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Bartelborth: Szenarien, die inkohärent mit unserem Wissen sind, sind schwache Kohärenztester

Fremde Szenarien, Beurteilbarkeit und Relevanz

4.1 Die Relevanz fremder Szenarien für ethische Theoriebildung

4.1.4 Bartelborth: Szenarien, die inkohärent mit unserem Wissen sind, sind schwache Kohärenztester

Thomas Bartelborth geht am Rande seiner Diskussion von Theorien der Rechtfertigung auf Gedankenexperimente ein. Seine Theorie (KTR), die Kohärenztheorie der Rechtfertigung322, soll zwei angenehme Konsequenzen für die Diskussion des Verfahrens Gedankenexperiment liefern.

Zum einen soll sie erklären können, warum Gedankenexperimente in den Naturwissenschaften eine Rolle spielen können: Sie Sind Kohärenztester. Nach (KTR) ist p für S „in dem Maße gerechtfertigt“ ,

wie sein Überzeugungssystem X kohärent ist [systematische Kohärenz]

322 Bartelborth [B] 193.

wie p kohärent in X hineinpaßt [relationale Kohärenz]

wie p zur Kohärenz von X beiträgt [Kohärenzerhöhung]

wie p Inkohärenzen von X vermeiden hilft [Inkohärenzvermeidung]323

Wenn Rechtfertigung zentral von Kohärenzüberlegungen abhängt, dann ist direkt einsichtig, warum Gedankenexperimente, die angeblich Kohärenztests sind, wichtig sein können für die Rechtfertigung von Meinungen. Bartelborths Beispiel (Galileis fallende Körper) entstammt der Physik, Bartelborth ist aber der Ansicht, daß auch philosophische Gedankenexperimente Kohärenztester sind. (KTR) soll nun aber auch erklären, was seltsam ist an Gedankenexperimenten mit sehr fremden Szenarien. Diese Gedankenexperimente sind nicht in sich fehlerhaft, sondern ihr Begründungswert ist eher gering:

Die KTR erlaubt uns aber nicht nur die Erklärung der Bedeutung von Gedankenexperimenten, sondern gibt uns zusätzlich auch Hinweise, wie diese „Experimente“ zu bewerten sind. So sollten sie sich als Kohärenztests vor unserem Hintergrundwissen nach Möglichkeit nur auf solche Annahmen unseres Hintergrundwissens stützen, die selbst nicht kritisch beurteilt werden. Je besser die im Gedankenexperiment vorgestellte Situation mit unserem Hintergrundwissen verträglich ist, um so ernster müssen wir das Gedankenexperiment nehmen; je utopischer und unwahrscheinlicher die Situation aber ist, um so weniger bedeutsam ist es, denn natürlich beziehen sich unsere Meinungen überwiegend auf den Bereich möglicher Welten, den wir für wahrscheinlich halten. Daran hat sich auch die Metabeurteilung entsprechender Inkohärenzen zu orientieren, schließlich wollen wir in erster Linie gut begründete Meinungen über unsere tatsächliche Welt erhalten.324

Am Grad der Fremdheit des Szenarios (dem Grad der Inkohärenz mit unserem Wissen) soll sich direkt bemessen, wie ernst wir ein Gedankenexperiment nehmen müssen. Versuchen wir die Begründung für diese These zu verstehen. Gedankenexperimente sollen Kohärenztester sein.

Worauf es eigentlich ankommt, ist die Kohärenz von angegriffener These und Hintergrundwissen. Das simple Bild scheint zu sein, daß diese beiden nicht direkt verglichen werden, sondern jeweils mit demselben Szenario. Je inkohärenter aber schon Hintergrundwissen und Szenario sind, desto weniger läßt sich an der Inkohärenz zwischen Szenario und angegriffener These etwas über die Inkohärenz von Hintergrundwissen und angegriffener These ablesen.

Dieses Bild vom doppelten Vergleich kann nur scheinbar erklären, warum wir Gedankenexperimente desto ernster nehmen müssen, je kohärenter ein Szenario mit unserem Wissen ist. Denn zwar wird in Gedankenexperimenten, die als Gegenbeispiel eine bestimmte

323 Bartelborth [B] 193. Die eckigen Klammern finden sich im Original. Dies ist nicht die vollständige Formulierung von (KTR), es wird im folgenden festgelegt, was unter systematischer Kohärenz, Inkohärenz und relationaler Kohärenz zu verstehen ist. Für unsere Zwecke genügt es aber zur Kenntnis zu nehmen, daß Rechtfertigung für Bartelborth zentral von Kohärenzüberlegungen abhängt.

324 Bartelborth [B] 205. Vgl. auch Bartelborth [TG].

These angreifen sollen, verglichen zwischen der Beurteilung des Szenarios und den Vorhersagen der These zum Szenario. Aber die Beurteilung des Szenarios wird nicht verglichen mit unserem Hintergrundwissen. Vielmehr geht in die Beurteilung des Szenarios (ein kontrafaktisches Konditional) ein Teil des Hintergrundwissens ein. Was in Situation S der Fall wäre, wird beurteilt auf der Grundlage von Teilen unseres Wissens. Wir sollten also zwei Fragen auseinanderhalten:

Erstens, wie kompatibel ist das Szenario mit unseren Meinungen? Zweitens: Gegeben bestimmte Annahmen, und gegeben die Welt ist so nah an der faktischen, wie es die Annahme zuläßt, können wir Widersprüche finden?

Versuchen wir, Bartelborths Idee also anders auszubuchstabieren. Wir beurteilen Szenarien mittels kontrafaktischer Konditionale. In diese Beurteilung geht unser Wissen ein. (Ein simpler, weil kausaler Fall: Wenn ich beurteilen soll, was geschehen würde, ließe ich eine Porzellantasse aus drei Meter Höhe auf Asphalt fallen, so geht in meine Beurteilung implizit Wissen über die Konsistenz von Porzellan ein, über die Haltbarkeit der spezifischen Tassenform, etc.) In diesem Sinn ist eine philosophische Theorie, die sich als inkompatibel mit der Beurteilung des Szenarios herausstellt, inkompatibel mit dem Hintergrundwissen, das in die Beurteilung eingegangen ist.

Diese Interpretation trifft nun zwar die Vorgänge in einem Gedankenexperiment, aber sie zielt an dem vorbei, was Bartelborth meint, wie sich an einem Beispiel ablesen läßt.

Bartelborth selbst nennt Parfits Teletransportationsszenario, in dem eine exakte Kopie eines Körpers erstellt wird, wobei das Original erhalten bleibt.325 Bartelborth gibt nicht an, wie das Gedankenexperiment funktionieren soll, das auf einem Szenario dieser Art aufbaut. Sein Einwand besteht darin, nachzuweisen, daß das Szenario physikalisch unmöglich ist, wenn die Kopien auch auf atomarer Ebene identisch sein sollen:

Doch bei dieser Anforderung paßt zumindest der Verzweigungsfall – aber vermutlich auch die

„normale“ Teletransportation – nicht tatsächlich in unser Hintergrundwissen. So erläutert Penrose, daß es nach der besten wissenschaftlichen Theorie, die wir jemals hatten, der Quantenmechanik nämlich, unmöglich ist, eine solche Kopie bis in die Mikrostruktur vorzunehmen. Penrose weist explizit darauf hin, daß derartige Teletransportationen physikalisch unmöglich sind. Diese physikalische Unmöglichkeit „erledigt“ einen Verzeigungseinwand [sic!]

natürlich nicht endgültig, aber sie kann ihn doch zumindest erheblich abschwächen, zeigt sich doch, wie inkohärent sich die Teletransportation mit Verzweigung sich in unserem Hintergrundwissen ausnimmt.326

Nun sollte man zunächst erwähnen, daß Parfit das Szenario der verzweigenden Teletransportation in erster Linie nicht benutzt, um für seine eigene, reduktionistische Theorie zu

325 Dieser branch-line case findet sich bei Parfit [RP] 200f.

326 Bartelborth [B] 206.

argumentieren, sondern um unsere Meinungen über personale Identität explizit zu machen.327 Diese Gedankenexperimente anzugreifen anstatt der Teilungsszenarien, anhand derer Parfit seine Theorie nahe legen will,328 spricht zumindest nicht gegen Parfits reduktionistische Theorie, die gerade behauptet, daß unsere Meinungen über personale Identität in manchen Punkten falsch sind. Bartelborth ist dieser Umstand wohl klar: Es ist der Reduktionist à la Parfit, der auf die Teletransportationsfälle reagieren muß.329

Der Teletransportationsfall mit Verzweigung nimmt sich tatsächlich inkohärent vor unserem Hintergrundwissen aus. Aber warum soll das ein Grund sein, das Gedankenexperiment abzulehnen? Wie wir gesehen haben, funktioniert ein kontrafaktisches Gegenbeispiel ja nicht in der Art, daß erst Szenario und Hintergrundwissen verglichen werden und dann Szenario und angegriffene These. Und daher ist der Verweis auf die Inkohärenz von Szenario und Hintergrundwissen erst einmal ganz irrelevant für die Beurteilung von Parfits Gedankenexperiment. Inwiefern die physikalische Unmöglichkeit des Szenarios Einfluß auf die Beurteilung des Szenarios hat und somit irgendwie Einfluß haben könnte auf Kohärenz oder Inkohärenz von beurteiltem Szenario und angegriffener These, wird nicht deutlich.

Vielleicht können wir uns Hilfe erhoffen von der Idee, daß sich „unsere Meinungen überwiegend auf den Bereich möglicher Welten, den wir für wahrscheinlich halten“ beziehen. Das könnte zum Beispiel bedeuten: Wenn ein Szenario in vielen Punkten schlecht verträglich mit unserem Hintergrundwissen ist, so ist unsere Beurteilung des Szenarios weniger verläßlich als Beurteilungen alltäglicher Situationen. Umso schwächer aber die Beurteilung des Szenarios begründet ist, desto weniger muß uns die Inkohärenz zwischen ihr und der angegriffenen These kümmern.

Wenn das der Kern von Bartelborths Einwand ist, so trägt er gegen konkrete Gedankenexperimente nichts aus. Denn es stimmt zwar, daß wir oft Probleme haben, besonders fremde Szenarien zu beurteilen. Aber daß die Beurteilung mit zunehmender Fremdheit immer schwieriger wird, ist falsch. Ein Szenario wird immer in bestimmter Hinsicht beurteilt, nie versuchen wir alle wahren kontrafaktischen Konditionale zu finden, die die Beschreibung des

327 „By considering these cases, we discover what we believe to be involved in our own continued existence, or what it is that makes us now and ourselves next year the same people. we discover our beliefs about the nature of personal identity over time.” Parfit [RP] 200.

328 Z.B. „My Division“ Parfit [RP] 254.

329 Bartelborth [B] 206. Ausgerechnet diese Fälle zu wählen ist insofern unglücklich, als die Debatte meistens darauf zielt, Parfit einen Fehler nachzuweisen. Ich erhöhe die Verwirrung aber nicht noch einmal, indem ich Bartelborths These an einem anderen Parfit-Gedankenexperiment diskutiere als Bartelborth selbst.

Szenarios als Antezedens haben. Und so gibt es alltägliche Szenarien, die in bestimmter Hinsicht sehr schwer oder unmöglich zu beurteilen sind. Und es gibt sehr fremde Szenarien, die in bestimmter Hinsicht sehr einfach zu beurteilen sind.

Bartelborths Beschränkung der Nützlichkeit von Gedankenexperimenten kann also nicht überzeugen. Es wäre auch ein überraschendes Ergebnis, daß wir philosophische Gedankenexperimente in ihrer Überzeugungskraft danach sortieren könnten, wie fremd das Szenario ist. Dies ist ein Punkt, den Kühne [MG] für wissenschaftliche Gedankenexperimente gegen Bartelborth vorbringt: Dessen Empfehlung naher Szenarien entspricht so gar nicht der wissenschaftlichen Praxis.330

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