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2.3 Digital(t)räume

3.1.4 Rückkopplung: Allendes Synco

Die Frage nach der besten Steuerung einer großen Organisation, beispielsweise eines Staates, ist so alt wie die Politik selbst. Anders als im deutschen Wort »Regierung«

finden wir im englischen »Government«, im französischen »Gouvernement« und im spanischen »Gobierno« die Kybernetik, die Lehre der Steuerungskunst wieder.115

In dem »Gründungsdokument« von Norbert Wiener, »Cybernetics«, werden Steue-rungsmechanismen einfacher Systeme anhand von Beispielen aus der Natur beschrie-ben. Motten werden vom Licht angezogen, Schaben davon abgestoßen.116 Durch eine

113. S a m j at i n: Wir (wie Anm. 112), S. 15-16.

114. Mit dem Verhältnis des Einzelnen zur Masse beschäftigt sich das Kapitel 4.

115. Das dem deutschen zugrunde liegende lateinische Wort »regere« heißt eigentlich »auf gerader Bahn führen«, »lenken«, »herrschen«. Wir werden uns noch einmal in Kapitel 7.1.2 ausführlicher mit der versteckten Kybernetik heutiger Politik beschäftigen.

116. Die natürliche Selektion hat das Verhalten der Motten in Großstädten verändert, wie Forscher der Universität Basel im April 2016 gezeigt haben. So fühlen sich Stadt-Weibchen der Art Yponomeuta cagnagella deutlich weniger von Licht angezogen als ihre von der Lichtverschmutzung verschonten Artgenossinnen. Florian A lt e r m at t und Dieter E b e rt: Reduced flight-to-light behaviour

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

geschickte Kombination von Licht und Schatten können wir so einfache Wesen durch ein Zimmer lenken. Es genüge also, Robotern die »Intelligenz« einer Motte oder einer Schabe zu geben, um sie (an-)steuern zu können.117

Die Kybernetik orientiert sich an einem Modell des Lebens selbst, sie ist versucht, komplexe, chaotisch anmutende soziale Systeme lediglich als Organisationsproblem anzusehen. Diese Sichtweise ist nicht neu, darauf verwies bereits Norbert Wiener mit seinem Hinweis auf den Hobbes’schen Leviathan und existierende Föderalstaaten.118 Neu ist jedoch, das wurde auf den Macy-Konferenzen Mitte des vergangenen Jahrhunderts deutlich, dass in dieser interdisziplinären Wissenschaft bewusst die terminologischen und methodischen Grenzen der Human-, Technik- und Sozialwissen-schaften aufgehoben werden. Wenn eine Firma mit einem Lebewesen verglichen wird, ihre Arbeiter mit Organen gleichgesetzt werden, so ist dies nicht nur eine Metapher – es ist genau diese Denkweise im Modell, die den Kybernetiker ausmacht.119

Eine zentrale Annahme in Stafford Beers Management-Kybernetik ist, dass sich komplexe Systeme (Firmen, Staaten, menschliche Körper) mit Hilfe von genau fünf Teilsystemen beschreiben lassen.120

Das erste System bildet den operationalen Teil (Arbeiter, Bürger, Parasympathikus), der über das zweite, interkommunikative, System (Memos, Bürgerbeteiligungen, Sympathikus) mit dem dritten System verbunden ist, das alltägliche Aufgaben befriedigend lösen soll. Der Abteilungsleiter, die Behörde oder die medulla oblongata regeln die alltäglichen Aufgaben und leiten Anweisungen weiter.

Das vierte System ist ein Mittler zwischen den Anweisungen der unteren Systeme mit dem obersten System: dem System Fünf. System Vier hat eine Schlüsselrolle im komplexen System inne, es tritt auf in Form von Mitgliederkonventen, Enquête-Kommissionen oder dem kommunikativen Zusammenspiel von Diencephalon, Basal-ganglien und dem dritten Ventrikel des menschlichen Gehirns.121 Dort bestimmen langfristige Strategien zum Überleben des Gesamtsystems, welche Mitteilungen mit welcher Priorität behandelt werden.

Das System Fünf besteht ausboard meetings, Parlamentsversammlungen oder eben der Ansammlung von Millionen Neuronen, die wir zerebralen Kortex nennen.

of moth populations exposed to long-term urban light pollution, in: Biology Letters (2016), doi:

10.1098/rsbl.2016.0111.

117. Norbert W i e n e r: Cybernetics. Or control and communication in the animal and the machine, Bestand der SEL Bibliothek, Stuttgart. Signatur B6067, New York: John Wiley & Sons, 1948. Einige Techniker scheinen das Gedankenspiel mit der Motte und der Schabe allzu wörtlich genommen haben, wie die Meldung zu ferngesteuerten Schaben per Telespiel zeigt. Florian Rö t z e r, Eine fernsteuerbare Schabe führt zu einer moralischen Kontroverse, Telepolis-Artikel vom 11.11.2013, http://www.heise.de/tp/artikel/40/40296/1.html.

118. Ebd., S. 181.

119. Da es ebenso viele Teilbereiche der Kybernetik wie Kybernetiker gibt, werde ich mich im Folgenden auf die Lehren von Norbert Wiener, Stafford Beer und Heinz von Foerster beziehen.

120. Stafford B e e r, Kybernetik und Management, 3. erw. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer, 1967.

121. Eine Leserin findet diese Funktionszuschreibungen als Pathologin »haarsträubend«. Am ehesten entspreche noch der Thalamus dem System Vier. Der Mediziner Salvador Allende sah wohl etwas gutmütiger über die Simplifizierung Beers hinweg. Die Übersetzung Medinas ist in diesem Bereich ebenfalls ungenau. Die Medizin ist jedoch so ein fundamentaler Bestandteil der Kybernetik gewesen, dass ich auf der Analogie an dieser Stelle bestehen muss.

3.1. FUNKTIONEN DER ÖFFENTLICHKEIT IN POLITISCHEN UTOPIEN

Die einem solchen System inhärente Spannung zwischen individueller Freiheit der einzelnen Komponenten innerhalb von System Eins und dem Wohlergehen des Gesamtorganismus’ gilt es zu beherrschen, zu steuern.

Wie Eden Medina in ihrem Buch »Cybernetic Revolutionaries« hinwies, hat diese Spannung eine direkte Entsprechung in der Auslegung der Gedanken von Karl Marx durch den chilenischen Präsidenten Salvador Allende:

Allende’s interpretation of Marx’s writings emphasized the importance of respecting Chile’s existing democratic processes in bringing about socialist reform, a possibility that Marx alluded to but never realized. In contrast to the centralized planning found in the Soviet Union, Allende’s articulation of socialism stressed a commitment to decentralized governance with worker participation in management, reinforcing his professed belief in individual freedoms.122

Allende bezeichnete sich selbst als Marxist, es darf jedoch bezweifelt werden, dass er Marx als so friedliebend gesehen hat, wie von Medina angedeutet. Im einleitenden Zitat am Kapitelanfang haben wir gelesen, dass Marx nicht gerade begeistert von Reformen war, ein solch »chilenischer Weg« (Régis Debray) würde ihm wahrschein-lich auch nur als Energieverschwendung gesehen werden und von der notwendigen Revolution des Proletariats ablenken. Von Debray sind auch die Streitgespräche zwischen Ernesto »Che« Guevara und Salvador Allende überliefert, die genau dies zum Thema hatten. Allende wusste von der Revolutionsbegeisterung von Marx und seinen südamerikanischen Interpreten, für ihn, den Spross einer Aristokratenfamilie, kam Gewalt nicht in Frage.

Der Weg, den Salvador Allende beschreiten möchte, besteht aus einer demokratisch legitimierten Revolution mit Rotwein und Empanadas – Chile ist nicht Kuba. 1970 wurde er mit knapper Mehrheit gewählt, das Wahlergebnis spiegelte die Spaltung des chilenischen Volkes wider, die Kandidaten der Linken, Rechten und der Mitte bekamen jeweils ein Drittel der drei Millionen abgegebenen Stimmen. Allende war Real-Politiker genug, um die Sprengkraft nicht zu unterschätzen. Als Mediziner begriff er sofort die Idee hinter der von Stafford Beer beschriebenen Kybernetik und erkannte ihr Potential für die Staatsführung. Dieses Verständnis hatten nicht alle Projektbeteiligten, am wenigsten wohl die ausführenden Techniker:

Project Cybersyn is an example of the difficulty of creating a sociotech-nical system designed to change existing social relationships and power configurations and then enforce the new patterns over time. Scientific techniques may conceal biases with a veneer of neutrality and thus lead to undesirable results. For example, Allende charged the Project Cybersyn team with building a system that supported worker participation. Yet the scientific techniques Chilean engineers used to model the state-controlled factories resembled Taylorism, a rationalized approach to factory

produc-122. Eden M e d i n a: Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s Chile, Cambridge: MIT Press, 2011, S. 39. Als Beleg führt Medina den Aufsatz von Karl Marx, »The Possibility of Non-Violent Revolution«, in: The Marx-Engels-Reader, hrsgg. v. Robert Tucker, New York: Norton, 1978, S. 522-524 an.

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

tion that disempowered workers and gave management greater control over labor.123

In den zahlreichen Broschüren und Arbeitsanweisungen findet sich immer wieder das Motiv vom »Freund Computer« in einer suggestiven Art, die auf eine zuvor existie-rende Computerfeindlichkeit deutet. Kein Wunder, Computersysteme der damaligen Zeit dienten den meisten Ländern als Machtverstärker, was die Weltöffentlichkeit nicht zuletzt durch den Ausbruch des Vietnam-Krieges erfuhr, ein Krieg, der auch und gerade mit Hilfe US-amerikanischer Computersysteme geführt wurde. Viele, alte wie junge Menschen der späten 1960er Jahre sahen Computer als etwas Böses an, als

»part of a technological conspiracy where the rich and powerful used the computer’s mightagainst the poor and powerless«.124

Die Sorgen sind ja durchaus nicht unbegründet, moderne Kriege sind ohne Com-putereinsatz schlicht nicht möglich. Aber auch im Falle der Idee eines kybernetisch unterstützten Sozialismus’ gilt die Warnung des Chors bei Antigone: Die Technik kann sowohl einen demokratischen als auch einen totalitären Sozialismus unterstützen.125 Die weiteren hier beschriebenen Ideen von Stafford Beer wurden nicht umgesetzt, nicht zuletzt, weil das Militär mit Unterstützung des US-amerikanischen Geheim-dienstes CIA den demokratisch gewählten Präsidenten in einem coup d’etat stürzte.

Ein Jahr vor diesem abrupten Ende konnte man bei Stafford Beer eine Veränderung wahrnehmen. »Er kam als Geschäftsmann nach Chile – und ging als Hippie«, be-schreibt Humberto Maturana den Briten im Gespräch mit Eden Medina. Beer war nach wie vor begeistert von der friedlichen, demokratischen Revolution, die er in Chile beobachten konnte und überlegte, welche Techniken und Ideen ein »Kybernetischer Sozialismus« einsetzen könnte. Radio und Fernsehen spielten im Chile der 1970er Jahre eine große Rolle für Bevölkerung und Regierung, Regierungserklärungen etwa wurden direkt gesendet, ja, sogar am Tag des Putsches wandte sich Allende noch per Radioansprache an sein Volk. Diese unidirektionale Form der Kommunikation empfand Beer als Störung des homöostatischen Equilibriums, wie Medina schreibt:

Thus Beer proposed building a new form of real-time communication, one that would allow the people to communicate their feelings directly to the government. He called this system Project Cyberfolk. In a handwritten report Beer describes how to build a series of »algedonic meters« capable of measuring how happy Chileans were with their government at any given time. [. . . ] Beer used the word algedonic to describe a signal of pleasure or pain. An algedonic meter would allow the public to express its pleasure or pain, or its satisfaction or dissatisfaction with government actions.126

Stafford Beer schlug also den Einsatz eines Echtzeitrückkopplungsystems vor, das er »Cyberfolk« taufte. Das zentrales Element war das so genannte »algedonische

123. M e d i n a: Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s Chile (wie Anm. 122), S. 215.

124. Steven L e v y: Hackers, 25th anniversary edition, Sebastopol: O’Reilly Media, 2010, S. 124.

125. Für die weltweiten Reaktionen auf das Projekt, siehe insb. Kap. 6 aus M e d i n a: Cybernetic Revolutionaries: Technology and Politics in Allende’s Chile (wie Anm. 122), S. 171-209.

126. Ebd., S. 89.

3.1. FUNKTIONEN DER ÖFFENTLICHKEIT IN POLITISCHEN UTOPIEN

Abbildung 3.1: Algendonische Schleife des Projekts »Cyberfolk«, das von Stafford Beer 1972 vorgeschlagen wurde.

Messgerät«. Es besitzt einen analogen Drehknopf, der skalenfrei und stufenlos zwi-schen den Polen »unhappy« und »happy« bewegt werden kann. Nutzerin war die Bevölkerung, ihre Mitglieder sollten selbst entscheiden können, welche Metriken sie verwenden, um Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit Hilfe einer Zeigerposition auszudrücken. Anders als bei Umfragen mit Fragebögen, sollte durch diese absolute Subjektivität einer systematischen Messabweichung (bias) vorgebeugt werden.

Um die Anonymität zu wahren, sollte die Rückkopplung analog, beispielsweise über den Stromverbrauch und über mehrere Haushalte aggregiert stattfinden. Darüber hinaus waren die Geräte nicht an eine Person, sondern an einen Haushalt bzw. an ein Empfangsgerät gebunden. Das Entscheidende, neben der Echtzeiterfassung der Empfindung des Volkes, war ihre Einsehbarkeit durch das Volk selbst. Nicht allein die Politiker oder Techniker sahen den algedonischen Zustand, auch die Zuschauer oder Passanten sollten an öffentlich zugänglichen Stellen (und natürlich im Fernsehen) in Echtzeit die momentane Stimmungsmessung ablesen können.

Nehmen wir die Szene aus Beers Skizze (Abbildung 3.1): Wenn beispielsweise eine Vorstands- oder Regierungssitzung stattfindet, so findet sie öffentlich statt, übertragen im Radio oder, wie hier in der Skizze, im Fernsehen. An das Fernsehgerät ist ein algedonisches Messgerät gekoppelt, das die Daten in Echtzeit zur Sitzung überträgt.

Sowohl der Vorstand bzw. die Regierung können die Stimmung mit einem Blick erfassen und entsprechend reagieren. Aber auch die Zuschauer können nun sowohl sehen, wie sich das Volk insgesamt »fühlt«, als auch auf die Reaktion ihrerseits reagieren. Der Regelkreis ist geschlossen, der Dialog ist eröffnet.

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