• Keine Ergebnisse gefunden

Donagans Versuche einer Einschränkung von Szenarien

Fremde Szenarien, Beurteilbarkeit und Relevanz

4.1 Die Relevanz fremder Szenarien für ethische Theoriebildung

4.1.1 Donagans Versuche einer Einschränkung von Szenarien

Ein Autor, der immer wieder versucht hat, geeignete Einschränkungen für Szenarien zu finden, ist Alan Donagan. Ich bin zwar der Überzeugung, daß diese Versuche auf die eine oder andere Art scheitern, trotzdem ist die Auseinandersetzung mit ihnen lehrreich. Es zeigt sich, daß die Beschränkung auf naturwissenschaftlich mögliche Szenarien der sie motivierenden Idee der Relevanz endlich nicht gerecht wird.

Donagans Überlegungen sind fest eingebettet in die Debatte um den Handlungsutilitarismus.

Handlungsutilitaristen beurteilen eine Handlung als moralisch richtig, wenn sie relativ zu anderen möglichen Handlungen das allgemeine Wohlergehen am besten befördert. Regelutilitaristen beurteilen eine Handlung als moralisch richtig, wenn sie mit solchen Regeln konform geht, die, falls allgemein befolgt, das allgemeine Wohlergehen am besten befördern.308

Eine Art Argument gegen Formen des Handlungsutilitarismus bilden Beispiele, die zeigen sollen, daß es dem Handlungsutilitarismus auf fatale Weise nicht gelingt, unsere moralischen Intuitionen abzubilden:

Act-utilitarianism, at least given the assumptions about what is valuable which utilitarians commonly make, has implications which it is difficult to accept. It implies that if you have employed a boy to mow your lawn and he has finished the job and asks for his pay, you should pay him what you promised only if you cannot find a better use for your money. It implies that when you bring home your monthly pay-check you should use it to support your family and yourself only if it cannot be used more effectively to supply the needs of others. It implies that if your father is ill and has no prospect of good in his life, and maintaining him is a drain on the energy and enjoyment of others, then, if you can end his life without provoking any public scandal or setting a bad example, it is your positive duty to take matters into your own hands and bring his life to a close.309

Brandt gibt in schneller Folge drei Szenarien an, sowie eine Beurteilung, wie in diesen Szenarien gehandelt werden sollte, wenn man sich an die Vorgaben des Handlungsutilitarismus hielte. Die vorgeschlagenen Handlungen sind aber ganz unplausibel. Also, so der Gegner des Handlungsutilitaristen, ist der Handlungsutilitarismus eine schlechte ethische Theorie.

Handlungsutilitaristen haben typischerweise eine der folgenden vier Antwortoptionen gewählt.

Erstens können sie versuchen zu zeigen, daß die Beurteilung gemäß des Handlungsutilitarismus nicht so kontraintuitiv und unplausibel ist, wie der Gegner des Handlungsutilitarismus glaubt. Die Antwort für den Rasenmäherfall lautet also z.B.: „Ja, es ist überraschend, daß wir den Jungen

308 Brandt [tCFU] 109. Das ist lediglich eine grobe Charakterisierung, die aber für unsere Zwecke genügt. Einzelne Handlungs- und Regelutilitaristen weichen weit von diesen Formulierungen ab. Man beachte auch, daß „das

allgemeine Wohlergehen“ hier ein reiner Platzhalter ist, den unterschiedliche Utilitaristen ganz verschieden ausfüllen.

309 Brandt [tCFU] 109f.

nicht auszahlen sollen, aber mit ein wenig Nachdenken wird man einsehen, daß es sinnvoll ist, den Jungen nicht auszuzahlen.“310

Zweitens kann der Handlungsutilitarist zugeben, daß seine Auswertung des Szenarios kontraintuitiv ist, aber begrüßen, daß unsere Intuitionen korrigiert werden. Die neutrale Beurteilung des Szenarios wird als bloße Intuition abgetan, im Gegensatz zum fundierten Urteil gemäß des Handlungsutilitarismus: „Sicher, die handlungsutilitaristische Beurteilung des Szenarios wirkt wenig plausibel. Aber unsere Intuitionen bezüglich dieses Szenarios führen uns in die Irre!“

Drittens kann der Handlungsutilitarist erklären, daß sein Gegner das handlungsutilitaristische Prinzip falsch angewandt hat. Der Handlungsutilitarist beurteilt das Szenario genauso wie alle anderen auch, die beiden Beurteilungen des Szenarios weichen gar nicht voneinander ab. Der Fehler des Gegners ist es gewesen, relevante Teile des Hintergrundes nicht zu beachten und daher zu glauben, der Handlungsutilitarismus lege einen auf unplausible Handlungsanweisungen fest.

Ich werde mich um diese drei Antworten nicht weiter kümmern. Die Antwort, welche uns interessiert, weist das Gegenbeispiel zurück mit der Behauptung, daß das Szenario nicht relevant ist. Genauer gesagt, geht es um den Einwand, daß die Szenarien nicht relevant sind, weil sie in einem bestimmten Sinn nicht möglich sind. Für die von Brandt genannten Fälle (Rasenmäher, Gehaltscheck und kranker Vater) ist diese Art Kritik kaum einschlägig. Alle drei Szenarien sind in jeglichem relevanten Sinne möglich. Erstaunlicherweise richtet sich Donagans erste Kritik auch gegen eine solche Ablehnung des Falls des kranken Vaters, wenn er schreibt:

To object that the conditions imagined in this example have never been fulfilled, even if the objection is true (which I doubt), would be beside the point. Moral theory is a priori, as clear-headed utilitarians like Sidgwick recognized. It is, as Leibniz would say, true of all possible worlds.311

Donagan stellt hier moralische Theorie als logisch notwendig dar. Wenn das stimmt, so sollte dementsprechend die einzige Beschränkung, der moralische Beispiele unterliegen, sein, daß die vorgestellten Szenarien logisch möglich sein müssen. Das ist zwar, wie wir gesehen haben, überaus plausibel, aber viel zu weit gefaßt, um als Relevanzkriterium irgendwelchen Einfluß auszuüben – wie man sehr schön an dem Umstand erkennt, daß die von Brandt genannten, typischen Beispiele wohl von keinem Utilitaristen als unmöglich abgelehnt würden.

310 Das ist natürlich in gewissem Sinne eher die Ankündigung einer Antwort als die Antwort selbst.

311 Donagan [ItCF]: 188f. Ich ignoriere im Folgenden jegliche Probleme, die mit Donagans Gleichsetzung von a priori und notwendig einhergehen. Uns interessiert hier Notwendigkeit.

Donagan selbst ist dann auch später geneigt, nicht alle logisch möglichen Szenarien zuzulassen.

Seine zweite Position lautet:312

While it [the presupposition that the world man inhabits is a system of nature, in which events occur according to morally neutral laws] does not exclude them [moralists] from examining cases that may arise in systems of nature the laws of which differ from those we believe to obtain as a matter of fact, it does require that any case to be considered could occur in a possible system of nature in which human life could subsist.313

Ich glaube, daß diese Einschränkung zulässiger Szenarien nach wie vor zu weit gefaßt ist, um in der ethischen Debatte nützlich zu sein. Das zeigt sich unter anderem an Donagans eigenen Beispielen, von denen das erste lautet: Eine Person kann einen an einer schmerzhaften Krankheit sterbenden Freund retten, indem sie die Worte „Laß ihn sterben!“ niederschreibt. Diese Niederschrift heilt den Freund, läßt aber gleichzeitig einen Fremden in einem fernen Land sterben. Sollte unsere Person die Worte schreiben?

Donagan weigert sich, die Frage, ob man die Worte niederschreiben sollte, ernst zu nehmen:

Before an answer is attempted, it should be asked whether any set of laws of nature is possible, according to which writing certain words on a piece of paper could have such consequences.314 Das Beispiel ist unglücklich in seiner Künstlichkeit. Aber es ist ohne Probleme durch fiktive Beispiele ersetzbar, denen jedes kontrafaktische Element fehlt. Stellen wir uns eine sehr reiche Person vor, deren Freund stirbt, wenn er nicht ein lebenswichtiges Ersatzorgan, sagen wir ein Herz, bekommt. Gespendete Organe sind knapp und es ist klar, daß die Warteliste zu lang ist, als daß der Freund rechtzeitig operiert werden könnte. Unserer reichen Person fällt ein, daß in Drittweltländern Organdiebstahl häufig vorkommt. Sie könnte ihren Freund nach Mexiko fliegen lassen und dort sicherlich ein Herz organisieren und verpflanzen lassen. Sie wüßte dann aber auch, daß das Leben ihres Freundes mit dem Leben eines Fremden erkauft wäre. Soll sie entsprechende Anweisungen geben oder nicht?

In diesem Fall hat uns eine schell erzählte Geschichte nahe gebracht, daß Donagans Szenario sehr wohl naturwissenschaftlich möglich ist. Donagan überschätzt offenbar die Auswirkungen seiner einschränkenden Klausel. Dies wird bestätigt durch sein zweites Beispiel, das den

312 Ich bespreche hier nicht Donagans dritte Position, in der er mehr oder minder nur Wilkes Mischmasch an Argumenten aus [RP] wiederholt. Vgl. Donagan [RHP].

313 Donagan [ToM] 35. Donagan sieht sich explizit in der Tradition der jüdisch-christlichen Ethik und isoliert im Vergleich zu hinduistischer Ethik zwei Präsuppositionen der jüdisch-christlichen Tradition. Die zweite dieser Präsuppositionen lautet: „The world man inhabits is a system of nature, in which events occur according to morally neutral laws.“ Donagan [ToM] 35. Es ist diese Voraussetzung, aus der direkt eine Einschränkung der moralisch relevanten Situationen folgen soll. Vgl. Kapitel 4.1.2.

314 Donagan [ToM] 36.

Gebrüdern Karamasov entstammt. Eine Person entdeckt, daß es in ihrer Macht steht, Frieden und Glück für die gesamte Menschheit herzustellen, daß man aber zu diesem Zweck ein Kind zu Tode foltern muß. Wie soll sie handeln? Wieder verweigert Donagan die Antwort:

Here again, it is necessary to demand, in what possible system of nature could a deed of that kind be a necessary element in causing that outcome? Whoever may maintain that there is such a possible system owes us some account of it.315

Tatsächlich ist schwer einzusehen, wie dauerhafter Friede und Glück für die gesamte Menschheit durch irgendeine noch so raffinierte Kombination von Maßnahmen erreichbar sein sollte. Mit möglichen Systemen von Naturgesetzen hat das aber nur in einem sehr weiten Sinne etwas zu tun. Menschen mögen so beschaffen sein, daß es eben nicht möglich ist, sie dauerhaft friedlich und glücklich zu machen. Das Problem liegt also nicht, wie Donagan suggeriert, darin begründet, daß die schreckliche Tat den ersehnten Zustand nicht herbeiführen kann, sondern daß keine Tat diesen Zustand herbeiführen kann. Und das wiederum zeigt, daß Donagans Einwand das Wesentliche des Szenarios nicht trifft. Es ging nie um das spezielle Problem, welche Opfer man zu leisten bereit wäre, um dauerhafte Glückseligkeit für die Menschheit zu garantieren, sondern ob und wie Menschenleben überhaupt gegeneinander abwägbar sind. Wir können den angestrebten Zustand der Glückseligkeit also ohne Verlust für das Gedankenexperiment ersetzen durch einen, in dem das Leben vieler tausend Menschen gerettet werden soll. Und man muß nicht an den Naturgesetzen drehen, um sich vorzustellen zu können, daß Menschen einander in Zwangslagen bringen, in denen der (eventuell auch qualvolle) Tod eines Menschen abgewogen werden muß gegen den Tod vieler. Man denke nur an Philippa Foots Szenarien, in denen das Leben einer Person gegen das von fünfen abgewogen wird.316 Oder man denke an John Taureks Argumente für die These, daß die Zahl der Personen, die gerettet wird, in solchen Überlegungen nicht ausschlaggebend sein sollte.317 Wieder erweist sich Donagans Einschränkung als viel zu weit gefaßt, um für die Relevanz wichtig zu sein.318

315 Donagan [ToM] 36. Ironischerweise hält ausgerechnet die christliche Tradition, auf die Donagan sich unter anderem beruft, mit dem Kreuzestod Christi, welcher der Menschheit Erlösung bringen soll, einen solchen Fall bereit. Donagan ist natürlich gut beraten, sich um diesen Fall nicht kümmern, da er durch die Person und Rolle Christi als einmalig ausgezeichnet ist und daher keine Konsequenzen für die Ethik Normalsterblicher haben sollte , ganz abgesehen von den typischen Problemen konfessionell begründeter Ethiken.

316 Foot [PoAD] 23.

317 Taurek [SNC].

318 Unter anderen auch deswegen, weil es für ein gegebenes Szenario sehr schwer sein kann zu zeigen, daß oder daß es kein Set an Naturgesetzen gibt, unter dem das Szenario möglich ist. Es kann daher nicht verwundern, daß Donagan die Beweislast seinen Gegnern zuschiebt: Wenn es zweifelhaft ist, ob eine Situation möglich ist, dann müssen die Vertreter der Möglichkeit zeigen, daß es sich um eine genuine Möglichkeit handelt. Für die von Donagan benannten Fälle ist das eine richtige Beobachtung. Wir haben zum Beispiel die Herausforderung aus Fall eins angenommen und beantwortet. Aber die Beweislast ist nicht immer so verteilt. Es mag Fälle geben, in denen die

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE