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Was wird argumentativ ausgenutzt?

Ich unterscheide die argumentative Funktion von Gedankenexperimenten danach, welche Elemente des Gedankenexperimentes jeweils philosophisch ausgenutzt werden, was also der Träger der Funktion ist. Vier Fälle scheinen mir von grundsätzlichem Interesse zu sein.

Ausgenutzt werden kann erstens eine einzelne Beurteilung eines Szenarios. Zweitens können die Beurteilungen mehrerer Szenarien verglichen werden oder in anderer Weise gemeinsam philosophisch ausgenutzt werden. Drittens wird oft der modale Status des Szenarios argumentativ ausgenutzt. Und viertens kann die Ausnutzung bereits in der Beurteilung des Szenarios bestehen.

Wir haben bislang Beispiele gefunden, in denen die Beurteilung eines einzelnen Szenarios ausgenutzt wird, so z.B. in unserem einleitenden Gettierfall oder Hobbes’ Schiff des Theseus. Diese einfachen Fälle müssen wir also hier nicht noch einmal ausführlich behandeln.

Wir haben auch schon Fälle kennengelernt, in denen mehrere beurteilte Szenarien ausgenutzt werden. Foots und Thomsons Gedankenexperimente bestanden im Vergleich zweier ähnlicher Szenarien, deren unterschiedliche Beurteilungen Anlaß waren, den Grund für diesen Unterschied theoretisch zu erfassen. Ich gebe ein weiteres Beispiel für einen solchen Vergleich zweier Szenarien. Eines der bekanntesten Gedankenexperimente, die auf dem Vergleich zweier Szenarien basieren, ist wohl Burges Arthritis im Oberschenkel. Burge beschreibt das erste seiner Szenarien so:

A given person has a large number of attitudes commonly attributed with content clauses containing ‘arthritis’ in oblique occurrence. For example, he thinks (correctly) that he has had arthritis for years, that his arthritis in his wrists and fingers is more painful than his arthritis in his ankles, that it is better to have arthritis than cancer of the liver, that stiffening joints is a symptom of arthritis, that certain sorts of aches are characteristic of arthritis, that there are various kinds of arthritis, and so forth. In short, he has a wide range of such attitudes. In addition to these unsurprising attitudes, he thinks falsely that he has developed arthritis in the thigh.43

Das zweite Szenario ist kontrafaktisch indem es annimmt, daß die Sprachgemeinschaft das Wort

‚Arthritis‘ nicht nur benutzt, um auf Arthritis Bezug zu nehmen, sondern auch auf andere rheumatische Zustände. Die physikalische Geschichte der Person soll dagegen dieselbe sein wie im ersten Szenario.

The person might have had the same physical history and non-intentional mental phenomena while the word ‘arthritis’ was conventionally applied, and defined to apply, to various rheumatoid ailments, including the one in the person’s thigh, as well as to arthritis.44

In einem dritten Schritt interpretiert Burge das kontrafaktische Szenario und vergleicht beide Szenarien miteinander.

In the counterfactual situation, the patient lacks some–probably all–of the attitudes commonly attributed with content clauses containing ‘arthritis’ in oblique occurrence. He lacks the occurrent thoughts or beliefs that he has arthritis in the thigh, that he has had arthritis for years, that stiffening joints and various sorts of aches are symptoms of arthritis, that his father had arthritis, and so on. [...] The upshot of these reflections is that the patient’s mental contents differ while his entire physical and non-intentional mental histories, considered in isolation from their social context, remain the same.45

43 Burge [IM] 77.

44 Burge [IM] 78.

45 Burge [IM] 78f.

Burge gibt im weiteren Verlauf des Aufsatzes eine Theorie an, die diese Ergebnisse möglichst gut erklären soll, seinen Antiindividualismus. Es handelt sich also im Grunde um ein exploratives Gedankenexperiment (das gleichzeitig als Gegenbeispiel fungiert).

Der Vergleich zweier Szenarien ist aber nicht der einzige Einsatzort multipler Szenarien. Im Laufe der weiteren Erörterungen bringt Burge noch eine ganze Reihe weiterer Szenarien an. Er variiert das ursprüngliche Szenario in verschiedener Hinsicht, um seine Theorie zu plausibilisieren und ihre Reichweite auszutesten. Variation ist ein zentraler und wichtiger Aspekt vieler Gedankenexperimente. Ich werde in Kapitel 2.3.3 ausführlich auf sie eingehen und dort Verwendungen diskutieren, die auf der Beurteilung variierter Szenarien beruhen.

Hier möchte ich lediglich einen besonders komplexer Fall der Ausnutzung von mehreren Beurteilungen vorführen. Es geht um Gedankenexperimente, in denen nach funktionalen Abhängigkeiten innerhalb des Szenarios gesucht wird. Typische Beispiele für solche Gedankenexperimente sind Naturzustandsüberlegungen, wie man sie bei z.B. bei Hobbes, Hume, Rousseau, Rawls oder in jüngster Zeit bei Williams findet. Ich zitiere Rawls Überlegungen zum Schleier des Nichtwissens:

[...] we are to imagine that those who engage in social cooperation choose together, in one joint act, the principles which are to assign basic rights and duties and to determine the division of social benefits. Men are to decide in advance how they are to regulate their claims against one another and what is to be the foundation charter of their society. [...]

In justice as fairness the original position of equality corresponds to the state of nature in the traditional theory of the social contract. This original position is not, of course, thought of as an actual historical state of affairs, much less as a primitive condition of culture. It is understood as a purely hypothetical situation characterized so as to lead to a certain conception of justice. among the essential features of this situation is that no one knows his place in society, his class position or social status, nor does any one know his fortune in the distribution of natural assets and abilities, his intelligence, strength, and the like. I shall even assume that the parties do not know their conceptions of the good or their special psychological propensities. The principles of justice are chosen behind a veil of ignorance. This ensures that no one is advantaged or disadvantaged in the choice of principles by the outcome of natural chance or the contingency of social circumstances. Since all are similarly situated and no one is able to design principles to favor his particular condition, the principles of justice are the result of a fair agreement or bargain. [...] This explains the propriety of the name “justice as fairness”: it conveys the idea that the principles of justice are agreed to in an initial situation that is fair.46

Solche Naturzustandbeschreibungen sind für Williams Teil eines Projektes, das er Genealogie nennt.47 Diese beschreibt er so:

A genealogy is a narrative that tries to explain a cultural phenomenon by describing a way in which it came about, or could have come about, or might be imagined to have come about. Some of the narrative will consist of real history [...]48

46 Rawls [ToJ] 12.

47 Ich stütze mich hier vor allem auf Williams Überlegungen in [TT].

Ein Teil wird aber auch fiktiv sein, wie das von Rawls beschriebene Szenario. Dies ist die Naturzustandsbeschreibung:

There is also a role for a fictional narrative, an imagined developmental story, which helps to explain a concept or value or institution by showing ways in which it could have come about in a simplified environment containing certain kinds of human interest or capacities, which, relative to the story, are taken as given. This simplified, imaginary, environment [...] I shall call “the State of Nature”49

Der Nutzen solcher Naturzustandbeschreibungen, so Williams, besteht unter anderem darin, funktionale Abhängigkeiten aufzuzeigen:

The power of imaginary genealogies lies in introducing the idea of function where you would not necessarily expect it, and explaining in more primitive terms what the function is.50

Und die funktionalen Abhängigkeiten findet man, indem man das Szenario in verschiedener Hinsicht beurteilt. Auch diese Art Gedankenexperiment wird im Folgenden kaum mehr eine Rolle spielen. Das bedeutet aber nicht, daß die behandelten Probleme diese Art Gedankenexperiment nicht betreffen.

Im dritten Fall stützt sich die argumentative Funktion des Gedankenexperimentes auf den modalen Status des Szenarios. Daß ein Szenario möglich oder unmöglich ist, notwendig oder nicht notwendig, kann argumentativ ausgenutzt werden.51 David Chalmers z.B. argumentiert gegen Physikalismus unter anderem mit Hilfe von Zombieszenarien. Der Physikalismus behauptet eine logische Supervenienz des Bewußtseins zum Physikalischen. Was immer das genau heißen mag, es legt Physikalisten insofern fest, als sie nicht die Möglichkeit zugestehen dürfen, daß es Wesen mit unserem physikalischen Aufbau gibt, die aber kein Bewußtsein haben.

Schließlich soll unser Bewußtsein vollständig durch unseren physikalischen Aufbau erklärt werden. Zombies sind nun genau solche Wesen.52

48 Williams [TT] 20.

49 Williams [TT] 21.

50 Williams [TT] 32.

51 Tatsächlich lassen sich Fälle, in denen die Möglichkeit eines Szenarios etwas erweisen soll nicht scharf von Fällen trennen, in denen die Beurteilung eines Szenarios etwas erweisen soll. Gettierfälle z.B. können wir so verstehen, daß zunächst die Möglichkeit eines Szenarios erwiesen wird, in dem ein Subjekt eine wahre gerechtfertigte Meinung aber kein Wissen hat. Die Möglichkeit dieses Szenarios spricht dann gegen die Analyse von Wissen als wahrer

gerechtfertigter Meinung. Doch diese Unschärfe darf einen nicht verleiten, die Rechfertigung für Möglichkeitsbehauptungen und Beurteilungen (welche die Form kontrafaktischer Konditionale haben) durcheinander zu werfen. Ich diskutiere diese Probleme in Kapitel 6.

52 Es geht, genau genommen, um phänomenale Zombies, nicht um psychologische Zombies, wie man sie aus dem Filmen kennt, für die es wohl irgendwie ist, ein Gehirn zu essen. Vgl. Chalmers [CM] 95.

So let us consider my zombie twin. This creature is molecule for molecule identical to me, and identical in all low-level properties postulated by a completed physics, but he lacks conscious experience entirely. [...] There is nothing it is like to be a zombie.53

Es ist die Möglichkeit des Szenarios, die gegen den Physikalismus spricht, nicht eine Beurteilung des Szenarios oder ein Vergleich verschiedener Szenarien. Es genügt bereits, dass das Szenario möglich ist, damit der Physikalismus falsch ist.

Die vierte Art argumentativer Funktion nutzt in gewisser Weise kein Element des Gedankenexperimentes aus. Es gibt Fälle, in denen die Beurteilung des Szenarios identisch mit der zu erweisenden oder abzulehnenden These ist. Analogieargumente z.B., von denen ich weiter unten einige vorstellen werde, funktionieren manchmal in dieser Art.

Gedankenexperimente stellen sich also keineswegs einheitlich dar, was die Elemente angeht, welche philosophisch ausgenutzt werden. Sie zeigen ebenso starke Differenzen bezüglich der Frage, wie die Beurteilung oder der modale Status des Szenarios erwiesen werden.

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