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4.3 Le Moi Nouveau

5.1.1 Zeitung und Weblog

Die Kunstfigur »fefe« des IT-Sicherheitsexperten Felix von Leitner nennt es »Ener-giesparmodus der Zeitungsbranche«: Die Umsatzzahlen verheißen das Ende der (gedruckten) Zeitung, wie wir sie kennen. Alternative Modelle, wie das Genossen-schaftsmodell der »taz« oder die nutzerfinanzierten »Krautreporter« belegen, dass die Einnahmen durch Werbung und Abonnements nicht ausreichen, um ein gewinn-trächtiges Unternehmen in dieser Branche zu führen. Die gesellschaftliche Frage:

Ist es schlimm, dass Zeitungen nicht mehr verkauft werden können? Welchen (ge-sellschaftlichen, moralischen und monetären) Wert wird dem Journalismus in einer Demokratie zugeschrieben?

Blicken wir in die Anfänge des Zeitungswesens, finden wir Belege, dass die Rolle von Journalismus und Zeitungen kaum überschätzt werden könne, wie der schottische Philosoph Thomas Carlyle schrieb:

[Edmund] Burke said there were Three Estates in Parliament; but, in the Reporters’ Gallery yonder, there sat a Fourth Estate more important far than they all. It is not a figure of speech, or a witty saying; it is

Pädagogik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977, S. 33–50, S. 42-43. Die Hervorhebung des Begriffs

»Automat« ist im Original, wie so üblich bei Kant, gesperrt und nicht kursiv gesetzt.

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KAPITEL 5. KREATIONEN

a literal fact,—very momentous to us in these times. Literature is our Parliament too. Printing, which comes necessarily out of Writing, I say often, is equivalent to Democracy: invent Writing, Democracy is inevitable. Writing brings Printing; brings universal every-day extempore Printing, as we see at present. Whoever can speak, speaking now to the whole nation, becomes power, a branch of government, with inalienable weight in law-making, in all acts of authority. It matters not what rank he has, what revenues or garnitures: the requisite thing is, that he have a tongue which others will listen to; this and nothing more is requisite.229 Carlyle schrieb dies wenige Jahre vor der Erfindung der Rotationspresse, die das Zeitungswesen und damit die Verbreitung von politischen Informationen revolutio-nierte, vor allem in ökonomischer Hinsicht. Das frühe Zeitungswesen konzentrierte sich auf die Inhalte, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität hatten, hier wurde eine Meinung publiziert. Wenn einem (wohlhabenden) Bürger ein be-stimmtes Blatt missfiel, gründete er einfach eine eigene Zeitung, veröffentlichte seine Gegenmeinung, die zusammen mit den vielen anderen Meinungen in ihrer Gesamtheit die öffentlich wahrnehmbare »Bürgermeinung« darstellte. Die einzelnen Zeitungen und Magazine waren wie Banner, unter denen sich Bürger versammeln konnten und die dann natürlich auch gezählt werden konnten, darauf werden wir noch zu sprechen kommen in Kapitel 7.1.

Je größer die Leserschaft, desto attraktiver erscheint sie den Machthungrigen der Welt, diagnostizierte der Publizist Albert Schäffle dreißig Jahre später:

[Der Tagespresse] muß sich bedienen, wer das Volk belehren oder belü-gen, öffentliche Anerkennung oder öffentliche Verurteilung herbeiführen, terrorisieren oder beschmeicheln, anfeuern oder abschrecken und die Mas-senansicht, das Massengefühl und den Massenwillen überhaupt in irgend welche Bahn lenken will.230

Diese der Presse zugeschriebene Macht weckt Begehrlichkeiten bei Staatenlenkern und solchen, die es werden wollen, egal welcher politischen Couleur sie zuzuschreiben sind. Die Gestaltungsmacht der Presse kann von Regierungen sehr leicht (aus-)genutzt werden, wenn sie an einem Ort gebündelt oder zumindest von wenigen kontrolliert wird. In Deutschland ist die Gefahr der Machtbündelung im Zeitungswesen seit dem zweiten Weltkrieg relativ klein, da es grundsätzlich jedem erlaubt war (und ist), eine Zeitung herauszugeben und so selbst zum »Lenker des Massenwillens« zu werden.

Carlyle, Schäffle und alle Journalisten und Publizisten nach ihnen setzten voraus, dass eine Vielzahl an geäußerten Meinungen auch eine Meinungsvielfalt darstellt.

Dahinter steckt die Annahme, es gehe dem Publizisten um die Wahrheit, der man sich ja stets nur nähern kann im Streit-Spiel der Meinungen. Dieses Spiel der öffentlichen Meinungsbildung ist im Laufe der Zeit jedoch durch Schummler immer stärker korrumpiert worden, die bewusst die Regeln für einen persönlichen Vorteil verletzten, meist in ökonomischer Hinsicht. Nicht zuletzt dank der prekären Situation, dass die

229. Thomas C a r ly l e: On Heroes, Hero-Worship, & the Heroic in History, London: James Fraser, 1841, S. 265.

230. S c h ä f f l e: Bau und Leben des socialen Körpers (wie Anm. 67), zitiert nach P ö t t k e r: Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag (wie Anm. 67), S. 125.

5.1. SENDUNG UND RÜCKKOPPLUNG

Anzahl der Abonnenten die Preise der Anzeigenkunden bestimmen, dürfen Zeitungen fortan nicht nur Medium sein, sondern müssen zusätzlich ein profitables Produkt werden. Wenn es jedoch in letzter Absicht nur noch darum geht, die meisten Leute unter den eigenen Banner zu scharen, wird man lenkbar durch die »Unsichtbare Hand« des Marktes.

In den letzten 15 Jahren konnten wir, besonders in den Vereinigten Staaten von Amerika, eine einzigartige Transformation beobachten, wie die Journalisten Juan Gonzáles und Joseph Torres 2011 schrieben:

How did the newspaper industry go from record profits at the beginning of this century to doom and gloom less than ten years later? According to the most popular current narrative, the Internet is the primary cul-prit. Commercial websites like Craigslist and Monster.com drained away newspaper ad revenues, while aggregators like Google and Yahoo profited unfairly from using as their own content the news they appropriated from the free websites of daily papers. While some of this is no doubt true, we believe Old Media’s crisis was largely a result of self-inflicted wounds.

Quite simply, the industry steadily capitulated to an insatiable demand from Wall Street investors for maximum short-term effort.231

An dieser Stelle wollen wir jedoch nicht nach den Ursachen der »Old Media’s crisis« suchen (wir werden zur Krise des Journalismus’ noch im Unterkapitel 5.3.1 zu sprechen kommen), sondern den »tiefgreifenden Wandel der medialen Öffentlichkeit«

betrachten, wie es die Arbeitsgruppe »Informatik und Gesellschaft« des Instituts für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin ungefähr zur gleichen Zeit ausdrückte:

Das aktuelle Zeitungssterben belegt es. Wir sind mitten in einem sehr tiefgreifenden Wandel der medialen Öffentlichkeit. Die gedruckte Zeitung als Basis einer Öffentlichkeit, die einst als vierte Gewalt verdächtigt wurde, hat sich schon lange dem Fernsehen ergeben, aber auch dessen Strahlkraft lässt nach. Das Internet, obwohl erst seit gut fünfzehn Jahren kommerziell und öffentlich zugänglich, scheint zur medialen Basis der Selbstverständigung der politischen und kulturellen Öffentlichkeit oder besser Öffentlichkeiten zu werden. Digitale Medien sind zeitnah, stets und überall griffbereit – nicht nur zur Information und Rezeption, sondern auch, um sich zu Wort und Foto und Video zu melden, auch wenn die einzelnen Stimmen im allgemeinen Murmeln unterzugehen scheinen.232 Blog und Zeitung haben viel gemeinsam, beide nutzen hauptsächlich die Kultur-technik Schrift für ihre Inhalte, aber unterscheiden sich in einem zentralen Punkt:

Die kommunikative Verbindung zu anderen Nachrichtenquellen und zum Leser ist einzigartig und in der Form nur im Digitalen überhaupt zu verwirklichen. Werfen wir nun einen Blick auf diese Blog-o-Sphäre.

231. Juan G o n z á l e sund Joseph T o r r e s: News for All the People, New York: Verso, 2011, S.349.

232. T ry s t e r o: Öffentlichkeit im Netz – the digital public, Webseite zur Veranstaltung der Arbeitsgruppe »Informatik in Bildung und Gesellschaft« des Instituts für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin. Online unterhttp://waste.informatik.hu-berlin.de/tagungen/

digitalpublic/. Der Autor war einer der Organisatoren und Redner.

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KAPITEL 5. KREATIONEN

Die »allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Sprechen« nannte Heinrich von Kleist das Phänomen, dass wir oft erst wissen, was wir eigentlich ausdrücken wollten, nachdem wir versucht haben, es auszudrücken. Kleist betont, dass die Klugheit des Gedankens nicht davon abhängt, wie klug der Zuhörer sei, nein, nur die Tatsache, dass da jemand Anderes ist, bewirkt die Verfertigung des Gedankens in einer bestimmten, tradier- und kodierbaren Form. Die Gedanken sind frei, wild und ungeordnet, bis sie formuliert werden. Im Anfang war das Wort. Dann die Handschrift, dann die Bleilettern, schließlich die Digitalen Medien.

Einer der ersten deutschsprachigen Weblogs, die diesen Namen auch trugen und die dahinter stehende Ideologie des vernetzten Individuums teilten, war das Technikblog

»Basic Thinking«. Der Gründer Robert Basic spielt natürlich mit dem zweideutigen Titel, jedenfalls ging es ihm stets um das Denken, genauer: um die Beobachtung des eigenen Denkens durch sich und andere. Dies betonte er zuletzt in einem retrospektiven Beitrag:

Beim Bloggen denken, manchmal auch nachher. Das war mir zumindest die natürlichste, unredigierteste und ehrlichste Form des rohen und un-verbrauchten Bloggens. Wer als Blogger seine Texte schleift und redigiert, hat Angst vor der Bühne, ringt um Ruhm, Glanz und Gloria, pffft sage ich nur dazu.233

Die ehrlichste Form, ein interessanter Ausdruck. Einen neuen chic konnte man in der Tat bei den Bloggern der ersten Stunde beobachten: Grammatikalische Regeln stehen den rohen, ungezügelten Gedanken im Weg, im Rausch des Verfertigens müssen schon mal drei bis fünf Ausrufezeichen hinter einer wichtigen Aussage stehen, oft ist dann die Umschalt-Taste nicht gedrückt, so dass sich die Ziffer »1« unter die Satzzeichen mischt. Damit soll die Unmittelbarkeit des Gedankens betont werden, mit all den Zweifeln, Ungenauigkeiten und Widersprüchen, die uns aus dem persönlichen Grübeln so vertraut sind.

Der typische Blogger tritt in einen Dialog mit seiner sozialen Umwelt, er stellt nicht nur Platz für Kommentare bereit, das gab es ja auch bei den meisten Zeitungen, er antwortete auch darauf, er bezieht Stellung. Persönliches wird bewusst offen gelegt, Freude geteilt, Trauer öffentlich verarbeitet. Diese Art des öffentlichen Bekenntnisses gab es seit Augustinus nicht mehr, sie sind eine eigene Ausdrucksform der sozialen Form des Bewusstseins, eine Verinnerlichung der Öffentlichkeit. Die befürchtete Vereinzelung der Blogger bleibt aus, sie treffen sich virtuell ebenso wie im meat space.

Seit 2007 treffen sich jährlich Menschen, die sich als Aktive einer (deutschsprachi-gen) Netzöffentlichkeit sehen, »IRL« auf der Konferenz »re:publica«. Im zehnten Jahr sprach Sascha Lobo auf der »#rpTEN« aus, was viele ohnehin schon dachten: Diese diverse Gemeinschaft von Bloggern eint nicht etwa ein gemeinsames politisches Inter-esse, sondern schlicht die gemeinsam verwendete Software. Ganz ohne Kenntnisse von Internetprotokollen und Auszeichnungssprachen konnte man seit 2003 mit Hilfe der Software »wordpress« (kostenlos) einen Blog betreiben oder von der Entwicklerfirma

233. Robert B a s i c: Robert Basic an alter Wirkungsstätte: Die Geschichte von Blogs, Teil 1, in: Basic Thinking 29. Oktober 2015, u r l: https://www.basicthinking.de/blog/2015/10/2 9/blogs-robert-basic/.

5.1. SENDUNG UND RÜCKKOPPLUNG

(gegen Bezahlung) betreiben lassen. Damit öffnete sich das Netz auch für Leute, die nicht über grundlegendste Kenntnisse an Publikationstechniken verfügten.

Als Wenige mit dem Bloggen um die Jahrtausendwende begannen, gab es wortwörtlich Nichts, was uns das Leben bequemer machte! Weder war Social Media ein Begriff noch gab es YouTuber, nicht einmal Google war besonders heiß auf Blogs. [Usenets], statische Webseiten, Foren, Chats und die jungen Blogs, mehr gab es nicht. Harte Zeiten. Stimmts? Nein, nicht wirklich. [. . . ] Die Tatsache, dass sich Blogs als einfach zu bedienendes Werkzeug herumsprachen, um mit anderen Menschen kommunzieren [sic!]

zu können, ist bereits der ganze Clou.Dein Werkzeug. Nur deins. Mach was du willst damit. Befülle es mit egal was. Freiheit! Du! Deins! Gib den Menschen ein simples Ich-Werkzeug in die Hand und es erobert im Handumdrehen die Welt. Handys und Smartphones konnten das. Social Networks konnten das. Instagram und WhatsApp konnten das. Das Muster bleibt stets gleich. Einfach und Ich.234

Zum Massenmedium sind Blogs erst durch die entsprechende Software geworden, die Begeisterung des Publizierens ist jedoch schon bei »Proto-Blogger« (New York Times) Justin Hall zu erkennen, der die Netzöffentlichkeit seit 1994 an seinen Gedanken und Erlebnissen teilhaben lässt:

The whole concept [of the world wide web] immediately blew me away.

Soon after surfing the web, I realized that nearly all of the online publishing efforts were amateur – people who knew how to use HTML, but didn’t necessarily have anything in particular to say. – I could put my writings and words up electronically, make them look pretty, and engage the web with links. And I didn’t have to pay anyone to do any of it!235

Hall startete sein webbasiertes Tagebuch unter dem Titel »Justin’s Links from the Underground« als Student der Journalistik. Es scheint daher kein Zufall zu sein, dass sich seine Kritik wie eine Paraphrasierung von Brecht Kritik am Radio liest, der in einem seiner Aufsätze zur »Radiotheorie« beklagte: »Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.«236 Nicht nur aus diesem Grund lohnt ein Vergleich der Techniken Rundfunk und seinem digitalen Pendant Twitter.