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Fremde Szenarien, Beurteilbarkeit und Relevanz

4.2 Begriffliche Möglichkeit ohne naturwissenschaftliche Möglichkeit?

4.2.1 Zeit ohne Veränderung?

Sehen wir uns ein Gedankenexperiment an, das sich um den Zeitbegriff dreht. Sidney Shoemaker will in [TwC] zeigen, daß Zeit ohne Veränderung begrifflich möglich ist.332 Um Shoemakers Gedankenexperiment zu verstehen, ist es nötig zu verstehen, was eigentlich gegen die These spricht, daß es Zeit ohne Veränderung geben kann. Vom Zugeständnis der Möglichkeit von Zeitintervallen ohne jegliche Veränderung ist der Weg nicht weit zu einem grundlegenden Skeptizismus gegenüber Zeitmessung. Wie soll ich ausschließen, daß, während ich diesen Satz tippe, nicht hundert Jahre vergangen sind? Sollte in mir der Verdacht aufkommen, es könnten hundert Jahre vergangen sein (z.B. weil ich geschlafen habe und mich die Lektüre von philosophischen Aufätzen über Zeit ganz konfus gemacht hat), so werde ich auf meine Uhr sehen, ich werde auf meine Körperreaktionen achten, ob es sich anfühlt, als seien mehr als drei Stunden vergangen oder schlicht, ob ich schon wieder Hunger verspüre. Kurz: Ich achte auf Veränderungen meiner Umwelt oder meiner selbst. Fallen diese Arten von Veränderung weg, so ist es mir unmöglich zu bestimmen, wieviel Zeit vergangen ist. Das Problem ist grundlegender Art: Wenn es Zeit ohne Veränderung gibt, dann, so die Idee, kann man niemals messen, wie viel Zeit vergangen ist. Die Idee von Zeit ohne Veränderung bedroht also die Meßbarkeit nicht nur in Einzelfällen (was kein Problem wäre, wir können häufig nicht messen, wie viel Zeit vergangen ist), sondern grundsätzlich.

Shoemakers Ziel ist es daher, nicht nur zu zeigen, daß es Zeit ohne Veränderung geben könnte, sondern auch, daß die skeptischen Konsequenzen bezüglich Zeitmessung gar nicht folgen. Bei Shoemaker liest sich das so:

In what follows I shall try to show that it is conceivable that people should have very good reasons for thinking that there are changeless intervals, that they should have well-grounded

332 Shoemaker [TwC]. Shoemaker präzisiert seine These in zwei Hinsichten. Erstens möchte er McTaggart-Veränderungen ausschließen, da diese die Frage uninteressant machen. Es ist jetzt später als eben noch. Wenn das bereits Veränderung ist, so wird die These, daß es Zeit ohne Veränderung gibt, trivial falsch. Zweitens möchte Shoemaker Veränderungen aufgrund grue-ähnlicher Prädikate ausschließen. In Abweichung von Goodman definiert Shoemaker „grue“ so: „x is grue at t if and only if t is earlier than A.D. 2000 and x is green at t or t is A.D. 2000 or later and x is blue at t.” (Shoemaker [TwC] 50f.) Schließt man derlei Prädikate nicht aus seinen Überlegungen aus, so läßt sich für jede Zeitdauer, bei der keine Veränderung in den Eigenschaften eines Gegenstandes auftritt, ein ähnliches Prädikat finden, das zunächst zutrifft, später aber nicht mehr. Nimmt man zusätzlich an, daß dem grue-ähnlichen Prädikat eine Eigenschaft des Gegenstandes entspricht, so erhält man genuine Veränderung: Die These, daß Zeit Veränderung impliziert, wird trivial.

beliefs about when in the past such intervals have occurred and when in the future they will occur again, and that they should be able to say how long such intervals have lasted or will last.333

Deswegen also interessieren uns die Meinungen der Leute in der vorgestellten Situation: Es soll gezeigt werden, daß es möglich ist, daß es Zeit ohne Veränderung gibt und daß das Phänomen gegebenenfalls beherrschbar sein kann. Das Gedankenexperiment selbst sieht so aus:

Soweit die Bewohner wissen, ist alle Materie in drei kleinen Zonen konzentriert, die A, B und C heißen sollen. Die drei Zonen sind durch natürliche Grenzen voneinander getrennt, es ist aber möglich, von einer Zone in eine andere und zurück zu gelangen. Von Zeit zu Zeit wird ein Phänomen von den Bewohnern beobachtet, welches Shoemaker „local freeze“ nennt. Während eines lokalen Stop halten alle Prozesse in einer der drei Regionen vollständig an. Es ist während dieser Zeit nicht möglich in die betreffende Zone einzudringen. Tatsächlich ist es sogar günstiger das Szenario derart abzuwandeln, daß die entsprechende Zone während des Stops auch nicht beobachtet werden kann, um die Frage zu vermeiden, wie die Bewohner der beiden anderen Zonen die Stopzone beobachten können, ohne daß Licht aus dieser Zone in ihre Augen dringt, Schallwellen aus dieser Zone sich zu ihnen fortpflanzen oder dergleichen.

Das zu betrachtende Szenario sieht nun wie folgt aus. Die Bewohner dieser Welt stellen erstens fest, daß die Stops immer gleiche Länge haben, sagen wir ein Jahr, und daß sie zweitens in gewissen regelmäßigen Abständen auftauchen, nämlich in Region A alle drei, in Region B alle vier und in Region C alle fünf Jahre. Sie können nun leicht errechnen, daß gemeinsame Stops in A und B alle zwölf Jahre auftreten werden, in A und C alle fünfzehn Jahre, in B und C alle 20 Jahre und in allen drei Regionen alle sechzig Jahre. Das Universum besteht nur aus diesen drei Regionen, die vorhergesagten Doppelstops treten planmäßig ein (wie sich von der jeweils unbetroffenen Zone aus feststellen läßt), es wird kein Stop im sechzigsten Jahr beobachtet, das Muster der Stops läuft jedoch brav weiter. Unter diesen Bedingungen, so Shoemaker, hätten die Bewohner jener Welt Gründe, anzunehmen, daß Zeit vergeht, ohne daß Veränderung auftritt.

Shoemaker diskutiert eine Reihe von Einwänden gegen sein Gedankenexperiment und insbesondere gegen seine Beurteilung des Szenarios. Es ist zum Beispiel fraglich, wie all die angehaltenen Prozesse nach einem Jahr auf einmal wieder in Gang kommen. Ein Problem, das Shoemaker nicht diskutiert, ist seine stillschweigende Voraussetzung, daß Zeit immer gleich schnell vergeht. Aber diese Überlegungen interessieren uns hier nicht. Wir wollen wissen, ob Shoemakers Gedankenexperiment schon deswegen problematisch ist, weil seine zentrale

333 Shoemaker [TwC] 54.

Beurteilung der Situation danach fragt, ob die Bewohner seiner Welt gute Gründe hätten, zu glauben, daß Zeit vergangen ist, ohne daß Veränderung stattgefunden hat oder weil er naturwissenschaftlich unmögliche Szenarien heranzieht, um eine begriffliche Möglichkeit zu erweisen.

Dazu muß man die zwei Anliegen Shoemakers auseinander halten. Zum einen möchte er zeigen, daß es Zeit ohne Veränderung gibt. Zum anderen möchte er zeigen, daß die Idee von Zeit ohne Veränderung nicht mit einem empiristischen Kriterium von Zeitmessung konfligiert. Unsere erste Frage lautet also: Warum sollten die Gründe der Leute in der Situation ein Indikator sein dafür, was in der Situation der Fall ist? Der Zusammenhang wird von Shoemaker selbst nahe gelegt:

Of course, the fact that people might have good reasons for thinking that something happens does not prove that it is logically possible for that thing to happen; people have had good reasons for thinking that the circle has been squared. But I think that the sorts of grounds there could conceivably be for believing in the existence of changeless intervals are such that no sound argument against the possibility of such intervals can be built on a consideration of how time is measured and of how we are aware of the passage of time.334

Wie zeigt man, daß ein Szenario möglich ist? In den seltensten Fällen wird man nachweisen können, daß die negierte Beschreibung des Szenarios unmöglich ist. Die Möglichkeit folgt auch nicht allein aus der Vorstellbarkeit des Szenarios. Dementsprechend ist man auf schwächere Mittel angewiesen. Das typische Verfahren besteht darin, erstens das Szenario konsistent zu beschreiben. Daß wir uns das Szenario vorstellen können, ist ein erster Hinweis auf die Möglichkeit des Szenarios. In einem zweiten Schritt diskutiert man dann mögliche Einwände gegen die Möglichkeit des Szenarios. Damit hat man nicht deduktiv abgeleitet, daß das Szenario möglich ist. Aber man hat die Möglichkeit so plausibilisiert, daß die Beweislast nun beim Gegner liegt.

Die Beurteilung, welche Theorie die Leute in der vorgestellten Situation hätten, ist in Shoemakers Überlegungen nun Teil dieses zweiten Schrittes. Wir haben zu Beginn festgehalten, daß der Haupteinwand, gegen den Shoemaker sich zur Wehr setzen möchte, im Skeptizismus bezüglich Zeitmessung besteht, der aus der Möglichkeit von Zeit ohne Veränderung angeblich folgt.

Insofern Shoemaker nachweisen kann, daß die Bewohner seiner möglichen Welt unter optimaler Anwendung rationaler Methoden335 zu der Überzeugung gelangen können, daß es Zeit ohne Veränderung gibt, ohne an der Möglichkeit von Zeitmessung überhaupt zweifeln zu müssen, hat er den wichtigsten Einwand gegen die Möglichkeit des Szenarios entkräftet.

334 Shoemaker [TwC] 54.

335 Denn es ist selbstverständlich leicht, sich ein Szenario vorzustellen, in dem Leute mit ganz windigen Methoden zu der Überzeugung gelangen, daß es Zeit ohne Veränderung gibt.

Die Frage nach den Theorien der Leute in der vorgestellten Situation dient hier also nur indirekt der Erweisung der Möglichkeit der Situation. Aus den Theorien der Leute soll nicht folgen, daß es Zeit ohne Veränderung gibt, sie sollen auch kein Indikator sein, daß es Zeit ohne Veränderung gibt. Vielmehr soll der Verweis auf die Theorien der Leute den Haupteinwand gegen die Möglichkeit von Zeit ohne Veränderung als unbegründet erweisen. Damit ist die Frage nach den Ansichten dieser Leute aber durchaus vernünftig. Damit haben wir nebenbei ein Gegenbeispiel zu Sorensens und Cohnitz Ansicht gefunden, daß die Frage nach den Theorien der Leute im Szenario keine Rolle in Gedankenexperimenten spielt.336

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