• Keine Ergebnisse gefunden

7.2 Geheimnis und Depublikation

7.2.3 Die Tragik der Allmende

Die Idee einer Allmende ist einleuchtend: Eine Gruppe von Dorfbewohnern verpflichtet sich, ein gemeinsames Feld zu bestellen oder ein Stück Wald gemeinsam zu erhalten, damit genügend Holz zur Verfügung steht et cetera. Der Begriff wurde im Mittelalter geprägt, aber das Prinzip ist so alt wie die Kulturtechnik Ackerbau. Die Allmende (engl. commons) wurde von den Bauern (commoners) durchaus respektiert, was man von den Herrschern des 16. Jahrhunderts nicht behaupten kann: Der Allmende-Raub, also die Enteignung von Weideflächen und Jagdgründen, die Abschaffung von Holzschlag- und Fischereirechten, gilt als einer der Ursachen für den Bauernkrieg. In England nahm der Einfluss dercommoner bis zum 17. Jahrhundert weitgehend ab, der der Großgrundbesitzer (Gentry) hingegen zu. Die Allmende-Rechte wurden im Zuge derenclosure movements schließlich ganz abgeschafft, unter anderem auch um den Rotationsplan der Felderwirtschaft umsetzen zu können.

Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft [société civile]. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: »Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.«394

Der flammende Appell Rousseaus im Zweiten Diskurs von 1750 richtet sich natürlich gegen das feudale Kontinental-Europa und seinen Umgang mit Landbesitz. Damit hat er auch den dort typischen Subsistenz-Landwirtschaftsbetrieb vor Augen. Auf der anderen Seite des Kanals jedoch hört niemand auf den warnenden Ruf, vielleicht

392. Dirk von G e h l e n: Überwachte Welt, in: Das Netz. Jahresrückblick Netzpolitik 2013-2014, hrsg. v. Philipp O t t o, Berlin: iRights.Media, 2013, S. 89–90, S. 89.

393. So zitiert Alan Ru s b r i d g e r hochrangige Regierungsvertreter in einem Blogbeitrag vom 19. August 2013, David Miranda, schedule 7 and the danger that all reporters now face,http://www.

theguardian.com/commentisfree/2013/aug/19/david-miranda-schedule7-danger-reporters.

394. Jean-Jacques Ro u s s e a u: Discours sur l’inégalité (1755), in: Diskurs über die Ungleichheit, hrsg. v. Heinrich M e i e r, 6. Auflage, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S. 1–383, S. 173.

7.2. GEHEIMNIS UND DEPUBLIKATION

auch, weil die einsetzende Landwirtschaftliche Revolution derartige Ernte-Überschüsse beschert, dass es keine Rolle spielt, wem das Land schlussendlich gehört.

Die Erträge scheinen den Kritikern einer gemeinschaftlich genutzten Agrarfläche recht zu geben, die von einer Tragik der Allmende sprechen. Der Begriff des englischen Ökonoms William Lloyd ist Ende der 1960er Jahre durch Gerrett Hardin wieder in Mode gekommen und bezeichnet hauptsächlich den Raubbau an der Natur durch die Handlungen von eigennützigen Individuen. Lloyd argumentiert beinahe schon spieletheoretisch (avant le mot), wenn er schreibt:

Prudence is a selfish virtue; and where the consequences are to fall on the public, the prudent man determines his conduct, by the comparison, of the present pleasure with his share of the future ill, and the present sacrifice with his share of the future benefit. This share, in the multitude of a large society, becomes evanescent; and hence, in the absence of any countervailing weight, the conduct of each person is determined by the consideration of the present alone. The present good is chosen; the present evil is refused.395

An anderer Stelle führt er aus, dass bei n beteiligten Mitgliedern der Allmende-Gemeinschaft zwar nur ein Anteil von 1/nan der Gesamtarbeit von jedem Einzelnen verlangt wird, dass dieser aber eben auch nur 1/ndes gemeinsam erwirtschafteten Gutes bekommt. Lloyd dreht das clever um, wenn er formuliert, dass dies im Um-kehrschluss bedeutet, dass man durch Nichtstun lediglich einen Schaden von 1/ndes Gesamtwertes in Kauf nehmen muss.

Sicher, wer Holz für den kalten Winter zum Heizen benötigt, wird sich eher moti-vieren als der Papiermacher, der das Holz lediglich als Substrat für die materielle Tinte und die immaterielle Information betrachtet. Wissen als »Geistiges Eigen-tum«, eigentlich ein Nicht-Wort, ist spätestens mit Gutenberg und den günstigen Papierpreisen zum handelbaren Gut geworden:

Die Gutenberg-Galaxis markierte eine tief greifende Umwälzung des in-tellektuellen Klimas. Am Ausgang des 13. Jahrhunderts begann es in Italien plötzlich von »Persönlichkeiten« zu wimmeln. Im 15. Jahrhun-dert trat deruomo universale auf: Es »erhebt sich mit voller Macht das Subjektive, der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches« (Burckhardt). Diejenigen, die als Rezipienten Zugang zu den Kulturgütern verlangten, waren selbst Autoren, eine neue Art von indivi-dualisierten Werkemachern, die den Lohn für ihre Kreativität auf einem Markt eintreiben und daher ihre Werke schützen mussten.396

Die von Volker Grassmuck angesprochene Proprietarisierung des aktuellen Wissens in Form von Urheber-, Vervielfältigungs- und Patentrechten trifft prekäre Wissen-schaftler besonders, denn sie haben verinnerlicht, was Newton zugeschrieben, aber bereits im 12. Jahrhundert deutlich formuliert wird:

395. William Forster L l o y d: Two Lectures on the Checks to Population: Delivered Before the University of Oxford, in Michaelmas Term 1832, J. H. Parker, 1833, S. 20.

396. Volker G r a s s m u c k: Freie Software. Zwischen Privat- und Gemeineigentum, 2., korrigierte Auflage, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2004, S. 43. Er zitiert Jacob B u rc k h a r d t: Die Kultur der Renaissance in Italien, Kröner, Stuttgart 1976, S. 123.

176

KAPITEL 7. MYSTERIUM ÖFFENTLICHKEIT

Bernhard von Chartres sagte, wir seien gleichsam Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen, um mehr und Entfernteres als diese sehen zu können – freilich nicht dank eigener scharfer Sehkraft oder Körpergröße, sondern weil die Größe der Riesen uns emporhebt.397

Nicht jedem Zwerg ist es möglich, die Schulter zu erklimmen. Zunächst muss er schließlich von der Existenz eines oder mehrerer Riesen wissen. Man könnte sich ein Verzeichnis vorstellen, ein Gelbe-Seiten-Buch für Riesen mit Schultervakanz. Solche Kataloge gibt es seit der Erfindung des Buchdrucks; einerseits waren Verleger wie Garamond daran interessiert, möglichst viele Käufer zu gewinnen, andererseits war die Kirche in großer Sorge um die schädlichen Auswirkungen durch das Lesen von

»verbotenen Büchern«. Dies zeigt sich gut bei der Entwicklung des europäischen Urheberrechts und seinen französischen Vorläufer, das droit d’auteur.

In elitärer Einigkeit verteilten Könige und Kirchen im Europa des 16. Jahrhunderts Druckprivilegien, um eine gewisse Kontrolle über die zirkulierenden Schriften zu wahren.398 Die Kirche erteilte jedoch nur für neue Bücher Druckprivilegien. Eine Doktrin, die in Frankreich von 1551 bis 1586 galt, überließ die alten Werke der Öffentlichkeit. Alle Autoren, die vor 1479 gestorben waren, galten alsauteurs anciens, ihre Schriften wurden als Allgemeingut betrachtet.

Die verschiedenen Interessen von Autor, Verleger, Leser, Kirche und Staat führen zu den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Rechte des Autors in Hinblick auf ein veröffentlichtes Werk. Als Extrempositionen formuliert könnte das französische droit d’auteur dem angelsächsischencopyright gegenüber gestellt werden.

Im französischen Urheberrecht bemüht man sich höchstinstanzlich, um die beson-dere Art des geistigen (geistlichen?) Eigentums festzustellen:

La plus sacrée, la plus légitime, la plus inattaquable, et, si je puis parler ainsi, la plus personnelle de toutes les propriétés, est l’ouvrage fruit de la pensée d’un écrivain ; c’est une propriété d’un genre tout différent des autres propriétés. Lorsqu’un auteur fait imprimer un ouvrage ou représenter une pièce, il les livre au public, qui s’en empare quand ils sont bons, qui les lit, qui les apprend, qui les répète, qui s’en pénètre et qui en fait sa propriété.399

Diese »propriété du public« diene dazu, »à éclairer l’esprit humain«, also zur Aufklärung des menschlichen Geistes beizutragen.400 Auf der anderen Seite haben wir, wie schon bei Erfindungen und dem damit verbundenen Patent- und Markenrecht, das kommerzielle Interesse der Urheber (und Verwerter) zu berücksichtigen.

397. Johannes von S a l i s b u ry: Metalogicon 3,4,46-50 (1159). Der Alchemist und Physiker Isaac Newton wird später die Ehre haben, als Urheber dieser Metapher zu gelten.

398. Die Privilegien wurden für ganze Städte und Regionen verteilt. Einige Verleger forderten jedoch persönliche Privilegien für bestimmte Edition eines bestimmten Werkes. Der Historiker Alain Viala datiert das erste personenbezogene Privileg auf 1469, das dem berühmtesten Verleger von Venedig, Aldus Manutius, zugesprochen wurde.

399. Formuliert in einer Rede von Isaac René le Chapelier 1791, zitiert nach https://www.

laquadrature.net/fr/le-chapelier-1791.

400. Zitiert nach der Seite des französischen Senats,http://www.senat.fr/rap/l05-308/l05-3084.

html.

7.2. GEHEIMNIS UND DEPUBLIKATION

Das erste Urteil des US-amerikanischen supreme courtszu »copyright« behandelte – ausgerechnet! – die Veröffentlichung von Kommentaren des supreme courts durch den Berichterstatter Henry Wheaton. Dieser verkaufte das aus 24 Bänden bestehende Kompendium, um sein karges Gehalt aufzubessern. Sein Nachfolger Richard Peters druckte das Werk nach, jedoch in kompakterer Form und viel günstiger. Wheaton verklagte Peters und verlor vor Gericht; aus der Urteilsbegründung:

That an author at common law has a property in his manuscript, and may obtain redress against anyone who deprives him of it or by obtaining a copy endeavors to realize a profit by its publication cannot be doubted, but this is a very different right from that which asserts a perpetual and exclusive property in the future publication of the work after the author shall have published it to the world. [. . . ] It may be proper to remark that the Court is unanimously of opinion that no reporter has or can have any copyright in the written opinions delivered by this Court, and that the judges thereof cannot confer on any reporter any such right.401 Die Meinungen und Kommentare der Richter dürfen nicht verwertet werden, da sie ja mit dem Richterspruch öffentlich gemacht worden sind. Anders verhält es sich mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie die besorgniserregende Entwicklung der Gegenwart zeigt. Die Teilhabe an der vita contemplativa wird durch wenige Wissen-schaftsverlage kommerzialisiert. Einer Wissenselite wird mit Hilfe von Steuergeldern ermöglicht, auf die digitalen Archive und Publikationsserver von Wissenschaftlern zu-zugreifen, was den meisten Bürgern verwehrt wird. Der Zugang zu wissenschaftlichen Informationen, zu digitalen Schulbüchern und Fachzeitschriften ist künstlich knapp gehalten, um Geschäftsmodelle aus dem vordigitalen Zeitalter auch weiterhin zu ermöglichen. MitDigital Rights Management und anderen Kopierschutzmaßnahmen werden Restriktionen aus der dinglichen Welt künstlich nachgebaut. Was nutzt uns das Wissen, was auch immer es sei, wenn wir es nicht weitergeben können?

Universitäten waren schon immer Stätten der Forschung und Lehre. Die Weitergabe der wissenschaftlichen Erkenntnis gehört ebenso wie ihre Akquirierung zu den Grund-aufgaben der scientia. In Zeiten von Inkubatoren (Brutstätten für die Vermarktung wissenschaftlicher Erkenntnisse) und Patenten auf triviale Gedankengänge, wirkt die Feststellung von Wolfgang Coy geradezu rebellisch: »In the long term all published ideas and expressions belong to the public.«402

Die Weitergabe von Erkenntnis und das Teilen von Wissen findet außerhalb der Schulen und Hochschulen zunehmend in der digitalen Welt statt. Sei es, dass öffentlich gehaltene Vorträge zusätzlich in Netzgestreamt werden oder dass Print-Medien eine Online-Version ihrer Artikel zur Verfügung stellen – das Wissen von der Welt erhalten wir verstärkt über die »magischen Kanäle« des Internets.

Die Argumente von Wissenschaftsverlagen wie Elsevier sind strukturähnlich zu denen, die sich gegen eine Allmende aussprechen: Es gehe um Qualität und

Er-401. U S S u p r e m e C o u rt: Wheaton v. Peters, 33 U.S. 8 Pet. 591 591, 1834, u r l: https:

//supreme.justia.com/cases/federal/us/33/591/case.html.

402. Wolfgang C o y: Sharing Ideas and Expressions in Global Communities, in: Berichte des Instituts für Informatik der Humboldt-Universität zu Berlin 2005,u r l:http://edoc.hu-berlin.d e/docviews/abstract.php?id=26375, S. 10.

178

KAPITEL 7. MYSTERIUM ÖFFENTLICHKEIT

tragssteigerung. Das erinnert sehr an die mittelalterliche Praktik von Feudalherren, den klugen Kopf möglichst tief in den Kerker zu sperren, um exklusiv von dessen Erfindungsgabe zu profitieren. Im »Sondermilieu« Universität dagegen

[. . . ] bildete sich die historische Errungenschaft der Freiheit von Forschung und Lehre heraus, auf der die Kooperation und der Wettbewerb um das beste Wissen für alle beruht. Die im Hochmittelalter entstandenen euro-päischen Universitäten bildeten einen Medienverbund aus Verarbeitung des gesprochenen Wortes zu handschriftlichen Büchern, Speicherung in Bibliotheken und Übertragung von Texten in einem eigenen Universi-tätspostsystem. In der frühen Neuzeit übernahmen dank Gutenbergs Erfindung Verlage die Produktion von Büchern, die entstehenden Territo-rialstaaten und später Nationalstaaten beanspruchten das Postmonopol.

An den Universitäten entwarf die Gelehrtenrepublik des 19. Jahrhunderts eine akademische Wissenschaftsverfassung, deren zentrales Element die Informationsfreiheit ist.403

Grassmuck erinnert im Folgenden daran, dass eine »Balance« zwischen den In-teressen der Öffentlichkeit und denen der Autoren und Rechteinhabern eines Im-materialguts gefunden werden muss. Der Artikel 27 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte drückt diese Balance aus: »(1) Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. (2) Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.«404

Wenn Wissen zum handelbaren Gut werden soll, braucht es einen Markt; und

»Markt braucht Mangel«, wie Grassmuck in Hinblick auf Software feststellt, dies gelte aber für alle digital vorliegenden Informationen:

Der vernetzte Computer ist eine ideale Umwelt für den Überfluss an Wissen. Als Software konstituiert Wissen diese Welt und ist zugleich die Form, die alle Wissensgüter annehmen. Um daraus eine Marktplattform zu machen, bedarf es einer Schließung.405

Aaron Swartz, Internet-Aktivist, beteiligt an der Spezifikation von RSS, der Orga-nisation von Creative Commons und dem Aufbau von Reddit, rief in einem Manifest zum Widerstand gegen diese Schließung auf:

Forcing academics to pay money to read the work of their colleagues?

Scanning entire libraries but only allowing the folks at Google to read them? Providing scientific articles to those at elite universities in the First World, but not to children in the Global South? It’s outrageous and unacceptable. [But] we can fight back.

403. G r a s s m u c k: Freie Software. Zwischen Privat- und Gemeineigentum (wie Anm. 396), S. 46-47.

404. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, UN-Resolution 217 A (III) vom 10. 12. 1948, in der Übersetzung vom UN Department for General Assembly and Conference Management Ger-man Translation Service, New York, online unterhttp://www.ohchr.org/EN/UDHR/Pages/Language.

aspx?LangID=ger.

405. G r a s s m u c k: Freie Software. Zwischen Privat- und Gemeineigentum (wie Anm. 396), S. 383.