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Übertragungs- und Produktionskosten in der Gutenberg-Galaxis 63

3.3 Die cybürgerliche Öffentlichkeit

3.3.1 Übertragungs- und Produktionskosten in der Gutenberg-Galaxis 63

sondern auch den Aufwand.143 Die Kosten der Übertragung von Gedanken steigen sehr hoch, wenn etwa Gesprächspartner nicht über die gleiche Sprache verfügen oder wenn sich Gedanken nur schwer fassen lassen. Die Kosten steigen weiter, wenn zur Fixierung und danach zur Rezeption technische Mittel eingesetzt werden.144

Nehmen wir als Beispiel für Übertragungskosten mal einen Text, dessen Genese zwar spannend, aber in diesem Kontext nicht wichtig ist. Die Bibel ist einer der meistkopierten Texte der Menschheitsgeschichte.145 Es gab und gibt Menschen, denen es wichtig war und ist, dass der Text der Bibel möglichst genau übertragen werden sollte. Zum einen sollte der Text von einem Träger zum anderen verlustfrei kopiert werden, was technische Sorgfalt und bestimmte Produktionsbedingungen voraussetzte. Wenn etwa der Text in Altgriechisch vorlag, sollte der Kopist des Griechischen mächtig sein – oder besser eben nicht, damit er nicht in Versuchung

142. »Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin«, so die Einheitsübersetzung von 1980 des ersten Brief des Paulus an die Korinther 13,12.http://www.bibleserver.com/text/EU/1.

Korinther13.

143. Der kastilische Techniker sagt auch »me cuesta«, wenn ihm etwas schwerfällt oder Überwindung kostet. Eine Berechnung etwa »kostet« den Computer Speicher oder Rechenoperationen.

144. Vgl. dazu die Medientypologie des Publizisten Harry Pross in primäre, sekundäre und tertiäre Medien, abhängig von den Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Die von Christian Weischer registrierteWebsitezu Ehren von Harry Pross ist zur Zeit noch im Aufbau (Stand 14. Mai 2017), darun-ter auch der Bereich »Lebensthema Medientheorie«: http://www.harrypross.de/lebensthemen/01-2/lebensthema-medientheorie/.

145. Manche nennen Teile davon Tora, andere ordnen die Geschichten in Suren der Länge nach an – im Folgenden ist nur wichtig, dass es ein populärer Text ist.

3.3. DIE CYBÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT

kommt, etwas zu interpretieren? Was ist mit der Fehlerkorrektur? Unabhängig davon ist der zeitliche Aufwand erheblich: Ein Kopist im Mittelalter schaffte es gerade einmal, drei bis fünf Manuskriptseiten zu vervielfältigen, bevor es in seinem Scriptorium wieder dunkel wurde.

Mit der Erfindung des Buchdrucks – und vor allem später mit der Erfindung des Drucks mit beweglichen Typen – wurde der Kopiervorgang erheblich beschleunigt. Der Zeitaufwand dieser »Schwarzen Kunst« bestand nun darin, universell verwendbare Typen herzustellen und die zu druckende Seite zu setzen.146Im Mittelalter kursierten Bibel-Exzerpte, die im simplen Holzdruckverfahren hergestellt und mit Bildern versehen waren, preiswert und auf günstigem Papier hergestellt und daher auch Armenbibeln (biblia pauperum) genannt. Das ist ein starker Hinweis auf die Kosten, die für ein Bibelmanuskript oder auch eine gedruckte Gutenberg-Bibel aufzubringen waren. Die Pergament-Ausgabe der 42-zeiligen Gutenberg-Bibel benötigte für die hochwertige Pergamentart Vellum sicher um die 100 Kälber (wenn man die knapp 1300 Seiten auf Pergament-Quadratmeter umrechnet), das konnten sich nur wohlhabende Menschen leisten.147Die Kosten für eine Druckerpresse und die dazugehörige Logistik des Vertriebs sind ebenfalls nicht zu unterschätzen.

Wenn wir mit Marshall McLuhan von der Gutenberg-Galaxis sprechen, betonen wir die Rolle des Buches als Leitmedium für die europäische Kultur. Es lässt sich schwer sagen, wie erfolgreich das Reformationsprojekt Martin Luthers ohne »sein«

Medium Buch verlaufen wäre. Auf der reinen Vertriebsebene betrachtet lässt sich jedoch zweifelsohne sagen, dass mechanische Vervielfältigung eines Werks höhere Auflagen ermöglicht, größere Reichweiten erzielt und insgesamt weit geringere Über-tragungskosten aufweist. Nehmen wir als Gegensatz dazu einmal den Humanistischen Brief eines Erasmus von Rotterdam (wir werden später in Kapitel 6.2 erneut darauf zurückkommen). Selbst, wenn wir davon ausgehen, dass Erasmus nicht alle Briefe selbst geschrieben hat, so wäre der Aufwand, eine gewisse Zahl an Lesern in ganz Europa erreichen zu wollen für den Autor geringer gewesen, wenn er die Dienste eines umtriebigen Verlegers wie Gutenberg in Anspruch genommen hätte.

Das Buch war das erste Massenmedium der Geschichte, ihm sollten Zeitung, Rundfunk und Fernsehen folgen. Mit dem Aufkommen der so genannten »Neuen Medien« spricht viel dafür, dass die Ära der Massenmedien als Leitmedien einer ganzen Kultur vorbei ist. Interessanterweise scheint sich die Idee des Buches als Distributionsmedium länger zu halten als die des Fernsehens mit seinen obsoleten Konzepten wie Sendeplatz und seinen obskuren Messmethoden wie Quote. Vergessen wird bei einer Betrachtung allein der Distributionsfunktion, dass noch vor einigen Jahrzehnten das (öffentlich-rechtliche) Fernsehen auch ein großer Produzent von Inhalten war, nicht nur Distributor oder Infrastrukturbetreiber.

146. Zur »Schwarzen Kunst« höre WolfgangC oy: Schwarze Kunst. Vorlesung Nr. 5 vom 4. 11. 2010 der Reihe Informatik und Informationsgesellschaft I: Digitale Medien. 2010-2011, u r l: http : / / waste . informatik . hu - berlin . de / Lehre / ws1011 / VL _ DigitaleMedien / Vorlesungen / 05 _ Schwarze_Kunst.mp3.

147. Die Zahlen variieren von Quelle zu Quelle, was natürlich auch an den unterschiedlichen Größen eines Kalbes liegt. Wenn wir zeitgenössischen Abbildungen hinsichtlich geometrischer Darstellungen trauen können, konnte man im günstigsten Fall neun Bogen pro Tierhaut herstellen. Also stecken in einer Folio-Format-Bibel (30x40 Zentimeter, zwei Seiten pro Bogen) mindestens 72 Jungtiere.

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

Zur Produktion von Inhalten gehört neben der kreativen Arbeit auch und gerade die Finanzierung. Die Art und Weise der Finanzierung von Inhalten hat sich im Laufe der Jahrhunderte mehrfach geändert, auch aktuell beobachten wir neue Formen wie crowd funding, die Produktion der Inhalte übernimmt also in gewisser Weise das Publikum selbst. An die Stelle der gesellschaftlichen Wichtigkeit (wenn wir den Selbstanspruch der BBC nehmen) tritt die Beliebtheit als Leitdifferenz, die über Existenz oder Nichtexistenz von Inhalten entscheidet. Für Daniel Bell ist dies eine logische Folge der post-industriellen Gesellschaft. Er schreibt:

The post-industrial society, in its initial logic, is a meritocracy. Differential status and differential income are based on technical skills and higher education. Without those achievements one cannot fulfill the requirements of the new social division of labor which is a feature of that society. And there are few high places open without those skills.148

Und auch wenn die Kosten der Produktion und Distribution, wie in diesem Unter-kapitel beschrieben, in monetärer Hinsicht geringer geworden sind, bleiben bestimmte undemokratische Elemente auch in der medientechnisierten Gesellschaft bestehen, zu den armen und unmündigen Bürgern gesellen sich die nicht-funktionierenden, nicht-erfassbarensans e-papiers, auch die Eliten bekommen entsprechend Zuwachs:

A post-industrial society reshapes the class structure of society by creating new technical elites. The populist reaction, which has begun in the 1970s, raises the demand for greater »equality« as a defense against being excluded from that society. Thus the issue of meritocracy versus equality.149

Martin Luther richtete sich in Vulgärsprache an seine Hörer, die Massenmedien des 20. Jahrhunderts wollten ebenfalls einem Massengeschmack gefallen – die Anfänge der Digitalmedien liegen hingegen abseits vommainstream in der von Steven Levy so prominent porträtierten hacker culture. Die Hacker der ersten Stunde sahen den Wert von Informationen für den Einzelnen und die ganze Gesellschaft, gerade in Hinsicht auf eine Weltgemeinschaft.

Stewart Brand, dem die Ehre zugeschrieben wird, das Wort »personal computer«

erfunden zu haben, startete im Jahr 1966 eine politische Kampagne, die die NASA dazu bringen sollte, die Satellitenphotos von der Erde zu veröffentlichen, das erste Bild

»of the Whole Earth«. Er dachte, dass dieses Bild ein Gemeinschaftsgefühl, Respekt für Mitmensch und Umwelt hervorbringen würde. Die Idee der freien Information floss sowohl in die so genannte Hacker-Ethik (»information wants to be free«), als auch in den Titel des von Brand herausgegebenen Magazins ein: »Whole Earth Catalog«, einDo-It-Yourself-Magazin der Gegenöffentlichkeit.

Es gibt keine deutsche Übersetzung von »empowerment«, die nicht irgendwelche negativen Konnotationen besitzt, daher würde ich gern »Hoheitserringung« verwenden für den Vorgang, die Geschicke einer technischen Umwelt selbst in die Hand zu nehmen.

Der digitale Patient (usee) wird zum aktiven Kybernetes.

148. Daniel B e l l: The Coming Of Post-Industrial Society, New York: Basic Books, 1973, S. 409.

149. Ebd., S. 410.

3.3. DIE CYBÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT

3.3.2 Vom Sendungsempfänger zum Teilnehmer

Ein Empfänger nimmt aktiv etwas Entgegenkommendes auf. Das können unerwartete, aber zum Glück noch rechtzeitig am Horizont erspähte Gäste sein, die herzlich empfangen werden; das kann auch ein Brief sein, den ein Sender seinem Metzger auf seiner Reise zum Markt mitgegeben hat; das kann aber auch ein technisches Gerät sein, das entgegenkommende elektromagnetische Signale aufnimmt und für einen Menschen in eine Botschaft umwandelt.

Die aktive Funktion des Empfängers scheint inzwischen eine immer geringere Rolle zu spielen. Bereits im Althochdeutschen ist die »Empfängnis« – gänzlich konträr zur Beobachtung – etwas Passives. Auch das Empfangen des heiligen Sakraments Taufe scheint doch eher passiv abzulaufen. Mehr noch, ein Sakrament gilt dann als empfangen, wenn der Empfänger dem nicht entgegenwirkt.150

Spätestens mit dem Aufkommen des Fernsehgerätes scheint sich ein neuer Modus des Botschaftsempfangs etabliert zu haben: Das Sich-Berieseln-Lassen von audiovisuellen Informationsfetzen scheint die kühnsten Befürchtungen von Medientheoretikern wie McLuhan zu bestätigen. Gespräche werden während der Fernsehsendung nicht geführt;

wer einmal am Sonntagabend in eine Kneipe stolperte, in der gemeinsam der »Tatort«

angesehen wird, kann die angespannte Stille beschreiben, die von den vom Programm gefesselten Zuschauern ausgeht. Es ist schwer, einen solchen Ort des »public viewing«

als Ort der politischen Diskussion zu sehen. Das liegt vielleicht aber auch daran, dass dem Autor kein »Öff-Guck« von Bundestagsdebatten oder dergleichen bekannt ist.

Wie soll unter diesen Umständen eine politische Partizipation erfolgen, also die Einflussnahme Einzelner oder von Gruppen auf politische Entscheidungen, wenn die größte Einflussnahme das Ausschalten des Empfangsgeräts bedeutet? Bei genauer Betrachtung ist dies jedoch keine Eigenart des Mediums Fernsehen, sondern eher der Kulturtechnik Fernsehen. Doch genau diese wandelt sich gerade, im oben be-schriebenen Beispiel der Krimi-Serie »Tatort« wird während der Sendung tatsächlich debattiert – allerdings auf einem zweiten Kanal, auf Twitter. Auch Bundestags-debatten werden live auf Twitter und anderen Medien des so genannten Web 2.0 kommentiert.

Aus der politischen Einzelmeinung wird durch die Zusammenführung im allgemein zugänglichen Medium Internet eine öffentliche, diskutiert und kommentiert von Mitgliedern der Zivilgesellschaft. Eine Meinung, die in einem Prozess des öffentlichen Vernunftgebrauchs geformt wird, wird durch eben diesen Prozess zu einer öffentlichen.

Die dafür genutzten Dienste und Podien im Internet werden zwar von privaten Personen oder privatwirtschaftlich handelnden Unternehmen betrieben, aber das wurden die Salons der Leseöffentlichkeit der vergangenen Jahrhunderte auch. Nicht die Privatisierung der virtuellen Diskussionsräume gibt Anlass zur Sorge, es sind die mit den Digitalen Medien verbundenen technischen Zwänge. So mag vielleicht ein Betreiber eines Kaufhauses explizit politische Demonstrationen verbieten – vor Ungehorsam schützt die Hausordnung nicht. Anders jedoch im Technischen: Ein

150. Siehe dazu das Schlagwortex opere operato.

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KAPITEL 3. UTOPIE ÖFFENTLICHKEIT

gegen diedigital community guidelines verstoßender Kommentar wird gar nicht erst veröffentlicht, der Kommentator hat darauf keinen Einfluss.151

Die Teilhabe an der Zivilgesellschaft ist für den Cybürger nur noch mit techni-scher Hilfe möglich, sei es, um am sozialen (Telefon) oder am privatwirtschaftlichen (Banksysteme) Leben teilzunehmen. Im Digitalen ist eine Konvergenz der Techniken zu beobachten, so dass dem Internet, also dem Zusammenschluss von verschiedenen Computersystemen, eine besondere Rolle zukommt, was sogar die Rechtsprechung bereits feststellt:

Die Nutzbarkeit des Internets ist ein Wirtschaftsgut, dessen ständige Verfügbarkeit seit längerer [. . . ] Zeit auch im privaten Bereich für die ei-genwirtschaftliche Lebenshaltung typischerweise von zentraler Bedeutung ist und bei dem sich eine Funktionsstörung als solche auf die materiale Grundlage der Lebenshaltung signifikant auswirkt. [. . . ] Zudem wird es zunehmend zur Anbahnung und zum Abschluss von Verträgen, zur Abwicklung von Rechtsgeschäften und zur Erfüllung öffentlich-rechtlicher Pflichten genutzt (von der unübersehbaren Vielfalt z. B. nur: Fernab-satzkäufe, Hotel-, Bahn- und Flugbuchungen, Erteilung von Überwei-sungsaufträgen, Abgabe von Steuererklärungen, An- und Abmeldung der Strom-, Gas- und Wasserversorgung sowie der Müllabfuhr, Verifikation von Bescheinigungen).152

Für die Teilhabe am politischen Leben, etwa das Mitwirken auf die öffentliche Meinung oder die Beteiligung an Wahlen mag der Zeitpunkt kommen, an dem sie selbst in der Theorie nur mit Hilfe von Technikeinsatz möglich sein wird, denken wir nur an technisierte hoheitliche Dokumente, Wahlcomputer oder biometrische Zugangskontrollen.Praktischist es längst so weit, dass sich der mündige Bürger nur mit Hilfe des Internets (also einem riesigen Verbund von Computersystemen) umfassend informieren und etwa mit Hilfe elektronischer Petitionen oder Onlinekampagnen auch in angemessener Weise in die Politik einbringen kann.

Mit Hans Magnus Enzensberger müssen wir eigentlich die Politisierung des Internets fordern, er schrieb zwanzig Jahre vor dem w w w über die elektronischen Medien:

Die neuen Medien sind ihrer Struktur nach egalitär. Durch einen einfachen Schaltvorgang kann jeder an ihnen teilnehmen; die Programme selbst sind immateriell und beliebig reproduzierbar. Damit stehen die elektronischen im Gegensatz zu älteren Medien wie dem Buch oder der Tafelmalerei, deren exklusiver Klassencharakter offensichtlich ist.153

Es liege nicht in der technischen Beschaffenheit der elektronischen Medien, dass diese vorwiegend zum Konsum aufrufen, dies müsse »vielmehr durch ökonomische und administrative Vorkehrungen künstlich behauptet werden.«154 Dies belegt er mit der Beschreibung des unterschiedlichen Gebrauchs von Telefon einerseits, das

151. Wir werden in Kapitel 5.2.2 über Hacktivisten noch untersuchen, wie ein Akt des zivilen Ungehorsams in technischer Hinsicht aussehen könnte.

152. BGH-Urteil vom 24. Januar 2013, III ZR 98/12, Absatz 17, S. 11-12.

153. E n z e n s b e r g e r: Baukasten zu einer Theorie der Medien (1970) (wie Anm. 83), S. 107.

154. Ebd., S. 108.

3.3. DIE CYBÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT

für jeden Benutzer direkt zugänglich ist und Telegraf andererseits, das in der Hand bürokratischer Institutionen verbleibt, Überwachung und Archivierung inklusive.

Eine Aktualisierung der Debatte können wir zur Zeit unter dem Stichwort »Stö-rerhaftung« erleben, die private Bereitstellung eines Internetzugangs wird unter Androhung drakonischer Strafen im Falle von Urheberrechtsverletzungen (gemeint sind eigentlich Verstöße gegen das copyright) immer unbeliebter, wie wir am ewi-gen Kampf der wackeren Freifunk-community gegen große Rechtsabteilungen der

»copyright mafia« (Chaos Computer Club) sehen.