispiele sein. Das vorgestellte Szenario ist faktisch (wenn Kripkes Analyse von Namen korrekt ist), aber auf diese Faktizität kommt es im Verfahren nicht an.

Auch wenn Kripkes Entwurf sich nicht als Gegenbeispiel zur These erwiesen hat, daß es Gedankenexperimenten nicht auf die Faktizität des Szenarios ankommt, so sieht man doch, wie sich leicht ein Gedankenexperiment konstruieren läßt, das als Gegenbeispiel taugt.

Das zweite Beispiel, das ich betrachten möchte, ist das Höhlengleichnis aus Platons Staat.155 Es ist die dritte und abschließende Analogie, die Sokrates benutzt, um Glaukon die Ideenlehre nahe zu bringen. Nachdem das Szenario beschrieben und in mehrfacher Hinsicht beurteilt wurde, wird die Parallele gezogen:

[...] die durch den Gesichtssinn uns erscheinende Welt setze der Wohnung im Gefängnis gleich, den Lichtschein des Feuers aber in ihr der Kraft der Sonne. Den Aufstieg nach oben aber und die Betrachtung der oberen Welt mußt du der Erhebung der Seele in das Reich des nur geistig Erkennbaren vergleichen [...]156

Das klingt zunächst, als gehe es darum, für die strukturelle Ähnlichkeit des vorgestellten Szenarios mit unserer Situation zu argumentieren. Und insofern scheint es auf die Faktizität des Szenarios anzukommen – es sollte dann gezeigt werden, daß wir in gewissem Sinne in der Situation des Höhlenbewohners sind. Tatsächlich argumentiert Platon jedoch nicht für diese These. Die Struktur des Gedankenexperimentes besteht vielmehr darin, Beurteilungen der Höhlensituation auf unsere Situation zu übertragen. Für solche Analogieschlüsse muß das vorgestellte Szenario nicht faktisch sein.

Man darf sich nicht verwirren lassen durch die Ähnlichkeiten zwischen dem vorgestellten Szenario und unserer Lage. Natürlich muß, damit die Analogie erfolgreich ist, das vorgestellte Szenario in wesentlichen Hinsichten der faktischen Situation entsprechend. Aber das macht es nicht zu einer faktischen Situation, sondern zu einem fiktiven Szenario! Gefordert ist ein Szenario, zu dem hinreichend ähnliche faktische Situationen existieren.

Das dritte Beispiel sind Naturzustandbeschreibungen, wie ich sie in Kapitel 1.1.3 vorgestellt habe.

Wir können fragen, ob das Szenario des Naturzustandes faktisch sein muß. Schließlich ist die

155 Das Höhlengleichnis findet sich in Platon [S] 514a ff.

156 Platon [S] 517b.

Idee, ein vereinfachendes Modell zu besitzen, das tatsächliche funktionale Abhängigkeiten bewahrt und einfacher erkennbar macht. Mit dem Naturzustandmodell ist also der Anspruch verbunden, daß vereinfacht unsere Situation wiedergegeben wird. Aber auch in diesem Fall heißt das natürlich nur, daß kontrafaktische Szenarien nicht geeignet sind. Fiktive Szenarien, von denen wir wissen, daß relevant ähnliche existieren, genügen vollauf, um das Verfahren in Gang zu bringen.

Damit haben wir drei Zweifelsfälle behandelt, die zunächst gegen die These zu sprechen schienen, daß es in Gedankenexperimenten nie auf die Faktizität des vorgestellten Szenarios ankommt. Alle drei sprechen nicht gegen diese These. Die Lösung, die wir in allen drei Fällen gefunden haben, daß nämlich ein fiktives Szenario gefordert war, zeigt allerdings auch, wie schwach die These ist, die auf diese Weise verteidigt wurde. Denn daß das Szenario fiktiv ist, bedeutet, daß es in relevanten Aspekten faktischen Fällen ähnelt. Auch die unscharfe Abgrenzung von faktischen und fiktiven Szenarien trägt zur Vagheit der These bei.

Wir sollten die These trotzdem aufgeben. Denn wir haben in der Untersuchung von Kripkes Ankündigung eines Gedankenexperimentes eine Anleitung zu einem Gegenbeispiel gefunden, auch wenn die drei betrachteten Fälle endlich keine solchen Gegenbeispiele waren. Man stelle sich ein abwegiges Szenario vor. Man beurteile es gemäß der für das Thema einschlägigen Aspekte. Schließlich versuche man aufgrund der Beurteilung Argumente zu geben, um seine Gegner zu überzeugen, daß wir in eben dieser Situation sind. Wir müssen damit rechnen, daß früher oder später jemand ein Gedankenexperiment dieser Form ausführen wird – wenn es solche Gedankenexperimente nicht längst schon gibt.

Für unsere Untersuchung bedeutet das, daß wir die gerade gefundene Eigenschaft des Verfahrens (es ist egal, ob das Szenario faktisch ist oder nicht) als typische Eigenschaft auffassen sollten, nicht als definitorische Eigenschaft.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE